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Titel: Zwischen Debatten-Allergie und Argumentations-Phobie – Ohne ergebnisoffene Diskurse wird das öffentliche Gespräch auch im neuen Jahr verkümmern und den Dauer-Krisen-Modus noch verschärfen

Datum: 27. Januar 2016 um 10:05 Uhr
Rubrik: Erosion der Demokratie, Innen- und Gesellschaftspolitik, Medienkonzentration, Vermachtung der Medien, Parteien und Verbände, Strategien der Meinungsmache
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Thomas Leif

„Debatte ist gut, Verrohung der Debatte nicht“ – mit dieser Formel versuchte Bundesinnenminister Thomas de Maiziere Mitte Januar im ZDF-Interview die teilweise hysterische Debatte rund um die `Flüchtlingskrise` wieder einzuhegen. Indirekt räumte er ein, dass der Alarmismus nach den Kölner Sylvester-Ereignissen* derzeit nicht mehr beherrschbar sei. „Es darf keine Schweigespirale geben. Alle Fakten müssen auf den Tisch – nur dann wird die Debatte auch beherrschbar bleiben,“ mahnte der Innenminister. Offenbar sah sich der entmachtete Fluchtminister im aufgehetzten Klima gezwungen, eine „beherrschbare Debatte“ herbei zu wünschen. Nur: nicht einmal die beiden Grundbedingungen seiner Botschaft überzeugen. Weder gibt es derzeit in Deutschland eine Schweigespirale, schon eher eine weitgehend faktenbefreite Angstdiarrhö. Noch kann nur ansatzweise die Rede davon sein, dass die politische und mediale Klasse bereit wäre, der Parole „Alle Fakten müssen auf den Tisch“, zu folgen. Von Thomas Leif[*].

Wochen nach den Gewalt-Exzessen in Köln (und in einem Dutzend anderen Großstädten) gibt es immer noch kein annähernd klares Lagebild. Kernfragen, warum die Polizei offenbar in einer Feiertags-Beobachter-Position verharrte und von einer denkbaren Gegenwehr der anwesenden Zivilgesellschaft bislang nichts zu vernehmen war, werden nicht einmal aufgerufen. Die neue Erkenntnis des BKA, dass die Vorgänge von Köln kein regionales Phänomen waren, müsste zumindest Fragen aufwerfen. Stattdessen überbieten sich Politiker auf dünner Faktenbasis und derzeit kaum belastbaren Beweisen mit haltlosen Vorschlägen zur Verschärfung des Asylrechts, beschleunigten Ausweisungen und allerhand obskuren Ferndiagnosen. Offenbar wollen die Fachpolitiker mit Symbolpolitik von leichter Hand die diffuse Lage wieder „beherrschbar“ machen. Mit diesem Set an haltlosen und praxisfernen Schnellschüssen setzen sie auf das Prinzip der Eindruckserweckung („Wir handeln entschlossen.“) und betreiben gleichzeitig die Verrohung der Debatte, die sie -wie im Fall des Innenministers- eigentlich eindämmen wollen. Überrissene Forderungen ersetzen nüchterne Analysen und münden in die Parole „Einfach mal die Klappe halten.“ Einen härteren Beleg dafür, dass dringende Diskussionen unerwünscht sind, könnte man nicht einmal erfinden.

De Maiziere und die halbe Ministerriege haben mit ihren Einwürfen nach Köln nur das Muster geliefert, wie ernsthafte, zielführende Diskurse –auf der Basis gesicherter Fakten- frühzeitig erstickt und verhindert werden sollen. Ein übertünchen soll und das die Steuerung politischer Prozesse noch unbeherrschbarer macht.

Diffuser Konsens, Eindruckserweckung und Diskursverhinderung

In einer unveröffentlichten Studie der Forschungsgruppe Wahlen zum Thema „Mehrheitsoptionen für linke Politik“ präsentierte die Demoskopin Ende Oktober 2015 heikle Ergebnisse. Mehr als dreiviertel der Befragten (77%) sehen zwischen CDU und SPD „geringe oder keine“ inhaltlichen Unterschiede.“ Nur 16% der Befragten sehen „(sehr) starke“ Unterschiede. Das Besondere: der Befund der wahrgenommenen Verschmelzung der beiden Volksparteien erstreckt sich auffallend gleichmäßig quer über alle Altersgruppen, weitgehend unabhängig von Bildungsstand und Parteipräferenz. Bereits vor sechs Jahren bahnte sich diese kontrastarme Programm-Melange an. 72 % erkannten im Juli 2009 „geringe oder keine“ Unterschiede zwischen Sozial- und Christdemokraten. (21% „(sehr) starke“ Unterschiede.) Wo der Positions- und Meinungsstreit im diffusen Konsens versiegt, wo der Diskurs eingeschläfert wird und Programm-Alternativen verdunsten, stehen demokratische Grundprinzipien zur Dispositionen. Was sind die Motive der politischen und medialen Klasse auf Eindruckserweckung und die Simulation von Streit zu setzen und echte Diskurse zu vermeiden?

Die Chorgesänge der „vitalen, argumentierenden Zivilgesellschaft“ mit dem Dauer-Refrain der „Kraft der Argumente“ bilden den Klangteppich für eine sedierte Gesellschaft, die unter Debatten-Allergie leidet. Carsten Linnemann und Jens Spahn gelten in der CDU als Hoffnungsträger, als Politiker der jüngeren Abgeordneten-Generation, die sich jenseits der entkernten Union noch eine „zukunftsgerichtete“ Politik vorstellen können. Die (interne) Beschäftigung mit Alternativen zur vor gut einem Jahr beschlossenen Rentenpolitik macht die leisen Opponenten in der gesamten Union bereits zu Ausnahme-Erscheinungen. Bereits Mitte 2014 hatten der Vorsitzende der Mittelstandsvereinigung (MIT) und der zu dieser Zeit ambitionierte Gesundheitspolitiker wachsweiche Thesen als Gegenentwurf zur Politik der Großen Koalition veröffentlicht. Mit der vorsichtigen Präsentation einiger Argumente für eine ausbalancierte Politik der Generationen-Gerechtigkeit war jedoch ihre Konfliktbereitschaft zur scheinbar allmächtigen Kanzlerin bereits ausgereizt.

