Brandschutz unterirdisch: Die Tunnel von Stuttgart 21 sind gemeingefährlich

Brandschutz unterirdisch: Die Tunnel von Stuttgart 21 sind gemeingefährlich

Brandschutz unterirdisch: Die Tunnel von Stuttgart 21 sind gemeingefährlich

Ein Artikel von Ralf Wurzbacher

Offene Briefe, offene Fragen. Gegner des Bahnprojekts verlangen vom DB-Konzern und Eisenbahn-Bundesamt, Zweifel am S21-Brandschutzkonzept auszuräumen. Die Adressaten antworten einfach nicht. Das erhärtet nur den Verdacht: Man hat etwas zu verheimlichen – und viel zu verlieren. Der Verlust an Glaubwürdigkeit ist dabei wohl das nichtigste Problem. Von Ralf Wurzbacher.

Dieser Beitrag ist auch als Audio-Podcast verfügbar.

Skandalisieren tut manchmal not, mithin lässt sich damit Unheil abwenden. Stuttgart 21 ist ein Skandal, durch und durch. Von der Anbahnung über die Projektierung, die politische Durchsetzung, die Finanzierung bis hin zur baulichen Realisierung: ein riesengroßer Eklat, der indes vom Mainstream zu einer lästigen Betriebsstörung verniedlicht wird. „Nun ja, läuft nicht alles bestens, aber haut schon irgendwie hin.“ Dabei wird in der hiesigen Medienlandschaft ein Aspekt des zig Milliarden Euro verschlingenden Chaosprojekts praktisch gar nicht verhandelt: Sobald einmal in Betrieb, droht es für Hunderte, mithin Tausende Menschen zur Todesfalle zu werden.

„S21 hat das Potenzial, Europas größtes Krematorium zu werden“, hatte schon vor sechs Jahren Hans-Joachim Keim nach Durchsicht des 33-seitigen Brandschutzkonzepts gewarnt. Der Ingenieur war Gutachter des Gletscherbahnunglücks im österreichischen Kaprun, bei dem im Jahr 2000 infolge eines Feuers 155 Menschen durch Rauchvergiftung starben. Aus Sorge, bei Stuttgart 21 könnte sich Ähnliches oder Schlimmeres ereignen, beklagte der Experte ein „Staatsverbrechen“ und weiter: „Es ist Wahnsinn, was die da machen.“

Schluss mit Naturgesetzen

„Die da“ sind die Deutsche Bahn (DB) und ihre Projektpartner, also Baden-Württemberg, die Stadt, die Region und der Flughafen Stuttgart. Die Kritik an ihrem Treiben ist in den Jahren nicht verstummt, sie wurde sogar immer lauter, weil sich mit den Baufortschritten immer mehr technische Unwuchten und Gefahrenquellen abzeichneten. Und dann gibt es da noch diese Planänderung: Lange Zeit hatte die Bahn mit Zügen einer maximalen Auslastung von 1.757 Passagieren kalkuliert, neuerdings jedoch perspektivisch mit solchen, die bis zu 3.681 Menschen fassen und durch die diversen zum künftigen Stuttgarter Tiefbahnhof führenden Tunnel rollen sollen. Aber trotz verdoppelter Fahrgastzahl ist das Brandschutzkonzept immer noch das alte.

Das muss man nicht verstehen, und die Macher geben sich auch gar nicht die Mühe, es zu erklären. Stattdessen ließ unlängst ein DB-Sprecher verlauten, das S21-Sicherheitspaket sei „von der Art der eingesetzten Züge unabhängig“, was so viel bedeutet wie: Ob nun zehn Fahrgäste oder 3.000 unterwegs sind, die Chance jedes Einzelnen, sich im Unglücksfall in Sicherheit zu bringen, ist in beiden Fällen gleich groß. Realitätsverweigerung ist eine der stärksten Konstanten bei S21. Jetzt kommen sogar die Naturgesetze unter die Räder.

Mauern und Aussitzen

Gutachter Keim hatte den Verantwortlichen seinerzeit vorgehalten, „kein Gefühl für Paniksituationen“ zu haben, „sie können sich nicht vorstellen, wie man unter Stress und Angst reagiert“. Die Fluchtwege bei S21 sind stellenweise 90 Zentimeter breit, üblich sind zwei Meter und mehr. Sie liegen auch nicht auf der Höhe des Ausstiegs, sondern einen Meter tiefer, und die Rettungsstollen zur benachbarten Tunnelröhre befinden sich im Abstand von 500 Metern. Wie sollten Menschen unter diesen Bedingungen „mit einem Rollstuhl durchkommen“, fragte sich Keim, „es wird dort Staus geben“. Spätestens bei den viel zu eng konzipierten Fluchttreppen würden sich die Flüchtenden „gegenseitig zerdrücken – wie bei der Love-Parade“. Und Keim äußerte diese Bedenken schon, als die Bahn noch mit der Hälfte an Insassen rechnete.

