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Titel: „Den Menschen wurde klar, dass sie keine Entscheidungskraft besitzen“ – Noam Chomsky im NachDenkSeiten-Interview

Datum: 14. Juli 2016 um 9:06 Uhr
Rubrik: Audio-Podcast, Euro und Eurokrise, Europäische Union, Fremdenfeindlichkeit, Rassismus, Interviews, Neoliberalismus und Monetarismus
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Noam Chomsky

Der ehemalige MIT-Linguist Noam Chomsky gilt als einer der wichtigsten und bekanntesten linken Intellektuellen der Gegenwart. Sein Wort hat zweifelsohne Gewicht. Emran Feroz hatte die Ehre, Chomsky für die NachDenkSeiten zu interviewen. Im exklusiven NachDenkSeiten-Interview geht es um die Flüchtlingskrise, Europa, den Brexit und über das Schwinden des Vertrauens der Bürger in die Demokratie.

Dieser Beitrag ist auch als Audio-Podcast verfügbar.

Zum gegenwärtigen Zeitpunkt sehen wir, wie Nationalismus und Rechtsextremismus immer mehr Fuß fassen in Europa. Speziell jene Geflüchteten, die all dem Grauen im Nahen Osten und anderswo entgehen wollen, müssen sich all dem Hass stellen. In den USA ist die Lage ähnlich, vor allem mit Hinblick auf Donald Trump. Denken Sie, dass die Angstmacher gewonnen haben?

Es ist sehr interessant, die sogenannte Flüchtlingskrise zu beobachten. In Österreich, um ein Beispiel zu nennen, sehen wir etwa, wie ein Neonazi kurz vor seinem politischen Erfolg steht. Österreich hat nur sehr wenige geflüchtete Menschen aufgenommen. Das Land, welches am meisten Entgegenkommen in Europa zeigte, ist wohl Schweden, welches zwischen 150.000 und 160.000 Geflüchtete aufgenommen hat. Bei einer Bevölkerung von rund 10 Millionen Einwohnern bedeutet dies, dass etwa 1,5 Prozent davon nun einen Fluchthintergrund haben. Anders verhält es sich in Staaten wie dem Libanon, einem armen Land, welches keine Rolle im Erzeugen von Flüchtlingsströmen spielt, dessen Gesellschaft allerdings mittlerweile aus etwa 40 Prozent aus Geflüchteten besteht. Allein 25 Prozent davon sind Menschen aus Syrien. Selbiges ist auch in Jordanien der Fall, wo man ebenfalls zahlreiche Geflüchtete aufgenommen hat. Im Vergleich dazu hat Europa kaum etwas getan.

Natürlich stellt sich hier die Frage, woher die Geflüchteten überhaupt kommen. Hauptsächlich stammen sie aus dem Nahen Osten, allerdings kommen sie auch aus Afrika. Europa hat eine lange Geschichte in Afrika. Die letzten Jahrhunderte waren von der Ausbeutung und Zerstörung des afrikanischen Kontinents geprägt. Die Auswirkungen davon zeigen sich bis heute und gehören zu den Gründen, warum weiterhin Menschen aus Afrika nach Europa fliehen. Im Nahen Osten gibt es viele Gründe für die Fluchtbewegungen. Ein bedeutender Grund ist die amerikanische und britische Invasion des Irak, die den Staat vollkommen zerstört hat. Iraker fliehen weiterhin aus ihrer Heimat, zum jetzigen Zeitpunkt vor allem vor einem sektiererischen Konflikt, der auf diese Art und Weise vor der Invasion nicht existierte.

Das Ganze ähnelt dem Verhältnis der USA zu Zentralamerika. Aufgrund der Folgen der US-Politik in der Region fliehen weiterhin Menschen in den Norden, etwa aus Guatemala. In Honduras brachte es allein die Obama-Administration zustande, einen Militärputsch zu unterstützen, der das verarmte Land in eine Monstrosität verwandelte. Menschen fliehen auch aus Mexiko, wo sie ebenfalls zu Opfern der US-Politik, etwa in Form des Nordamerikanischen Freihandelsabkommens (NAFTA) geworden sind. Wie vorhergesagt, hat das Abkommen die mexikanische Landwirtschaft massiv untergraben. Mit den von den USA geförderten Agrarkonzernen kann sie mittlerweile nicht mehr mithalten. Die Menschen vom Land treibt es in die urbanen Gebiete, wo sie sich keine bessere Existenz erhoffen können. Deshalb fliehen sie in den Norden, sprich, in die Vereinigten Staaten.

