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Titel: „Das gespaltene Land“ von Alexander Hagelüken – Eine Rezension

Datum: 7. April 2017 um 11:15 Uhr
Rubrik: Rezensionen, Soziale Gerechtigkeit, Ungleichheit, Armut, Reichtum
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Wenn ein Wirtschaftsjournalist der Süddeutschen Zeitung (SZ) ein Buch über Ungleichheit in Deutschland schreibt, macht das neugierig. Erst recht, wenn er zuvor den einen oder anderen bemerkenswerten Artikel verfasst hat. Hier z.B. und hier. Ich machte mich also in wohlwollender Erwartung an die Lektüre von Hagelükens Erstlingswerk. Ein ambivalentes Buch, das mich in einer Mischung aus Ratlosigkeit und Zorn zurücklässt. Anette Sorg.

Wie der Untertitel des Buches verspricht, beginnt Hagelüken mit einer Analyse der Ungleichheit unserer Gesellschaft, um im zweiten Teil Lösungsvorschläge aufzuzeigen, die er als sogenannten neuen „Gesellschaftsvertrag“ tituliert. Stilistisch stellt Hagelüken die Spaltung mit der Schilderung von mehr oder weniger frei gewählten Lebensentwürfen in Pirmasens (Rheinland-Pfalz) und Starnberg (Bayern) lebender Menschen dar.

Viele seiner Analysen sind gut recherchiert und ebenso gut dargestellt. In Kapitel drei „Todesurteil: zu wenig verdient“ schildert er drastisch, wie Gesundheit bzw. Krankheit und Lebenserwartung in enger Relation zur jeweiligen Einkommenssituation stehen. In Kapitel vier (Seite 71) schreibt er:

„Der Vergleich mit anderen europäischen Nationen zeigt: das deutsche Modell ist ein Schlag ins Gesicht der Normalbürger. Es versagt darin, die Früchte der wirtschaftlichen Leistung angemessen zu verteilen. Die nächste Bundesregierung muss eine völlig andere Verteilungs- und Vermögenspolitik einschlagen.“

In Kapitel fünf kritisiert er (Seite 74), dass es ein typischer politischer Reflex sei, die Betroffenen für ihre finanzielle Not selbst verantwortlich zu machen:

„Er wird sich schon selbst in diese Lage gebracht haben. Das Leben ist meist komplexer. Was einer verdient, hängt auch von Herkunft, Ort, Schicksalsschlägen und Geschlechterrollen ab.“

In Kapitel sechs geißelt er eine Politik, die zu unverhältnismäßig hohen Exportüberschüssen geführt hat. Ein ums andere Mal greift er die neoliberale Ideologie an. Im Kapitel „Die neue Bildungskatastrophe“ stellt er fest:

„Die Neoliberalen liegen ohnehin falsch, wenn sie die Ungleichheitsdebatte auf Chancengerechtigkeit reduzieren wollen. Sie klammern den Reichtum aus, der manchen ohne eigene Leistung vererbt wird und anderen nicht. Aber ihre Argumente überzeugen nicht mal, wenn man ihre Verengung der Debatte akzeptiert. Denn es gibt in der Bundesrepublik keine Chancengerechtigkeit.“

Weitere Fehlentwicklungen aufgrund dieser Ideologie kritisiert er ebenfalls: Arbeitseinkommen wird in Deutschland ab 4500 € im Monat mit 42 %, die Kapitalerträge (von Millionären) werden nur mit 25 % besteuert. Die Privatisierungswellen bei Post, Müllentsorgung und Telefon haben zu vielen prekären Beschäftigungsverhältnissen geführt (Seite 115/116).

Der AfD widmet er ein ganzes Kapitel. Ein ambivalentes Kapitel! Seine Analyse über die Ursachen des Erfolges der AfD würde man den etablierten Parteien gerne ins Stammbuch schreiben:

„Um den unheimlichen Charme der AfD zu verstehen, muss man den Charme des universellen Nein begreifen. Es ist ein Nein zu den herrschenden Zuständen, zur eigenen Situation. Von Bürgern, die sich vom politisch-wirtschaftlichen System an den Rand gedrängt fühlen und die nicht angehört werden. Bei den Landtagswahlen im Mecklenburg-Vorpommern und Berlin gaben 70 % der AfD-Wähler an, sie hätten die Partei aus Enttäuschung über die anderen Parteien gewählt..…. Die AfD erntet die politischen Früchte der Ungleichheit im Land.“

So weit, so zufriedenstellend. Ab hier fängt es bei mir an zu grummeln.