Nicht nur die beiden Nachwuchspolitiker empfinden Merkels kalkulierte Klientelpolitik für die älteren Wähler als eine Art Hypothek, die sie als politische Erben später teuer bezahlen müssen. Aber: Sie wollen nur „kontrolliert anecken, ohne sich in einer rituellen Fundamentalopposition zu vernörgeln.“ (Die Zeit, 18.6.2014) Diese politische Signatur einer ganzen Generation muss man noch einmal in seine Bestandteile zerlegen, um die Wirkung ihrer negativen Utopie in der ganzen Tragweite zu verstehen. „Kontrolliert anecken“ ohne sich rituell zu „vernörgeln“: Das klingt nach freiwilliger Kapitulation aus Angst vor der persönlichen Entsorgung. Ähnlich denken die Leisetreter des konservativen „Berliner Kreises“ in der CDU, aber auch die versprengt-verfeindeten Mitglieder sozialdemokratischer Sub-Gruppen oder selbst führende Flügelfiguren der Grünen. Positionsstreit, argumentativ unterlegt, programmatisch fundiert und als Diskurs-Prozess angelegt, gilt unter ambitionierten Politikern aller Schattierungen als nutzloses Unterfangen oder gar als kalkulierte Karriere-Vernichtung. In Fall Jens Spahn ist das Gegenteil eingetreten. Seine kalkulierten öffentlichen Interventionen und eine Kampfkandidatur haben ihn ins CDU-Präsidium gehievt und als Staatssekretär etabliert. Ein von ihm herausgegebener schmaler Sammelband zur Flüchtlingspolitik fand eine ungewöhnlich starke Resonanz. Dosierte Diskurspolitik ist in diesem Fall also –jenseits des Edeka-Prinzips (Ende der Karriere)- sogar mit einer Machtprämie verbunden. Fast niemand kannte Johanna Ueckermann, bevor sie es auf dem Dezember-Parteitag der SPD wagte, die Widersprüche des SPD-Vorsitzenden mit Zensuren zu belegen. Jürgen Trittin, der Helmut Schmidt der Grünen, wirkt heute mit seinen Diskursbeiträgen wieder interessanter als die vierköpfige grüne Fraktions- und Parteispitze zusammen.

Der Mehrwert von Diskussionsimpulsen, argumentativ unterlegten Programmpapieren und Interventionen gegen den bräsigen Mainstream scheint aber immer noch das Werk weniger Ausnahmefiguren zu sein. Linnemann und Spahn gehören schon zu den „mutigsten“ Nachwuchskräften der CDU-Bundestagsfraktion. Von den 25 MdB-Aufsteigern – 21 davon sind neu im Parlament – ist sonst niemand mit Gegenentwürfen oder gar Alternativkonzepten in den zentralen Politikfeldern aufgefallen. Und dies, obwohl nicht nur Linnemann eine große Sehnsucht nach „Debatte und nach Zukunft“ in der Merkel-CDU verspürt. Auf jedem Kreisparteitag der CDU sind ähnliche Sehnsuchts-Vokabeln, wie von Spahn und Linnemann, en vogue. Sie verpuffen aber meist im Nichts oder begnügen sich mit ein paar Korrekturen im Kleingedruckten.

Auch von der jüngeren Generation aus anderen Parteien sind ebenfalls kaum Aufbruchsignale oder Gegenentwürfe zur „Rentenpolitik für die ältere Generation“ oder anderen wesentlichen Zukunftsfragen zu vernehmen. Die jüngsten, ernstzunehmenden Proteste richteten sich gegen Studiengebühren, nicht etwa gegen die „Bildung Bolognese“, die nach zwei Jahrzehnten die Universitäten zu einem bürokratischen „Punkte-Sammlungs-System“ degradiert hat. Die zunehmende Vergreisung des Parlamentsbetriebs mag diesen Trend noch forcieren. Der Anteil der Parlamentarier unter 40 Jahren ist noch einmal geschrumpft – auf heute 17,91 Prozent. In der Periode zuvor waren es knapp 21 Prozent. In den Länderparlamenten ist die repräsentative Schieflage noch markanter. Wenn man die erfahrenen Parlamentarier nach jungen Talenten fragt, folgt quälendes Schweigen. Überall. All diese Trends folgen einer unaufhaltsamen demographischen Logik: Bei der Bundestagswahl 2017 wird die Generation 55 plus die Mehrzahl der Wähler stellen. Schon heute gibt die Generation 55 plus nicht nur in SPD und der Union den Ton an. Weil die Jüngeren tendenziell wahlmüder und gleichgültiger sind, wird sich dieser „Rentnereffekt“ noch verschärfen.

Debatten: lästig und störend

Absehbar wird die Generation 55 plus die Agenda der Wahlversprechen bestimmen. Der strittige Austausch von Argumenten zu den vordringlichen Konfliktthemen nicht nur zu `Flucht und Asyl` soll explizit ausgeklammert werden; solche Debatten hemmen die Entscheidungsfreude und gelten im nervösen Tagesbetrieb als lästig und störend. Streit in der Sache, also der Sauerstoff der Demokratie, schade dem eigenen Lager und nutze nur der Konkurrenz. Mit diesem unverrückbaren Glaubenssatz, der wie Mehltau den politischen Prozess belegt hat, amputiert sich eine argumentierende Politik selbst. Sigmar Gabriel begründete seine Abwesenheit auf dem jüngsten Juso-Kongress ernsthaft damit, dass er ARD und ZDF keine Vorlage für Berichte zu Streit in der SPD habe liefern wollen. Gleichzeitig entschuldigte er sich für seine robusten, diskursfördernden Interviews mit zwei ZDF-Spitzen-Moderatorinnen und bat devot um Nachsicht. Wahrscheinlich war das nicht mehr als eine opportunistische Geste, die seine merkwürdigen Medienberater ins Manuskript des SPD-Parteitags diktiert hatten.

Von der gebetsmühlenartig zitierten „Zivilgesellschaft“ war in der Debatte um die künftige Rentenpolitik ebenfalls wenig zu hören. Auch in weiteren politischen Konfliktthemen –von der Pflegereform über den angefeindeten Mindestlohn bis zum Bologna-Flop- ist die Stimme der „Zivilgesellschaft“ leise, kaum vernehmbar. Luise Frank, die Pressereferentin des BUND Bayern, hat stellvertretend für die meisten „Nichtregierungs-Organisationen“ ihr Verständnis von öffentlichen Debatten und „Lobbyismus“ in den sozialen Medien formuliert: „So können wir für den Verband und unsere Interessen ein permanentes Grundrauschen erzeugen.“ Grundrauschen – statt strategisch angelegten Diskurs. Das kennzeichnet die Lage ganz treffend.

Debatten leben aber von dem vernehmbaren Widerspruch im Wechselspiel von parlamentarischen und außerparlamentarischen Akteuren. Dieser „Austausch-Prozess“ ist jenseits von kurz auflodernder Empörung ermattet. Außerparlamentarische Akteure haben keinen Resonanzboden mehr in Parteien und Parlament. Die TTIP-Demonstration in Berlin Ende vergangenen Jahres hatte weniger Resonanz als der wiederholte Montags-Aufmarsch von Pegida in Dresden.