Christoph Engelhardt, Physiker und Gründer des Faktencheckportals WikiReal.org, hat vor einem Monat gemeinsam mit seinen Mitstreitern vom Aktionsbündnis gegen S21 und den Ingenieuren22 in einem Offenen Brief an die S21-Projektgesellschaft Stuttgart–Ulm GmbH (PSU) um Stellungnahme zu einer Reihe von Schlüsselfragen gebeten. Allen voran solle deren Chef Olaf Drescher bitte einen Experten benennen, der das behauptete „Universalbrandschutzkonzept“ bestätige, und „lassen Sie ihn oder sie für diese Einschätzung eine nachvollziehbare Begründung abgeben“. Bis heute wartet er vergebens auf Antwort. „Ein nie dagewesenes komplettes Abtauchen der PSU“ habe er erleben müssen, sagte er am Donnerstag den NachDenkSeiten, die selbst wiederholt bei der Bahn nachgehakt haben. Einmal hieß es, zur „Korrespondenz mit Dritten“ äußere man sich nicht, am Mittwoch dann, man habe dem „nichts hinzuzufügen“. In Wahrheit äußert man sich gar nicht beim Staatskonzern, man mauert, sitzt aus und hofft, dass die Sache keine Kreise zieht.

Simulation vorgetäuscht

Aber die Projektgegner lassen nicht locker und haben sich in einem nächsten Schritt an das Eisenbahn-Bundesamt (EBA) gewandt. Das ist die „letzte Instanz“ in puncto Brandschutz und Wächterin über die sogenannte Tunnelrichtlinie, der gemäß bei einer Feuerkatastrophe die „Selbstrettung“ der Zuginsassen und des Zugpersonals gewährleistet sein muss. Allerdings ist diese Vorgabe nie wirklich erfüllt worden.

Ja, es gab einmal diese ominöse Simulation eines Schweizer Planungsbüros. Über deren Herausgabe wurde juristisch jahrelang gestritten, obwohl diese schon vor acht Jahren gelöscht worden sein soll, wie das Verwaltungsgericht Stuttgart unlängst zugunsten der Bahn urteilte. Dabei hieß es noch vor zehn Jahren, das Material liefere den „Beweis“, dass sich die Passagiere eines voll besetzten Doppelstockzuges bei einem Brandfall im Fildertunnel – dem mit neun Kilometern längsten Zulauf zum künftigen Hauptbahnhof – innerhalb von elf Minuten in Sicherheit bringen könnten. Auf Grundlage des Computermodells hatte der Arbeitskreis Brandschutz, dem die Bahn, das Regierungspräsidium Stuttgart und die Stuttgarter Feuerwehr angehören, grünes Licht zum Brandschutzkonzept gegeben.

Kalter Kaffee …

Später stellte sich heraus: Der digitale Testlauf hatte kein „Heißereignis“, sondern ein „Kaltereignis“ durchgespielt. Was fehlte, war ein Feuer und noch viel mehr. Rauch- und Hitzeentwicklung? Mobilitätseingeschränkte Personen? Panikverhalten der Flüchtenden? Nichts davon war Gegenstand der Untersuchung, wie auch ein Anwalt der Bahn vor Gericht einräumte. Außerdem operierte sie einzig mit „Best-Case-Szenarien“, also nur mit den günstigsten Unglücksumständen, etwa dem, dass ein Zug exakt mittig zwischen zwei Notausgangsquerschlägen zum Stehen kommt. Maßgebend ist nach den EBA-Bestimmungen aber ein „Worst-Credible-Scenario“, also die Unterstellung der denkbar größten Widrigkeiten – sprich ein Feuerinferno bei voll besetztem Zug und maximaler Entfernung zum Rettungsstollen.

„Mit den Grundrechenarten sowie den etablierten und von der Bahn selbst verwendeten Erfahrungswerten der Vereinigung zur Förderung des Deutschen Brandschutzes lässt sich einfach nachrechnen, dass in den S21-Tunneln das Selbstrettungsziel von 15 Minuten um Faktoren verfehlt wird“, befand Engelhardt. Die Gründe listet er in seinem neuesten Offenen Brief an EBA-Präsident Stefan Dernbach auf. Gegenüber vergleichbaren Tunneln sei die Rettungswegbreite in den S21-Tunneln halbiert, die Kapazität der Züge viermal so groß und die Verrauchung etwa doppelt so schnell wie von der Bahn angenommen. Das Risiko, zu Tode zu kommen, wäre damit um den Faktor 16 größer als üblich. Kein Zugtyp habe eine Chance auf rechtzeitige Evakuierung, „nicht einmal ein Schienenbus“.

