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Titel: Absage mit Ansage – Eröffnung von Stuttgart 21 verspätet sich schon wieder
Datum: 20. November 2025 um 13:12 Uhr
Rubrik: Audio-Podcast, Stuttgart 21, Verkehrspolitik
Verantwortlich: Redaktion
Die erste echte Amtshandlung der neuen DB-Chefin lässt hoffen. Der Starttermin für S21 wird auf unbestimmte Zeit verschoben. Ob das von Einsicht zeugt, ein Umdenken bedeutet oder doch nur die nächste Station einer endlosen Hängepartie markiert, muss sich zeigen. Projektgegner geben sich gebremst zuversichtlich, dass wenigstens Teile der oberirdischen Infrastruktur gerettet werden könnten. Die Alternative wäre der Verkehrskollaps. Von Ralf Wurzbacher.
Dieser Beitrag ist auch als Audio-Podcast verfügbar.
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Eines muss man der neuen Chefin lassen: Evelyn Palla hält nichts von Schönfärberei. Kaum im Amt, verkündete sie, „es wird erst mal nicht besser“. Läuft es schlecht, und davon ist bei der Deutschen Bahn (DB) auszugehen, könnten die Widrigkeiten zunächst sogar zunehmen. Sprich: noch mehr Zugausfälle, noch mehr Verspätungen, noch mehr Chaos. Ein Indikator dafür ist die Zahl der Baustellen. 2024 waren es 21.000, in diesem Jahr könnten es 26.000 sein, im kommenden „voraussichtlich über 28.000“. Das Schienennetz ist inzwischen so verschlissen, dass der Rückstau bei der Schadensbehebung immer länger wird. Es gehe vor allem darum, so die gebürtige Südtirolerin, „den Abwärtstrend zu stoppen“.
Weht durch den Berliner Bahn-Tower ein neuer Führungsstil? Von wegen Ehrlichkeitsoffensive statt Pünktlichkeitsoffensive. Die Realitäten zur Kenntnis nehmen, nicht länger verdrängen. Das wäre immerhin ein erstes Anzeichen von Emanzipation. Während ihre ausschließlich männlichen Vorgänger stets Hui versprachen und Pfui ernteten, dreht Palla den Spieß um. Zum Auftakt auf schlecht Wetter machen und schauen, was passiert. Und sobald sich irgendwann doch einmal ein Lichtlein zeigt, träumen alle gleich vom Sonnenaufgang.
Auf Aufrichtigkeit setzt die Neue jetzt auch bei Stuttgart 21. Wie am Mittwoch die Runde machte, wird sich die Fertigstellung des Projekts weiter verzögern und die Eröffnung auf unbestimmte Zeit verschoben. Offenbar hat Palla auch hier das Heft des Handelns ergriffen. Nach einem Spiegel-Bericht (hinter Bezahlschranke) informierte sie gestern den DB-Aufsichtsrat über das Unvermeidliche, das der geschasste Richard Lutz offenbar nicht wahrhaben wollte. Bereits im Sommer, noch vor ihre Berufung, hatten Analysen der DB Projekt Stuttgart–Ulm GmbH sowie des Beratungsunternehmens Price Waterhouse Coopers (PwC) gezeigt, dass der bisherige Zeitplan nicht einzuhalten ist. Nach einer neuerlichen Prüfung habe die 52-Jährige die Konsequenzen gezogen, schrieb das Magazin.
17 Jahre und kein Ende
Zuletzt wurde der Dezember 2026 als Termin gehandelt, zu dem man wenigstens Teile von S21 in Betrieb nehmen wollte. Der Fernverkehr und mit Einschränkungen der Regionalverkehr sollten ab dann über den neuen Tiefbahnhof abgewickelt werden, der oberirdische Kopfbahnhof parallel bis zu einer Komplettlösung weiter genutzt werden, bis spätestens Juli 2027. Alles wieder hinfällig und kein Ende der Misere in Sicht. Während bisher mit jeder Absage prompt eine neue Ansage gemacht wurde, wann es endlich losgehen werde, verkneift man sich nun jede Festlegung. Wie es heißt, traut man sich wohl frühestens Mitte kommenden Jahres eine Prognose zu. Das lässt immerhin hoffen, dass die neue Führung alles auf den Prüfstand stellt, samt der Option des Erhalts des Kopfbahnhofs und überirdischer Gleisanlagen.
„In einem ist die Bahn zuverlässig – sie verspätet sich garantiert, auch nächstes Jahr“, kommentierte Carl Waßmuth von „Bahn für alle“ die Neuigkeiten. „Es wird mindestens 17 Jahre gedauert haben, einen Bahnhof so umzubauen, dass er schlechter funktioniert und im Brandfall gefährlicher ist“, bemerkte der Bündnissprecher gegenüber den NachDenkSeiten. Die hatten wiederholt berichtet, dass S21 faktisch ein Kapazitätskiller ist, weil sich im unterirdischen Bahnhof deutlich weniger Züge abfertigen lassen als im bisherigen Kopfbahnhof. Schließlich soll dieser nicht weichen, um den Bahnbetrieb zu optimieren, sondern um Platz zu schaffen für die Bebauung profitabler Grundstücke.