„Die verratene Generation“ arrangiert sich mit dem Verrat

Am Fallbeispiel der in „diskussionsloser Geschlossenheit“ administrierten Rentenpolitik wird die Kluft zwischen eigentlich notwendiger vorausschauender Politik-Planung und kurzsichtiger Politik-Realisierung deutlich. Dabei sind die Kennziffern der strapazierten Haushalte allen bekannt: Ein Schuldenberg von zwei Billionen Euro, jeder 4. Steuer-Euro wird von Zinsen verschlungen. Die Tragweite der beschlossenen Schuldenbremse ist nicht einmal in Ansätzen verstanden. In diesem fiskalpolitischen Set, das der Öffentlichkeit als Konsolidierung verkauft wird, schlägt die Mütterrente allein mit 6,6 Milliarden Euro jährlich zu Buche.

Wie sich zusätzlich die Rente mit 63 Jahren und die Angleichung der Ost-Renten am Ende auf die ramponierten Haushalte auswirken werden, ist noch nicht genau zu beziffern. Klar ist aber schon heute, dass die Jüngeren mehr in die Rentenkassen zahlen müssen, um am Ende (jenseits von 63 Jahren) weniger zu bekommen. Die Autorinnen Christina Bylow und Kristina Vaillant haben in ihrem Buch „Die verratene Generation“ (2014) kühl nachgerechnet und für die Generation der Baby-Boomer (Frauen der Jahrgänge 58 -68) eine schockierende Prognose präsentiert. Diese Generation – Erziehungszeiten, Ausbildung und Berufswechsel einbezogen – kann nach Berechnung der Autorinnen mit einer Rente von 600 Euro rechnen. Wären dies nicht Kennziffern für eine argumentierende Politik, die zudem die verschobene demografische Frage interessant aktualisieren könnte?

Wie in anderen Politikfeldern –etwa dem verschleppten Einwanderungsgesetz oder der bigotten Flüchtlingspolitik – wird aber jeder kritische, realistische Zukunftsdiskurs sorgfältig eingehegt. Die versäumte Einwanderungs-Politik ist absehbar ein langsam wirkendes Vertrauens-Vernichtungsprogramm. Nicht nur mit Blick auf Tauglichkeit und „Fairness“. Sie treibt auch einen Keil zwischen die schon heute „Abgehängten“ und dem neuen Prekariat von dem viele Unternehmer hoffen, die Lohngrenzen nach unten zu drücken. Die paradoxe Flüchtlingspolitik zwischen sonntäglichen Willkommen und werktäglicher Repression steht nur als „Platzhalter“ für weitere ungelöste Großthemen – von der notleidenden Bildung bis zur Chancengleichheit, von Verteilungsgerechtigkeit bis zur Mobilität.

Die Diskurs-Armut leidet unter dem Ermüdungs-Bruch nicht nur der jüngeren Generation

Aber die „Generation Y“ (Y=Why), das Fundament einer vitalen Zivilgesellschaft, die angeblich alles hinterfragt und nicht nur die digitale Welt für sich erobert hat, scheinen diese Erosionen nicht zu interessieren. Sie favorisiert eine harmonische Work-Life-Balance, in der Freunde, Freizeit und „Ich-Zeit“ Vorrang haben. Untersuchungsergebnisse der Personalberatung Kienbaum, die auch als eine leise Auswanderung aus der Leistungsgesellschaft gelesen werden können, haben viele „Personaler“ irritiert. Eine verschärfte Krisenlage und eine zukunftsvergessene Politik werden also mit einer zunehmenden Gleichgültigkeit der Betroffenen und ihrer politischen Repräsentanten beantwortet.

Heiner Geißlers Credo, dass man stets Streit in einer wichtigen Sache anfangen müsse, hat nicht nur im konservativen Milieu seine Gültigkeit verloren. Der Verzicht auf Streit in der Sache gilt mittlerweile als höchste politische Tugend der politischen Klasse. Gefragt ist der kieselsteinglatte Politiker-Typ, der Konflikt-Kanten frühzeitig wegschmirgelt, Streitthemen ausklammert und im präsidialen Habitus mit wolkigen Versprechungen Brücken zwischen den Lagern baut. Streit in der Sache setzt eine Haltung voraus und erfordert Fachkenntnisse. Zudem ist Streit immer risikoreich, weil die Folgen der Auseinandersetzungen innerparteilich und im Konkurrenzkampf der anderen Parteien nicht kalkulierbar sind.

Die belgische Philosophin Chantal Mouffe (2014) fordert in ihrem aktuellen Titel „Agonistik“ (Suhrkamp) dagegen einen Wettstreit der politischen Akteure um Positionen und Argumente; sie plädiert für weniger Konsens, weil dieser die Nivellierung politischer Unterschiede fördere und schließlich zu Apathie und Entfremdung der Bürger führe. Studien des Kölner Rheingold-Instituts und des Berliner Wissenschaftlers Byung-Chul Han (2010) belegen eindrücklich, dass die „ermüdete Gesellschaft“ den Zustand der sogenannten „Zivilgesellschaft“ beschreibt. Nils Minkmar (2013) hat diesen lähmenden Gemütszustand der Deutschen wiederholt in der FAS diagnostiziert und in seinen Beobachtungen rund um den Wahlkampf Peer Steinbrücks 2013 in dem Buch „Der Zirkus“ als Milieu-Studie unterlegt. Die Passivität der politisch sedierten Gesellschaft gilt nicht nur im Feld der Flüchtlingspolitik, sondern prägt fast alle Politikfelder. Mustert man diese, muss man bilanzieren, dass Absichtserklärungen, Ankündigungen und der Verweis auf „leere Kassen“ und der Mythos der „Schwarzen Null“ den Kommunikationsbetrieb kennzeichnen. Garniert mit einer Vertröstungs-Wortwolke, die die strategisch ausgerichtete Politik des Nichts-Tuns oder zögerlichen Abwartens kaschieren und dekorieren soll.

Risikovermeidung und Konfliktausklammerung als professionelles Prinzip führt noch zu einer weiteren Konsequenz, die aus Sicht vieler Bürger prägend ist: die Nutzung gezielt unverbindlicher, mehrdeutiger Positionen und Formulierungen. Alle Positionen müssen vermeintlich klar klingen, aber stets die eine Exit-Chance bereithalten. Flüchtlings-„Obergrenzen“ verdunsten auf Parteitagen in interpretationsfähige Nebensätze. Auch diese Grammatik der Politik kontaminiert einen argumentierenden Diskurs-Stil und begünstigt die pegidiale Sehnsucht nach einfachen Parolen.