Bei genauerem Hinsehen wird deutlich, dass es Staaten gibt, die durch ihre Politik Geflüchtete erzeugen, etwa die USA, Großbritannien oder andere europäische Staaten. Währenddessen gibt es andere Staaten, die Geflüchtete absorbieren, zum Beispiel den Libanon oder Jordanien. Die Erstgenannten zwingen Menschen nicht nur zur Flucht, sondern wollen diese auch nicht aufnehmen, wenn sie vor der Tür stehen. Es gibt eine Flüchtlingskrise, und sie ist auch eine moralische und politische Krise.

Mittlerweile wird deutlich, dass diese Krise auch die Europäische Union an sich verändert. Dies wurde etwa erst vor Kurzem durch den Brexit in Großbritannien deutlich. Im Großen und Ganzen wird eine sehr ängstliche Stimmung in Europa an den Tag gebracht. Warum ist es so weit gekommen?

Einer der Gründe, warum Menschen für den Brexit gestimmt haben, sind Migranten. Allerdings gibt es keine Migrationskrise in England, welches kein Teil des Schengener Abkommens ist. Andere Menschen aus Europa, europäische Staatsbürger, die nach Großbritannien migriert sind, sind keine Geflüchteten. Eine der Hauptursachen, warum so viele Menschen für den Brexit gestimmt haben, liegt in der neoliberalen Politik. Es gibt viele Opfer dieser Politik, die sich in den letzten Jahren durchgesetzt hat. Diese Politik hatte ihren Ursprung allerdings nicht in der EU, sondern in Großbritannien selbst. Die EU hat nicht Margaret Thatcher und jene Politiker, die ihr folgten, gewählt. Das war Großbritannien selbst. Teilweise hat die EU die Zerstörung der britischen Arbeiterklasse sogar erschwert und gehindert.

Wie dem auch sei, die Sorgen der Menschen in Großbritannien sind in gewisser Weise nachvollziehbar. Sie wurden einfach beiseite gedrängt, so wie das in vielen Regionen der Welt, die vom Neoliberalismus heimgesucht werden, der Fall ist. Viele dieser berechtigten Sorgen wurden manipuliert, indem man Ressentiments bediente und Fremdenhass und Rassismus gewähren ließ.

Selbiges ist gegenwärtig auch in den USA der Fall. Demografisch unterscheidet sich die Mehrheit der Trump-Unterstützer kaum von den Brexit-Wählern in England: Eine weiße Arbeiterklasse, die vor allem von Männern dominiert wird und in den letzten Jahren aufgrund neoliberaler Politiken beiseite gedrängt wurde. In diesem Kontext ist es erwähnenswert, dass sich sogar die Sterblichkeitsrate erhöht hat. Die ist ein besonders schockierendes Anzeichen für eine entwickelte Gesellschaft. Nun lassen diese Menschen ihren Frust aus und zwar, indem sie diesen gegen Muslime und Migranten richten. Mit ihren Problemen hat das nichts zu tun, doch es ist stets einfach, auf jene einzudreschen, die in diesem Fall sogar noch schwächer sind.

Im Grunde genommen richten sich diese Menschen gegen ihre eigenen Interessen. Wer genau hinsieht, merkt, dass sich die Interessen der Unterstützer von Donald Trump und Bernie Sanders nicht allzu sehr voneinander unterscheiden. Gäbe es aktive und konstruktive politische Bewegungen, wie das etwa bei der Arbeiterbewegung in den 1930er-Jahren der Fall gewesen ist, könnte man diese Menschen sogar zusammenführen. Allerdings nicht zugunsten von Fremdenhass und Rassismus, sondern im Sinne eines Klasseninteresses, welches die Macht des vorherrschenden Systems übertreffen könnte.

Gleichzeitig denken nun viele Menschen, dass die USA ihren Einfluss auf die Europäische Union durch einen Austritt Großbritanniens verlieren könnten. Inwiefern entspricht das der Wahrheit?

Ich denke, dass das wahr ist. Großbritannien war schon immer die Stimme der USA innerhalb der EU. In der Forschung ist hier von dem atlantizistischen Element die Rede. England ist in diesem Fall eine Semikolonie der USA. Ich denke, dass Großbritannien sich aufgrund des Brexits mehr in Richtung USA bewegen und diese nun stärker unterstützen wird. Zum gleichen Zeitpunkt besteht die Möglichkeit, dass sich die EU vom Druck der US-orientierten Politik befreien wird. Es kann sein, dass die EU Positionen annehmen wird, die auf internationaler Ebene hilfreicher sind und Frieden sowie das eigene Überleben fördern könnten. Ohne den britischen sowie amerikanischen Einfluss wäre die gefährliche Konfrontation mit Russland sicherlich eher vermeidbar gewesen. Möglich ist allerdings auch, dass ein Europa ohne Großbritannien weiterhin den zerstörerischen Weg der Austerität begeht, der hauptsächlich von Deutschland initiiert wurde und desaströse Auswirkungen auf die südlichen Staaten hatte.