… und ein Hefekuchen

Aber warum ist das Tunnelinnere eigentlich so beengt? Schuld ist das Mineral Anhydrit im Stuttgarter Untergrund, das bei Berührung mit Wasser aufquillt „wie ein Hefekuchen“. Zum Schutz gegen hohen Außendruck, der die Fahrtrasse anheben oder die Wände zerbersten könnte, wurden die Röhren dicker als üblich gebaut, wodurch innen weniger Platz bleibt. Hätte man normal dimensioniert und dafür noch viel mehr Gestein aus der Erde gebaggert, wären die Kosten ins Astronomische gestiegen – was sie auch so schon tun. Und weshalb hat das EBA alle Baufreigaben für den Tiefbahnhof samt Zulauftunneln im Rahmen der Planfeststellung erteilt? „Ursache für dieses Desaster ist die größte Wahrnehmungsverweigerung aller Zeiten“, äußerte Engelhardt. „Über Jahrzehnte wurde bei dem Projekt der politische Wille über die Fakten gestellt, Gesichtswahrung wurde jeder Evidenz vorgezogen, das rächt sich nun.“

Offenbar haben sich auch die Aufseher und Kontrolleure die Wahrnehmung vernebeln lassen. So zieht sich das Bundesamt auf die Position zurück, wonach „Zeit- und Leistungsvorgaben für die Evakuierung eines Zuges oder für das Erreichen des sicheren Bereiches (…) in den Richtlinien zu Eisenbahntunneln nicht enthalten [sind]“. Dennoch steht darin etwas von „Selbstrettung“, deren Gelingen vor allem eine Frage der Zeit ist. Und in den S21-Tunneln mit ihrer Enge und mitunter starken Neigung, wodurch der sogenannte Kamineffekt verstärkt und damit eine rasche Verrauchung noch begünstigt wird, bliebe im Unglücksfall eben extrem wenig davon, viel weniger als in praktisch sämtlichen vergleichbaren Tunneln Europas.

Baustopp sofort!

Angesichts dieser Ausgangslage müsse der EBA-Chef einen „sofortigen Baustopp“ für S21 verfügen, fordern die DB-Kritiker. Bei geltenden Standards sei eine Inbetriebnahme nicht zu verantworten, ebenso wenig sei zu rechtfertigen, dass weitere Milliardensummen an Steuergeld „absehbar in eine Bauruine investiert werden“, heißt es in besagtem Schreiben. Werde der Aufforderung nicht unmittelbar Folge geleistet, müsse man darauf bestehen, innerhalb von zwei Wochen wenigstens Antworten zum bisher von der PSU ignorierten Fragenkatalog zu erhalten.

Auf eine Anfrage der NachDenkSeiten reagierte die EBA bis Verstreichen der eingeräumten Frist nicht. Nach den Regularien der Bundesbehörde sind „das ganzheitliche Brandschutzkonzept der Vorhabenträgerin sowie die Flucht- und Rettungskonzepte für die einzelnen Bauwerke (…) kontinuierlich“ fortzuschreiben und „müssen zur Inbetriebnahme in geprüfter Form vorgelegt werden“. Demnach könnte vor Inbetriebnahme durchaus noch eingegriffen werden. Das allerdings liefe wohl darauf hinaus, das ganze Projekt zu begraben, weil es – anders als etwa der Hauptstadtflughafen BER – brandschutztechnisch als irreparabel gilt.

„Wir müssen uns der unangenehmen Wahrheit stellen, dass wir vor der größten Fehlplanung der Geschichte stehen“, konstatierte Engelhardt. „Wir stehen damit auch vor dem größten Gesichtsverlust unseres Landes. Aber wegen der unabweislichen Brandschutzmängel wird mit jedem Tag des Weiterbaus dieser Gesichtsverlust nur noch größer.“ Werden die Macher also die Notbremse ziehen? Wohl kaum. Bisher hat das EBA noch stets so getan, als laufe bei S21 alles regelgemäß. Prognose: Dabei bleibt es. Und der Skandal? Der wird noch monströser, hoffentlich nicht tödlich …

Titelbild: IG Digital Arts/shutterstock.com

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