Diskurs-Verweigerung und Argumentationsverachtung zehren die Demokratie aus – Grundübel: das Konzept der asymetrischen Demobilisierung

So schlicht es auf den ersten Blick klingen mag: In der Nach-Merkel-Ära wird man sich in den Außenseiter-Medien, einigen Qualitäts-blogs und den Hörfunk Kulturwellen um Mitternacht mit diesem Befund auseinandersetzen. Angela Merkel personifiziert mit ihrem Stil, Konfliktthemen zu entsaften, einzuhegen, zu verlagern oder auszuklammern, eine diskursfreie Politik. Nach außen regelt sie Sachzwänge, verschont die Bürgerinnen und Bürger vom Zwang, einfache Fakten zur Kenntnis zu nehmen, Haltung zu zeigen oder sich zu Positionen zu bekennen. Ihre Inszenierung von Politik besteht in der (kalkulierten) Nicht-Inszenierung im administrativen Sachwalter-Stil. Damit produziert sie ein Grundgefühl der sorgenvollen Zufriedenheit, in dem Argumente und Debatten als Störfaktoren gelten. Sie ist Meisterin der kontrollierten Kommunikation, nicht nur in vermeintlich offenen Bürgerdialogen oder vor der staunenden Bundespressekonferenz. Nach innen erstickt sie in ähnlicher Konsequenz jeden Meinungsstreit. Selbst arglose Kritiker, die in homöopathischen Dosen Widerspruch anmelden oder andere Sichtweisen einbringen, werden kaltgestellt, zumindest eindeutig gewarnt.

Überlagert wird dieses Führungskonzept von der Idee der asymmetrischen Demobilisierung. Konfliktthemen, mit denen die politische Konkurrenz sich abzugrenzen sucht, werden –möglichst bereits im Vorfeld – durch vorsichtige Zustimmung, Annäherung oder ähnlich klingende Programm-Ideen „abgeräumt“ oder aufgesogen. Durch diese gezielte Eindruckserweckung sollen die letzten Kontraste zwischen den politischen Lagern (zumindest semantisch) verschwimmen. Das politische Ziel: Bestimmten Wählergruppen soll der Ansporn genommen werden, sich an Debatten zu beteiligen und oder gar einen Sinn in Wahlen zu sehen. All zu viele Präzisierungen werden vermieden, Programm-Debatten immer wieder verschoben und Parteitage auf das demokratische Minimum reduziert. Dies sind die Zutaten für eine Debatten-Allergie, die die Kanzlerin wie ein süßes Gift in die Gesellschaft träufelt. Wenn diese Medizin lange genug verabreicht wird, gewöhnt sich der Patient an die Dosis Demokratie-Entzug. Denn der demokratische Prozess lebt vom stetigen Austausch von Argumenten und Positionen. Sie sind wesentlich, wichtiger demokratischer Kernbestand – nicht nur eine zufällige Randgröße.

Das besonders Fatale an dem „Anti-Diskurs-Virus“, den die Kanzlerin personifiziert, ist die Ausstrahlung ihres Erfolgs-Modells besonders auf die politische Konkurrenz. Merkel gilt mit ihrem puristischen Stil unter Spitzenpolitikern außerhalb der CDU als „Lichtgestalt“. Nicht nur Spitzenpolitiker „bewundern“ die Methode-Merkel. Mit der von ihr forcierten Debatten-Allergie verschont sie ihre Wähler von der Last der Mitwirkung am Gemeinwesen und steigert so ihre Popularität. Diese Grunderkenntnis treibt die Spirale der „diskussionslosen Geschlossenheit“ in allen Parteien weiter an.

Argumentierende Bürger stören den etablierten Politikbetrieb und werden zunehmend als Konkurrenten und Störenfriede empfunden

Christian Wulff wollte seine Amtszeit als Bundespräsident dem Thema „Zukunft der Demokratie“ widmen. Er sorgte sich vor allem um das „mangelnde Interesse vieler Bürger, sich in den Kommunen zu engagieren.“ In vielen Gemeinden finden sich nicht mehr ausreichend viele Persönlichkeiten, die das Amt des Bürgermeisters oder der Bürgermeisterin wahrnehmen möchten. In zahlreichen Städten haben die Parteien Mühe, die geforderten Kandidatinnen und Kandidaten für Wahllisten zu überzeugen. Auch das schlechte Image der Politiker motivierte ihn (vor seinem Sturz) zu seiner ungewöhnlichen programmatischen Schwerpunktsetzung. „Heute begleitet die Politiker viel Häme, viel Spott und viel Misstrauen – mehr als früher.“ Ungewöhnlich klar analysierte er schon vor seinem Fall: „Der Graben zwischen Wählern und Gewählten wird größer.“ Vertrauensverlust und Wahlverweigerung gegenüber Politik und Parlament einerseits, Passivität, Beteiligungs-Abstinenz und Desinteresse der Bürger andererseits. Die Kerze der Demokratie brennt also von zwei Seiten und niemand kann –jenseits wohlmeinender Appelle- eine überzeugende Perspektive zur Vitalisierung demokratischer Austauschprozesse bieten. Wenn heute –etwa in regionalen Konflikten-„Dialoge“ angeboten werden, ist dies meist aus Sicht der Betroffenen ein untrügliches Zeichen, „das Thema tot zu machen“, wie es im Jargon heißt.

Zum Lagebild gehört auch, dass Wulffs Entscheidung, die Bedrohung der Demokratie in Deutschland zu „seinem“ Thema zu machen, kaum öffentliche Resonanz fand, unabhängig von seiner kurzen Amtszeit bis Ende 2012. Die Idee für dieses Demokratie-Projekt stammte von der Bertelsmann-Stiftung, die mit vergleichsweise gigantischem Aufwand engagierte Bürger zu Demokratieforen im Bonner Wasserwerk versammelte. Tausende Bürger wurden eingeladen, ihre politischen Zielvorstellungen in Groß-Kongressen zu debattieren und schließlich zu bündeln.

Doch auch dieses Großprojekt versandete. Ein wesentlicher Grund: Man wurde die Geister nicht los, die man zuvor gerufen hatte. Je intensiver die ausgesuchten Bürgerinnen und Bürger sich mit „ihrem“ Thema beschäftigten und die Argumente prüften, umso präziser formulierten sie ihre Gegenentwürfe und traten zunehmend ungeduldiger mit klaren, argumentativ unterlegten Forderungen auf. Ähnliche Grunderfahrungen lassen sich aus anderen „Demokratie- und Beteiligungsprojekten“ ablesen. Mit zunehmender Themen-Sicherheit wachsen engagierte Bürger zu Konkurrenten der im Konsens eingespielten „Parlaments-Politik“ heran. Eine Einladung auf die Tribüne eines Landtags mit anschließendem Bürgerdialog verliert seine Anziehungskraft.

Die etablierte Politik spürt offenbar, dass die Abkopplung von Bürgern und Regierenden eine gefährliche Intensität erreicht hat. Mit der Diagnose dieses heiklen Zustands hat sich flächendeckend Ratlosigkeit in der politischen Klasse ausgebreitet. Therapie-Ansätze, wie der Demokratie-Sklerose begegnet werden könnte, zeichnen sich jedoch nicht ab. Die CDU sucht Antworten in einer von vornherein sehr kleinmütig konzipierten Parteireform. Dabei müssten die Sekretäre nur einen Blick ins Archiv werfen. Vor 20 Jahren hatte eine CDU-Kommission bereits ein exzellentes Papier zur Parteireform vorgelegt. Resonanz: Null.