Beginnend im AfD-Kapitel verarbeitet Hagelüken einige „Glaubenssätze“, die seinem Hauptberuf – Redakteur im Wirtschaftsressort der SZ – geschuldet sein dürften und über die ich stolpere, so zum Beispiel:

  • „Seit der Jahrtausendwende verzichteten die Arbeitnehmer auf nennenswerte Lohnsteigerungen“
  • „Griechen, Iren, Spanier, … haben jahrelang über ihre Verhältnisse gelebt“
  • „Addiert man die Zustimmung zu AfD und Linke, auch wenn die Parteien einiges unterscheidet, zeigt sich das Ausmaß des Protestes.“
  • Populisten stellen eine große Gefahr dar, weil sie die anderen Parteien beeinflussen: „der Streit um TTIP zeigt beispielhaft, was der Populismus zerstört. Ein solches Freihandelsabkommen zwischen den beiden größten Wirtschaftsblöcken der Welt bildet die Basis dafür, dass Unternehmen mehr exportieren können. Natürlich müssen Regierungen die Sorgen der Kritiker ernst nehmen und Europas Umwelt- und Sozialstandards verteidigen … Es wäre aber ein fataler Fehler, grundsätzlich auf ein Abkommen wie TTIP und auf mehr Freihandel zu verzichten. Es ist die Öffnung von Grenzen und Märkten seit Beginn der Industrialisierung im 19. Jahrhundert, die den Menschen im Westen einen historisch nie gekannten Wohlstand beschert hat. Die Globalisierung hält diesen Motor am Laufen – gerade in der Bundesrepublik.….“
  • „Linke und rechte Politiker in Europa und den USA wollen ausländische Waren an der Grenze aufhalten und neue Freihandelsverträge wie TTIP stoppen.“

Richtig ist: weder haben Arbeitnehmer auf Lohnsteigerungen verzichtet, sondern sie wurden durch die Agenda-2010-Politik von der europäischen Entwicklung bewusst abgehängt, noch haben die südeuropäischen Menschen über ihre Verhältnisse gelebt. AfD und Linke in einen Topf zu werfen, bedient die „Querfront“-Theoretiker und wenn Hagelüken verharmlosend das Hohelied auf Freihandelsabkommen singt, konterkariert er damit viele seiner vorherigen richtigen Analysen.

Ich habe trotzdem noch ein wenig weitergelesen, um mich von des Autors Lösungsansätzen überzeugen zu lassen: Vernünftige Erbschaftssteuer, Abschaffung des Ehegattensplittings, Einführung einer Vermögenssteuer, die „kalte Progression“ ausgleichen, also die Forderung, mittels Steuern umzusteuern, ist richtig, aber es ist keineswegs eine revolutionäre Forderung. Sie könnte aus einem Parteiprogramm der „Linken“ abgeschrieben sein. Überrascht hat mich allerdings, dass Hagelüken die Idee einer Beteiligung am Unternehmenskapital für die Beschäftigten propagiert. Ob Aktienbesitz aber der richtige Weg ist, darüber lässt sich vermutlich trefflich streiten.

Zwei Aussagen in den letzten Kapiteln machen mich einigermaßen sprachlos.

  • Zu einem Redakteur im Wirtschaftsressort einer großen Zeitung müsste zwischenzeitlich vorgedrungen sein, dass es nicht stimmt, wenn er schreibt: „zwar werden Kapitalerträge kaum besteuert, aber die bestverdienenden 10 % Einkommenssteuerzahler tragen die Hälfte des Aufkommens.“

    Richtig ist – und ich bin sicher, Hagelüken weiß das genau – dass es sich hier eben nur um die Hälfte der Einkommenssteuer handelt und nicht um die Hälfte des Gesamtsteueraufkommens. Eine Lüge, die penetrant verbreitet wird. In einem kritischen Buch über Ungleichheit darf sie nicht stehen.

  • Hagelüken erzählt zur Situation der heutigen und künftigen Rentner (auf den Seiten 158 ff) die Geschichten der „Initiative Neue Soziale Marktwirtschaft“. In Stichworten: Demografie (zu viele Rentner auf zu wenige Beitragszahler), notwendige Absenkung des Rentenniveaus, „Geschenke“ der Bundesregierung an die Rentnergeneration (Rente mit 63), Konflikt zwischen Beitragszahlern und Rentnern (Fixierung der Politik auf die heutige Seniorengeneration), jeder vierte Steuer-Euro fließt an Renten-, Kranken- und Vorsorgekassen, und so weiter. Die Aussagen, mit denen wir schon seit Einführung der Riesterrente manipuliert werden, scheint Hagelüken total verinnerlicht zu haben, wenn er schreibt: “nach dem Zweiten Weltkrieg war es gelungen, die Armut im Alter zu bannen, die die Deutschen jahrhundertelang erlitten hatten. Dieser Erfolg steht nun auf der Kippe, weil die Deutschen länger leben und weniger Kinder bekommen.“

Falls Herr Hagelüken bisher nicht verstanden hat, dass Produktivität Demografie schlägt und dass die Riesterrente nur ein gigantisches Programm zur Förderung der privaten Versicherungswirtschaft war, kann ihm geholfen werden und hier.

Mein Fazit:

Wer über viele Buchseiten hinweg die neoliberale Politik folgerichtig anprangert, um dann im letzten Drittel seines Buches zu offenbaren, dass er selbst entweder ein Opfer neoliberaler Propaganda oder mindestens ein Beschöniger neoliberaler Politik ist, dessen Buch mag ich nicht empfehlen. Schade eigentlich. Es hatte so gut begonnen mit uns beiden. Dem Buch und mir.

Bibliografische Angaben: Alexander Hagelüken: Das gespaltene Land. Wie Ungleichheit unsere Gesellschaft zerstört – und was die Politik ändern muss. 236 Seiten, 12,99 €. Erschienen bei Knaur, München.


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