Vor allem durch die wirtschaftliche Zerstörung Griechenlands haben viele Menschen in Europa bemerkt, wie gefährlich die neoliberale Finanzpolitik der EU sein kann. Denken Sie, dass wir deshalb auch anderswo ähnliche Reaktionen wie jene, die den Brexit verursacht hat, erleben werden?

Wir sehen derartige Reaktionen so gut wie überall. Die Austeritätspolitik ist hauptsächlich auf Deutschland und deutsche Finanzinstitutionen zurückzuführen. Deutschland selbst hat die Zeit der Krise allerdings ganz gut überstanden, während die Finanzpolitik sehr zerstörerische Auswirkungen auf die europäische Wirtschaft hatte. Die Krise in Griechenland wurde hauptsächlich von Brüssel erzeugt. Mit den Finanzpaketen wurden nicht die Griechen, sondern die Banken gerettet. Diese Hilfe hatten die Banken gar nicht verdient, da sie für die Krise maßgeblich mitverantwortlich gewesen sind. Griechenland wurde zerstört und ausverkauft – und nichts davon hätte passieren müssen. Stattdessen haben wir eine Kombination dieser zerstörerischen Finanzpolitiken gesehen, die sogar von den Wirtschaftswissenschaftlern des IWF kritisiert wurde.

Diese Vorgänge haben auch demokratische Defizite deutlich gemacht. Den Menschen wurde klar, dass sie keine Entscheidungskraft besitzen. Die Politik wurde von den Bürokraten in Brüssel und von den Finanzinstitutionen bestimmt. Nachdem in Griechenland nach dem Willen der westlichen Eliten ein Referendum stattfand, wurden die Griechen von der EU sogar für ihre Entscheidung bestraft. Sie hatten es nämlich gewagt, sich für ihre eigenen Interessen einzusetzen. Die Folge davon war die Auferlegung härterer Sparmaßnahmen.

Eine weitere Folge der Austeritätspolitik ist das Verschwinden der etablierten Parteien der Mitte. Diese Parteien sind nun stark geschwächt oder kaum mehr vorhanden, obwohl sie Europa in den Jahren zuvor stark dominiert haben. Die Gräben zwischen links und rechts sind tiefer als zuvor. Progressive Parteien wie etwa Podemos in Spanien haben das Potenzial, Europa zu demokratisieren. Sie könnten auch die gegenwärtige politische Situation maßgeblich verändern. Allgemein ist allerdings im Moment eine sehr gefährliche Entwicklung zu beobachten.

Macht es in Anbetracht dieser düsteren Lage überhaupt noch Sinn, an die europäische Idee zu glauben?

Ich denke, die Etablierung der Europäischen Union war eine sehr positive Entwicklung. Ein Blick auf die Geschichte Europas im Laufe der letzten Jahrhunderte macht dies mehr als deutlich. Europa war der barbarischste Ort der Welt. Europäer hatten es sich zur Aufgabe gemacht, sich gegenseitig abzuschlachten. Der Höhepunkt war im 20. Jahrhundert erreicht. Der nächste Schritt wäre die totale Vernichtung gewesen. Die EU hat es zumindest geschafft, dem internen Konflikt in Europa ein Ende zu setzen. Das ist eine große Leistung. Die Einführung des Schengener Abkommens war sehr positiv. Dasselbe gilt für alle anderen Maßnahmen, welche die menschliche Interaktion gefördert haben. Es ist eine gute Sache, dass man frei durch Europa reisen kann. Andererseits wurden auch viele politischen Programme eingeführt, die den Menschen das Handlungsvermögen innerhalb ihrer Nationalstaaten entzogen haben. Es ist zu demokratischen Defiziten gekommen. Die Einführung des Euro hat von dem Weg zu wahrer politischer Integration abgeführt. Ich denke, dass der beste Schritt nach vorne eine Überwindung der internen Probleme wäre, allerdings im Rahmen der EU und ihrer bestehenden Möglichkeiten. Das System muss demokratisiert werden, gleichzeitig ist eine Eliminierung der zerstörerischen Finanzpolitik wünschenswert und erforderlich.


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