Auf Hefekuchen gebaut
Dazu kommen erhebliche Sicherheitsrisiken, die sich aus der Enge unter Tage sowohl beim Bahnhof als auch in den etlichen Tunneln ergeben, die mit S21 zusammenhängen. Das im Stuttgarter Untergrund gehäuft vorkommende Mineral Anhydrit quillt bei Berührung mit Wasser auf wie ein Hefekuchen. Zum Schutz gegen hohen Außendruck, der die Fahrtrasse anheben oder die Wände zerbersten könnte, wurden die Röhren dicker als üblich gebaut, wodurch innen weniger Platz bleibt. Von Warnungen durch Experten, im Ernstfall drohten Hunderte bis Tausende Todesfälle, wollen der DB-Konzern und seine Projektpartner allerdings nichts hören. Arno Luik, einer der profiliertesten Kritiker der Bahn und Autor des Bestsellers „Schaden in der Oberleitung“ ahnt Schlimmes: „Man schafft durch die Verschwendung von zig Milliarden Euro Steuergeldern mit diesem Monstrum in der Tiefe absehbar eine Katastrophe“, sagte er heute im Gespräch mit den NDS.
Tatsächlich finden sich unter den von der Bahn aufgeführten Ursachen für die nicht enden wollende Hängepartie auch die Punkte „Brandschutzauflagen“ und der „geologisch anspruchsvolle Untergrund“. Verwiesen wird ferner auf aufwändige Genehmigungsverfahren durch geänderte Gesetze beim Artenschutz und im Speziellen die Herausforderungen der Digitalisierung. Im Zentrum steht hierbei der sogenannte Digitale Knoten Stuttgart, ein Pilotprojekt, mit dem man die Leit- und Sicherungstechnik im städtischen Großraum modernisieren will. Ganz aktuell ist von Problemen mit der Zulassung und Freigabe der Technik des japanischen Konzerns Hitachi die Rede.
Rettungsanker ETCS
Die Probleme dürften noch weiter reichen. Ziel ist die Umstellung auf das European Train Control System (ETCS), mit dem sich angeblich verlässlicher und in engerer Taktung verkehren lasse. ETCS ist jedoch in erster Linie eine Sicherheitstechnologie, keine, die per se den Betrieb schneller macht. Mit ihm werden Loks und Triebwägen automatisiert und es wird sanfter gebremst, was die Zugfrequenzen gerade in Bahnhöfen sogar verringern könnte, wie etwa der Physiker und Analyst Christoph Engelhardt im Juni 2024 im NDS-Interview zu bedenken gab. Von den S21-Verantwortlichen als Heilsbringer verkauft, ist die Technologie eher ein Rettungsanker in der Hoffnung, damit die drohenden Kapazitätseinbußen zu kompensieren.
Mit Blick auf die Tunnel ist ETCS eher sogar eine Notlösung. Die gängige Stellwerkstechnik ließ sich dort aus Platzmangel gar nicht einbauen. Das System ist überdies extrem teuer und nicht ausgereift. Seit über drei Jahren auf der neuen ICE-Strecke Wendlingen–Ulm im Einsatz, erwies es sich wiederholt als störanfällig. Ein im Juli 2024 bekannt gewordenes Geheimgutachten im Regierungsauftrag bezifferte die Gesamtausgaben für eine bundesweite Umrüstung mit 69 Milliarden Euro. Dabei werde es nicht vor 2043 flächendeckend einsatzfähig sein, und amortisieren sollen sich die Investitionen frühestens 2064.
Milliardengrab erster Stunde
Bei dieser Preisklasse drohen die S21-Kosten weiter aus dem Ruder zu laufen. Die erste Finanzierungsvereinbarung von 2009 bezifferte diese mit unter 3,1 Milliarden Euro und bei Baubeginn war die Inbetriebnahme für Ende 2019 avisiert. Die letzte Schätzung aus dem Jahr 2023 beläuft sich inklusive Risikopuffer auf 11,45 Milliarden Euro, wobei der Puffer schon ausgereizt sein soll. Vorsicht Falle: Die Kostenschübe, die das Projekt in 15 Jahren hingelegt hat, waren bloß vorgetäuscht und das vorläufige Maximum schon vor über einem Jahrzehnt eingepreist. Den Verantwortlichen war mindestens seit 2013 bewusst, welche finanziellen Dimensionen die Unternehmung annehmen wird. Entsprechende Hochrechnungen bewegten sich schon damals zwischen 10,7 und 11,3 Milliarden Euro.