„Gelesen. Gelacht. Gelocht“ – nach diesem Prinzip selbst fruchtbarer Programm-Debatten wurde auch hier verfahren. Die SPD flieht –wie so oft in der Not – in die Abgründe der Demoskopie. „Schwierige Zielgruppen“ (u.a. der Jungwähler) sollen demnächst genau nach ihren Motiven ihrer Politikverachtung befragt werden. Die Organisationen und Parteivertreter, die sich zivilgesellschaftlichem Engagement verschrieben haben, müssten hier ansetzen. Ohne die Bereitschaft zum begrenzten Konflikt und argumentativen Austausch reagieren Ministerial-Beamte, Abgeordnete und Funktionäre nicht. Die grassierende „Debatten-Allergie“ ist aus einem anderen Krankheits-Bild hervorgegangen: aus der Immunisierung gegen alle wesentlichen gesellschaftspolitischen Konfliktthemen und dem Verzicht auf eine damit verbundene aufrichtige, sorgfältige, vor allem offene Programm-Debatte.

„Argumentationsarmut“ oder Diskurs-Verweigerung?

Jürgen Habermas lebendiges Vermächtnis, „der zwanglose Zwang des besseren Arguments“, hat schon lange keine Konjunktur mehr. Vordergründig sehen alle Akteure, die einen öffentlichen Diskurs zu wichtigen Fragen pflegen könnten, keinen Nutzen für den Streit um die besseren Argumente:

  • Wer argumentiert, muss Prioritäten setzen, Wertefragen für und gegen eine inhaltliche Entscheidung klären und für seine Position streiten. Daraus erwächst Polarisierung. Das Gros der amtierenden politischen Klasse will aber beruhigenden Konsens und die „sorgenvolle Zufriedenheit“ der Bürger nicht stören, sich nicht angreifbar machen.
  • Die Medien bevorzugen den rasch wechselnden Empörungsrausch in Echtzeit, der angezettelt und bald wieder von einer neuen Welle abgelöst werden soll. Schon Luhmann analysierte, dass die Medien an Neuigkeiten, nicht aber an Wichtigkeiten interessiert sind. „Interessant geht vor relevant“ – heißt es heute folgerichtig in den journalistischen Handreichungen.
  • Die Bürger vermuten im Streit um Argumente zu oft folgenlose Kulissenschieberei und mangelnden Ernst. Das Credo: „Wer seine Meinung sagt, kann etwas ändern“ (Memo auf dem Schreibtisch des VW-Konzernbetriebsratsvorsitzenden) taugt nur noch für Poesiealben. Das Gefühl, dass sich die Richtung in einzelnen Politikfeldern grundsätzlich ändern könnte, ist verkümmert. Besonders in Zeiten Großer Koalitionen dämpft dies die Bereitschaft, sich einzumischen.
  • Die Eindruckserweckung gilt unter Politikern als die hohe Kunst der Profession, nicht die Überzeugungskraft von geklärten Argumenten und begründeten Haltungen.
  • Bestimmte Positionen werden systematisch als „Test-Ballon“ in speziell passenden Medien „platziert“, um zunächst die Reaktion der Medien zu testen und dann die Positionen zu forcieren oder wieder einzufangen.
  • Kontrollierte Kommunikation ist zum Prinzip geworden. Abgestimmte „wordings“ werden an die zitierfähige Parteispitze per SMS versendet und als verpflichtend eingestuft. Wenn es heikel wird, greift eine andere, sich ausbreitende Methode: einfach schweigen und nichts sagen.
  • Besonders in Konfliktsituationen werden wachsweiche Formulierungen gewählt, die jederzeit „dementifähig“ sind. Gezielte Unklarheit ist kein Nebenprodukt von Unfähigkeit, sondern gezielte Kommunikations-Strategie.
  • Auch für gewiefte Politiker ist die Resonanz ihrer Äußerungen schwer kalkulierbar. Eine „Nicht-Aussage“ kann „explodieren“, ein wirklich neuer Gedanke kann in der Flut der Meldungen einfach untergehen. Wenn man den Output an „exklusiven“ Wochenend-Meldungen studiert, wird man kaum ein belastbares Relevanz-Muster entziffern können. Die Wirkung der semantisch harmlosen Aussage: „Nichts ist gut in Afghanistan“ mag diese neue Unübersichtlichkeit anschaulich illustrieren. Offenbar hatte die frühere EKD-Ratspräsidentin Käßmann damit ein Tabu angesprochen.

Frank Schirrmacher, der nach seinem plötzlichen Tod als argumentierende Lichtgestalt und Kontrast zum Defizit diskursiver Politik gefeiert wurde, hat mit seinen Impulsen und Anstößen eine Blaupause für mehr Argumente im öffentlichen Raum hinterlassen. Schirrmacher wollte den Streit und den Bruch mit Denkmustern. Konfliktbereitschaft und (gelegentlich hemmungslose) Zuspitzung waren für ihn Katalysator für die herausfordernde Beachtung von verborgenen Themen und die Argumentations-Animation für relevante Streitthemen. Natürlich beherrschte er mit seiner Themensetzung auch die Gesetze moderner Kampagnen-Führung und die Vorzüge des genre-übergreifenden Medien-Mix, die er perfekt nutzte.

Er war ein risikobereiter Musterbrecher. In diesem Sinne könnte er als Ausnahmefigur auch ein Leitbild für Akteure der sogenannten Zivilgesellschaft sein, die – jenseits ihres Grundrauschens – mehr wollen, als den Zeitpunkt abzuwarten, wann ihre Zeit gekommen ist. Selbst VW-Manager bekennen im laufenden Abgas-Skandal, dass sie sich nicht mehr mit „Ja-Sagern“ in ihrer (bislang) geschlossenen Welt umgeben wollen.

Person als Narrativ – die einfache Lebensstory ersetzt den in der Sache argumentierenden Politiker

„Nichts ist erfolgreicher als der Erfolg“ – besonders im politischen Betrieb gilt dieser Leitsatz. Wer hat demoskopisch ablesbaren Erfolg, wer steht auf den Spitzenplätzen der Sympathie-Fieberkurve? In der politischen Szene Deutschlands ist keine Spitzenfigur erkennbar, die stetig auf Diskurspolitik setzt, dem zwanglosen Zwang des besseren Arguments vertraut. Ein gegenläufiger Trend ist erkennbar. Ein Spitzenpolitiker, der im Kampf um mediale Aufmerksamkeit bestehen will, muss – jenseits von Positionen, Programmen und Argumenten – ein besonderes Narrativ in sich tragen, das die Auseinandersetzung um Sachfragen überlagert.

Jochen Buchsteiner (FAZ 8.8.2014) hat diese Entwicklung am Beispiel des konservativen Londoner Bürgermeisters Boris Johnson nachgezeichnet. Johnson hat zwar noch keinen Wahlkreis, aber er gilt bereits als der Herausforderer des britischen Regierungschefs Cameron. Ihm wird zugetraut, Partei und Politik „popularisieren zu können.“ Sein Fazit: „Fast scheint es, als transformiere sich Politik über ihn zu etwas Un- oder Überparteilichen.“ Ein Bezug zur Kanzlerin drängt sich hier auf. Auch weitere Charakteristika illustrieren den künftigen Erfolgs-Typus auf der politischen Bühne. „Sein Witz, seine Schlagfertigkeit, sein beinahe komödiantisches Talent haben ihn zu einem Superstar der Politik gemacht, dem auch nicht-konservative Wähler erliegen.“ Und: „Johnson inszeniert sich als spontan, manchmal fahrig, fast chaotisch, aber meistens steckt Kalkül dahinter.“

Markierungen, die auch bei anderen Erfolgskarrieren zu besichtigen sind. Argumentierender Diskurs, sortierte und begründete Positionen: Für diesen Stil scheint in postdemokratischen Gesellschaften, die unter der fatalen Verbindung von Komplexitätsdruck, finanzieller Auszehrung und starken Wirtschafts-Interessen leiden, wenig Platz zu sein. Der Typ „Johnson“ macht auch in Deutschland jenseits von Herrn zu Gutenberg Karriere.

Eine ähnliche Bedeutung eines politischen Narrativs kann man in Hessen am Beispiel einer Landesregierung beobachten. Das Klein-Klein der schleppenden Landespolitik verschwindet hinter dem großen Zukunfts-Bild einer Schwarz-Grünen Koalition auf Bundesebene. Der hessische Finanzminister Thomas Schäfer (CDU) versteigt sich folgerichtig schon in das geeignete Superlativ: „Schwarz-Grün ist ein Gesamtkunstwerk.“ (FAZ 8.8.2014) Die Rezeptur für dieses Narrativ liefert der Politiker gleich mit: „Außerdem trifft man sich jeden Montagabend –und bleibt notfalls auch bis in die Puppen, um Konflikte beizulegen oder im Keim zu ersticken.“

Das Projekt „Schwarz-Grün“, übrigens die Lieblings-Konstellation der meisten Meinungsführer, erreicht eine besondere Strahlkraft. Wenn bei der Konstruktion dieses Narrativs aber Konflikte systematisch vorab begradigt werden, bleibt kein Raum mehr für den Austausch von Argumenten in der Öffentlichkeit oder im Parlament. Ähnlich verhält es sich auch in „kleinen Koalitionen.“ Kadavergehorsam, Konsenszwang, Konflikt-Ausblendung ersetzen die langen Linien von Programm-Ideen oder weichen einst unverwechselbare Positionen bis zur Unkenntlichkeit auf.

Auch in Rheinland-Pfalz überstrahlt ein Narrativ das regionale Geschehen. Die Person der Ministerpräsidentin, die trotz schwerer Krankheit Politik leidenschaftlich betreibt, scheint wichtiger zu sein, als die klassische Landespolitik. In Talk-Shows wird sie immer wieder explizit auf Grund ihres „Schicksals“, nicht wegen den landespolitischen Kernthemen oder besonderer politischer Fragestellungen eingeladen. Ihr Bekanntheitsgrad und die nationale Berichterstattung über sie stützen sich dominant auf dieses Narrativ. Ihre Konkurrentin von der CDU konnte ihr Profil vor allem durch eine stringente weight-watcher-Kur und ihren modischen Auftritt aufpolieren. Hinter solchen Narrativen verschwinden Kommunal-Reform und Länderfinanzausgleich.

Die drei Beispiele lassen sich zu einem künftigen Trend bündeln: Spitzenpolitiker streben ein bestimmtes Narrativ an, mit dem sie öffentlich verbunden werden. Dieses oft kontextfreie Sinnbild überlagert dann alle Fragen nach argumentativ unterlegter Sachpolitik. Andernfalls erfüllen sie nicht die Ansprüche einer medialen Aufmerksamkeits-Ökonomie, die einfache Bilder verlangt und die Lust an Differenzierungen, Nuancen und Kontexten verloren hat. Dieses Erfolgsmodell färbt auf den Politikbetrieb ab: Im Ergebnis rücken rationale Argumente, überlegte Sachauseinandersetzungen und damit eine lebendige Debattenkultur in den Hintergrund. Dieser Trend wird von den Medien vorangetrieben, mitunter auch erzeugt. Die Sichtbarkeit von Personen und deren (persönliche) stories passen besser in die Agenda der Medien als schlüssige Argumente und ausgereifte Konzepte und konsistente Politikentwürfe.

Machtkampf zwischen Medien und Politik – Medien meiden Diskurse und empfinden Argumente als „Quotengift“

Im Kern geht es in der Aufmerksamkeits-Ökonomie um einen (lautlosen) Machtkampf, wer die Interpretationshoheit um politische Vorgänge hat? Die Medien – oder die Politik? Die mediale Genese beim Sturz des früheren Bundespräsidenten Christian Wulff ist – jenseits der Gewichtung einzelner Ungeschicklichkeiten, Fehler und vermeintlicher Charakterschwächen – solch ein Machtkampf um die Interpretationshoheit zwischen Medien und Politik.

Der frühere Chef des heute-journals (ZDF), Wolf von Lojewski, hat bereits Ende 2012 in seiner Eröffnungsrede beim MainzerMedienDisput im ZDF auf diese Dominanzfrage hingewiesen. Nach seiner Einschätzung geht es nicht nur in der sogenannten Skandalberichterstattung um die Machtfrage. Lojewski sieht eine zunehmende Macht der Medien im Kontrast zur Politik. Bald könnten Politiker froh sein, wenn sie zu wichtigen Themen noch befragt würden. (vgl. newsroom.de, 16.10.2012)

Eine ähnliche, aber noch tiefer gehende Diagnose, präsentierte der (frühere) grüne Spitzenpolitiker Jürgen Trittin. In seiner Erfahrungsbilanz setzen die Medien „Themen, Trends und Stimmungen.“ Sie spielen einen aktiven Part in der Gestaltung oder Verhinderung von Diskursen. Jürgen Trittin verglich den Berliner Politikbetrieb mit den Machenschaften, die in der oft gerühmten US-Serie „House of Cards“ zu besichtigen waren. Die Verzahnung zwischen Medien und Abgeordneten und die Abhängigkeit von Entscheidungsträgern von den Mächtigen aus Industrie und Wirtschaft sind die wesentlichen Narrative von „House of Cards“. Die Serie, so Trittin, „zertrümmert rücksichtslos das Gerede von den Medien als Kontrolleure der Macht. Medien sind selber Teil der Macht. Sie berichten nicht einfach, sie setzen Themen.“ (…) „Der übliche Deal („Ich versorge Dich mit Material und Du zitierst mich“.) müsse nicht zu zeitweiligen Verhältnissen (wie bei den Protagonisten der Serie) führen. „Aber es läuft genau so.“ – bilanzierte der grüne Spitzenkandidat 2013. „Medien sind Teil der politischen Maschinerie, auch wenn sie das scheinheilig verleugnen, stattdessen pauschalierend über „die Politik“ reden und damit das Vorhandensein realer politischer Alternativen vernebeln. Sie setzen Themen, Trends und Stimmungen“, resümierte Trittin in der Wochenzeitung „Freitag“. (9.1.2014)