„Wir haben jetzt viele Wetten darauf gewonnen, dass der Tiefbahnhof nicht Ende nächsten Jahres in Betrieb genommen und auch der Kopfbahnhof nicht ein halbes Jahr später abgerissen wird“, äußerte sich das „Aktionsbündnis gegen Stuttgart 21“ zum nächsten DB-Offenbarungseid. Die Bahn schiebe die Schuld einmal mehr auf andere und auf widrige Umstände, sagte Geschäftsführer Werner Sauerborn den NDS. „Die Gründe liegen in strukturellen Funktionsdefiziten des Tiefbahnhofs, die allen, die es wissen wollten, und dazu gehören viele Politiker leider schon lange nicht mehr, längst hätten bekannt sein können.“ Das ist auch auf Baden-Württembergs Verkehrsminister Winfried Hermann gemünzt. Der polterte in Richtung DB-Führung, Zusagen seien „offensichtlich windig oder falsch“ gewesen und: „Wir fühlen uns getäuscht“. Der Grünen-Politiker ist Mitglied im S21-Lenkungskreis. Dass ihm in dieser Position die ganzen Unwägbarkeiten des Projekts verborgen geblieben sein sollen, erscheint abwegig.
Rot für Immobilienmafia
„Die neuerliche Verschiebung des ohnehin mehr symbolischen als realen Eröffnungszeitpunkts belegt einmal mehr die Unfähigkeit, solche Großprojekte straff und konsistent zu planen“, findet Heiner Monheim, Sprecher von „Bürgerbahn – Denkfabrik für eine starke Schiene“. Selbst mit den vielen zusätzlichen Baumaßnahmen „wird ein für alle Bahnverkehrssegmente befriedigender Betrieb nicht möglich sein“, erklärte er gegenüber den NDS. Immer mehr „Notnägel“ würden erfunden, um das Projekt zu „retten“, und „es tut weh, zu sehen, wie im ganzen sonstigen Netz Sanierungs- und Reaktivierungsmaßnahmen unerledigt bleiben, weil man es nicht lassen kann, dieses unsinnige Großprojekt vor die Wand zu fahren“. Es brauche, so Monheim, „endlich eine Generalsanierung der ‚Bahnstrategien‘ anstelle der jetzt schon wieder aus dem Ruder laufenden Korridorsanierung“, bei der hochfrequentierte Streckenabschnitte über Monate total gesperrt werden.
Ob Palla dafür die richtige Frau zum richtigen Zeitpunkt ist? Sie habe die Chance, „die Notbremse zu ziehen“, meint Waßmuth von „Bahn für alle“. Mindestens ein Teil der oberirdischen Gleise könne erhalten bleiben. Sein Verband hat mit dem Konzept „Zukunftsbahn für alle“ aufgezeigt, was eine gemeinnützige Bahn im Interesse von Fahrgästen, Beschäftigten und Klima alles könnte. „Viele kleine Engpässe beseitigen, bringt mehr und kostet viel weniger als die zerstörerischen Großprojekte in Stuttgart, München, Hamburg und Frankfurt“, betonte Waßmuth. Auch beim „Aktionsbündnis gegen S21“ besteht noch Resthoffnung, „dass die auf dem Tisch liegenden klimaschonenden, den Bahnverkehr verbessernden und kostensparenden Optionen nicht weiter ignoriert werden“. Zumindest habe es den Anschein, als habe sich Palla das Projekt „genauer angeschaut und jetzt erst mal die Ampel auf Rot gestellt“.
„Darf nie an Netz“
Und dann? Die DB-Chefin müsse die Reißleine ziehen und den geplanten Abbau der oberen Gleisflächen sofort stoppen, fordert der verkehrspolitische Sprecher der Bundestagsfraktion der Partei Die Linke, Luigi Pantisano. Andernfalls sei ein „Verkehrskollaps am Verkehrsknoten Stuttgart sicher“, äußerte er in einer Stellungnahme. „Die eigentlichen Treiber dieses Projekts sind nicht die Bedürfnisse der Fahrgäste, sondern die Interessen der Immobilienmafia und einer Politik, die die Bahn noch immer als profitables Geschäft versteht.“ Pantisano wünscht sich eine Bahn, die „endlich gemeinwohlorientiert wirtschaftet“, wobei Pünktlichkeit, Verlässlichkeit und Bezahlbarkeit im Mittelpunkt stehen müssten. Hohe Managerboni und leere Versprechungen dürften nicht länger bestimmend sein.
Drastischer drückte es Luik aus. „Die S-21-Schlamasseltäter sollen endlich zugeben: Wir schaffen es nicht. Wir können es nicht. Egal wie viele Milliarden wir noch in diesem Loch versenken.“ Gebe es noch einen Hauch von Ratio, ginge es nach Recht und Gesetz und Verantwortung, „dann darf S21 nie ans Netz“.
Titelbild: Markus Mainka/shutterstock.com
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