Auffällig ist, dass Trittins vernichtende Analyse in der Öffentlichkeit kaum aufgegriffen wurde; kein anderer aktiver Politiker hat bislang eine vergleichbare Praxis-Kritik in dieser Klarheit öffentlich geliefert. Möglicherweise herrscht die immer wieder – hinter vorgehaltener Hand – präsentierte Meinung vor, man solle sich nicht mit den Medien anlegen. Zudem seien die eingeübten Mechanismen des agenda settings und agenda cuttings, der Unterhaltungssucht und der Personalisierung nicht mehr umkehrbar. Ein Arrangement mit der medialen Empörung sei günstiger als eine nüchterne Kritik.

Macht ohne Verantwortung – eine reflexionsblinde Branche steuert die Publikums-Empörung in Echtzeit

Folgende „gelernte“ Medientrends liefern den Rahmen einer Medienanalyse, die für Argumente und Diskurse wenig Raum lässt:

Der „Aufreger“ ist zum zentralen Genre der Nachrichtenproduktion avanciert. Die Stimulierung einer „Echtzeit-Empörung“ wird zur Königs-Disziplin im medialen Betrieb. Begleitet wird dieser Trend durch einen informellen, (aber unaufhaltsamen) Wandel der Nachrichtenfaktoren. Gesprächswert steht ganz oben. Echte Relevanz wird „unrelevant“. „Akzeptanz ist Relevanz“, diese Formel hat bereits den Status eines offizielle Slogans erreicht; die jeweils erzielte „Reichweite, Quote, Auflage oder Klickrate wird zur Legitimations-Instanz und zum Druckfaktor von journalistischen Entscheidungen. Der innere Kompass im Journalismus ist verlorengegangen. „Die Umkehr der Wichtigkeiten“ (Richard von Weizsäcker) ist Programm und stützt sich auf interne Publikums-Akzeptanz-Ergebnisse der Medienforschung. Ganz gleich wie windig die jeweilige Erhebungseinheit ist.

Die Folge ist ein verändertes Berufsbild: Im Kern müsste in den Berufsberatungsblättern der Beruf des Journalisten mit „Emotions-Ingenieur“ angegeben werden. Oder als „Gesprächs-Animateur“ beziehungsweise „Gefühls-Simulant.“ Neben dem erwähnten „Gesprächswert“ eines „Aufregers“ ist vor allem „schöne Information“ gefragt. (Service, Kochen, Tiere, Reisen, Adel, Landschaften, Quiz, Mundart-Theater uvm.) „Sperrige Politik-Themen“ rücken an den Rand und werden allenfalls als „Hartholz“ mitgenommen. `Postkarten-Journalismus` wird zum Kerngeschäft. Eine focus-Kolumnistin nennt dies die Abkehr von den „Politik-Politik-Themen.“

Journalisten sind vor allem Produzenten von vorgefertigten Stoffen, die höchstens noch konfektioniert, veredelt, evtl. erweitert werden. „Branded Journalism“ oder extern zugeliefertes „Content-Marketing“ gewinnt immer mehr an Bedeutung. Das Berichten aus eigener Anschauung, vor Ort, mit der Nutzung vielfältiger, unabhängiger Quellen und der Einordnung auf der Basis von (spezieller) Fachkenntnis und Erfahrungswissen ist „old school“. Argumentierender Journalismus, der im Ergebnis nicht vorhersehbar ist, der Nuancen wahrnimmt und Differenzierungen einbezieht, erklärt und hinterfragt, gilt als „überholt.“ Ausnahmen in Nischen eingeschlossen.

Gnadenlos zugespitzte Überschriften-Texte sind wichtiger als eine ausgeruhte Analyse. Suchmaschinen-Optimierung hat eine wesentlich größere Bedeutung als Quellenzugänge und die Kernfunktion des Kuratierens von Informationen. Erfahrungswissen und Fachkompetenz oder Handschriften von Autoren haben offenbar keinen Mehrwert; sie gelten im tempogetriebenen news-Betrieb eher als lästig und umständlich. Sinnfällige Beispiele für diesen Trend sind die Ranking- und Check-Formate, die Objektivität simulieren, ohne ihre Begründungsmuster – jenseits von überschaubaren votings der Nutzer – offen zu legen. Leichte Service-Kost wird in einer Flut von Sendungen rund um Essen und Nahrung serviert, ohne das „Billig-Kaufverhalten“, die industrielle Produktion von Nahrungsmitteln oder die Konzentrations-Wirkungen der Lebensmittel-Discounter unter die Lupe zu nehmen. Phänomene werden thematisiert, ihre strukturellen Hintergründe weitgehend ausgeblendet.

Die Voraussetzung für dieses (fast) durchgängige Produktions-Modell ist die Selbstbegrenzung auf eine gnadenlose Komplexitätsreduzierung aller Stoffe und damit der Verzicht auf Differenzierung („RTL2 Prinzip“). Der einfache Erzählsatz zählt allein beim Themen-Verkauf. („Alles muss man sofort in einem Satz –„dem Küchenzuruf“ – präsentieren können.) „Informations-Reduzierung erhöht den Erzählfluss“ – lautet das erste Gebot. Die serielle Banalisierung aller Stoffe, garniert mit interessanten, visuellen Unterhaltungs-Elementen, gilt als Garant für Quoten, Auflagen, Klicks. Jeder Grauwert, jede Differenzierung abseits der Hauptlinie der jeweiligen story irritiert die Programm-Ansager, wie selbst ein Redakteur des Deutschlandfunks kürzlich beklagte.

Es geht immer mehr um Verpackung. Die Konfektionierung (Hülle) ist wichtiger als der Inhalt. („10 Top-Erfolgsfaktoren für Politiker“) In Boulevard-Lehrbüchern heißt es: „Komplexitätsreduzierung ist Quotensteigerung.“ Journalismus soll „Aha-Erlebnisse“, „Gänsehaut-Momente“ verschaffen. „Aufklärung ist retro.“ Nikolaus Brender, früherer ZDF-Chefredakteur, hat diese elementare Empörung in Echtzeit in einer Rede treffend beschrieben: „Eines ist klar: Wir selbst saugen die Flut an, die Welle von irrelevanten Kleinigkeiten und die Riesenwellen des bloßen Scheins. Und dabei sind wir unersättlich. (…) Echtzeitjournalismus reicht schon lange nicht mehr. Die Endzeit muss es schon sein, über die wir Journalismus berichten.“ (Frankfurter Rundschau, 6.11.2012, „Den Turbo-Journalismus stoppen.“)

Die Folge: „Allein mit Qualitätsjournalismus kann heute niemand mehr überleben.“ (Hubert Burda, Horizont, 20.1.2014 von Katrin Lang) Diese Erkenntnis führt dazu, dass Journalisten die „Bergarbeiter des 21. Jahrhunderts“ sind (so ein Ex-ftd-Redakteur), die 20%-Sparregel Redaktionen unter Druck setzt, ausgebrannte und austherapierte Macher in newsrooms als „content“-Produzenten agieren.

Journalismus wird zunehmend zur „Kommentierung von Marketing“ (auf allen Ebenen). – Die Stofflieferanten werden jedoch tabuisiert. Dieser Trend bleibt nicht folgenlos: „Daran sollten sich Journalisten gewöhnen, dass der Begriff ‚unabhängiger Journalismus’ längst ein Mythos ist.“ Mit diesem Glockenschlag in der Schweizer „Medien Woche“ trieb die Kommunikationsberaterin Karin Müller eine schlummernde Debatte voran. Nach 18 Jahren im Journalismus heißt ihr Credo: „Wir alle müssen uns von einem Journalismus verabschieden, der aus zwei Werten bestand: Qualität und Unabhängigkeit.“ (www.medienwoche.ch, 19.6.2014)

Gleichzeitig verlangen Markt und Publikum zunehmend nach Angeboten zwischen Werbung und Content. Native advertising, Content Marketing, storytelling, Corporate Publishing wachsen rasant. Die Macher des „King Content Day“ bilanzieren in ihrer Konferenz-Einladung: Auf der digitalen Ebene verschmelzen die „Grenzen zwischen Content-Produzenten, Distributeuren und Usern. Zudem werden die Grenzen zwischen werblichen und Entertainment-Inhalten immer durchlässiger.“ Die Wertschöpfungsketten verteilen sich neu, auch weil frische Studien „einen dramatischen Bedeutungsverlust für die traditionelle Pressearbeit“ (Anm. klassische PR) ausgemacht haben. PR-Experten setzen nun auf mobile online-Kommunikation und die Vermittlung ihrer Botschaften direkt an einzelne Zielgruppen. (vgl. Rene Seidenglanz, PR und Journalismus, Quadriga-pdf o.D., mit interessanten Befunden aus der Sicht von PR-Akteuren)

Auf diese Weise wird Journalismus in den Zwängen von minütlicher Messbarkeit, von Echtzeit, wahnwitziger Komplexitätsreduzierung, Unterhaltungs-Sucht und ökonomischen Zwängen zu einer unberechenbaren Größe. Unreflektiert, unbekümmert, unkontrolliert.

In diesem Sinne sind die Medien Spiegelbild einer Politik, die nicht mehr auf Diskurse und Argumente vertraut; sie setzt auf Aufmerksamkeits-Management, Eindruckserweckung sowie die Entwertung oder Verdrängung von Themen und Argumenten. Sie verstärken die Trends nach Personalisierung, nach Vereinfachung, nach kontext-freien Betrachtungen, die einem „inneren Narrativ“ folgen. „Daumen hoch – oder Daumen runter.“ Gefällt mir oder Gefällt mir nicht. Hauptsache, der Aufregungspegel stimmt und die Empörungswut findet ein Ventil.

Vor dieser Kulisse eines permanenten Stichflammen-Journalismus arbeiten sogar NGO`s. Zum Teil nutzen sie auch die Schwächen des medialen Systems, indem sie auch den Instrumentenkasten der PR nutzen, um ihre Inhalte zu transportieren und ihre „Experten“ zu platzieren. Kurzfristig mag dies als Erfolg der Marketingabteilungen gewertet werden. Längerfristig führt dieses Kommunikationskonzept jedoch in eine Sackgasse. Gründliche Analysen, klare Wert-Haltungen, schlüssige Argumente aus vielfältigen Perspektiven sind die Rohstoffe, die den öffentlichen Diskurs beleben könnten. Politik und Medien können auf diese Art des Diskurses verzichten. Eine lebendige, funktionierende Demokratie als Lebensform jedoch nicht.

Konstruktiver Ausblick

Doch der eingerostete und blockierte Diskurs könnte mit einem einfachen Modell wiederbelebt werden. Ganz im Sinne des Modetrends der konstruktiven Nachrichten –vom Spiegel bis zu dem neuen Web-Projekt könnte das gesellschaftliche Gespräch zu einem bislang destruktiv verhandelten Thema –der Einwanderungs-Krise- öffentlich und im großen Stil verhandelt werden. Eine gut sortierte Debatte könnte –nach dem Diskurs-Modell-Stuttgart 21- die zehn wichtigsten Fragen rund um `Flucht, Asyl und Einwanderung´ aufwerfen und mit echten Experten verhandelt werden. Alle Nöte, Sorgen und Herausforderungen kämen auf den Tisch. Am Ende stünde kein förmlicher Beschluß, wohl aber eine Verständigung auf zehn prioritäre Lösungsschritte sowie die Formulierung von Konsens- und Dissenspositionen. Falls die politische Klasse dazu nicht in der Lage sein sollte, könnte die viel zitierte Zivilgesellschaft sich dieses Projekt im derzeitigen Klima des von der AfD forcierten „geistigen Bürgerkriegs“ zu Eigen machen. Es gäbe dann auch noch einen Kollateralnutzen: Phönix hätte wieder Traumquoten.

Literatur

  • Bylow, Christina/ Vaillant, Kristina 2014: Die verratene Generation, München.
  • Denkwerk Demokratie (Hrsg.) 2014: Sprache. Macht. Denken. Politische Diskurse verstehen und führen, Frankfurt/M.
  • Gradinger, Frank u.a. (Hrsg.): 2014 Politische Narrative, Wiesbaden.
  • Grünewald, Stephan 2013: Die erschöpfte Gesellschaft, Frankfurt/M.
  • Han, Byung-Chul 2010: Müdigkeitsgesellschaft, Berlin 2010.Hofmann, Wilhelm u.a. (Hrsg.) 2014: Narrative Formen der Politik, Wiesbaden.Kurbjuweit, Dirk 2014: Angela Merkel: Die Kanzlerin für alle?, München.
  • Minkmar, Nils 2014: Der Zirkus, Ein Jahr im innersten der Politik, Frankfurt/M.
  • Mouffe, Chantal 2014: Agonistik. Die Welt politisch denken, Frankfurt/M.

[«*] Prof. Dr. Thomas Leif ist Publizist, Journalist, Film- und Sachbuchautor und Politologe.


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