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Titel: Zur Zukunft der Europäischen Union: Deutsche Debatten

Datum: 6. August 2017 um 11:30 Uhr
Rubrik: Aktuelles, Außen- und Sicherheitspolitik, Audio-Podcast, Europäische Union, Medien und Medienanalyse
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Zur Zukunft der Europäischen Union führen Politik und Leitmedien in Deutschland Diskurse über die Ursachen des Auseinanderdriftens der Staatengemeinschaft. Als Hauptursachen registriert und analysiert werden neoliberale Dominanz mit vor allem von der deutschen Regierung geprägter restriktiver Finanzpolitik, Globalisierungsängste mit Stärkung rechtspopulistischer bis rechtsextremistischer Kräfte, auch durch Versagen der Sozialdemokratie, sowie Umbruch internationaler Konstellationen. Zur Therapie werden Lösungen vorgeschlagen, die sich entweder bereits als wirkungslos erwiesen haben (Europa verschiedener Geschwindigkeiten/Kerneuropa) oder aber als Rückfall in die Zeiten des Kalten Krieges brandgefährlich sind (Militärische Stärke, sogar völkerrechtswidrig mit deutschen Atomwaffen). Notwendig sind jedoch mutige politische Entscheidungen, die sich endlich an die Beseitigung von Ursachen der Krisen in Europa und weltweit wagen. Ein dokumentarischer Beitrag[*] von Peter Munkelt.

Dieser Beitrag ist auch als Audio-Podcast verfügbar.

Situation

Der Präsident der Europäischen Kommission, Jean-Claude Juncker, zog im September 2016 in seiner jährlichen Rede vor dem Europäischen Parlament zur Lage der Union, unter dem Eindruck der Entscheidung Großbritanniens, die EU zu verlassen, diese Bilanz:

Lassen Sie uns eine ganz ehrliche Diagnose stellen. Unsere Europäische Union befindet sich – zumindest teilweise – in einer existenziellen Krise.
[Rede zur Lage der Union 2016, Luxemburg: Amt für Veröffentlichungen der Europäischen Union,
2016, S. 6]

Martin Schulz, Präsident des Europäischen Parlaments bis Januar 2017, warnte:

Ja, die EU kann scheitern. Wenn wir nicht aufpassen, fällt sie auseinander.2
[Interview mit der Frankfurter Allgemeinen Sonntagszeitung, 18.9.2016]

Nur vier Monate später ist für die Wochenzeitung DIE ZEIT aus der existenziellen Krise bereits ein Überlebenskampf geworden.
[Ulrich Ladurner: Der Brexit wird existenziell für die EU, Zeit Online, 17.1.2017; italienischer Journalist, arbeitet in Deutschland]

Verschärft habe sich die Lage durch den Glückwunsch Donald Trumps noch vor Amtsantritt für die Britten nach ihrer Entscheidung gegen die EU und seiner Prognose: Es werden weitere Länder austreten.4
[Interview mit Bild-Zeitung und The Times, Bild, 16.1.2017]

Die ZEIT dazu: Seitdem denken nicht wenige in Brüssel, dass Trump die EU zerstören will.
[Ulrich Ladumer: Der Brexit …]

Die Tageszeitung DIE WELT läutete bereits mit der Totenglocke:

Diese EU ist in Teilen dysfunktional und im Kern nicht mehr reformfähig. Sie hat ausgedient. Sie muss neu aufgebaut werden. Sie muss deutlich kleiner, effizienter und wettbewerbsorientierter werden.
[Christoph B. Schiltz: Diese EU hat ausgedient, Leitartikel, Die Welt, 3.2.2017; im Brüsseler Büro]

Joschka Fischer, Bundesaußenminister und Vizekanzler von 1998 bis 2005 in der Koalitionsregierung von SPD und Grünen, blickte bereits über Europa hinaus in einen globaleren Abgrund:

Europa (..) ist (…) viel zu schwach und zu zerrissen. Und so wird die westliche Welt, wie wir sie kannten, vor unseren Augen versinken.
[Joschka Fischer: Das Ende des Westens, Außenansicht, Süddeutsche Zeitung, 12.12.2016]

Beschrieben werden die Krisen von Medien, die öffentliche Diskussionen prägen, aber auch von Politikern sozusagen als Schicksalsschläge wie Naturgewalten:

In der Tat befindet sich die EU seit nunmehr acht Jahren im permanenten Krisenmodus – von der Euro- und Flüchtlingskrise über den Umgang mit Russland in der Ukraine und Syrien bis hin zum Brexit-Votum und den Verhandlungen über große Handelsverträge wie Ceta und TTIP.
[Oliver Geden, Nicolai von Ondarza: Jetzt gilt es für Europa, Zeit Online, 14.1.2017; Leiter und der Stellvertreter der Forschungsgruppe EU/Europa der Stiftung Wissenschaft und Politik (SWP), Berlin]

Jetzt fallen Kriege und Krisen mit der Tür ins Haus, erzeugen Völkerwanderungen
[Michael Stürmer: Illusionen von Sicherheit, Die Welt, 16.11.2016; Historiker und Journalist, 1980-86 außenpolitischer Berater von Bundeskanzler Helmut Kohl]

Sogar Politiker, trotz Gestaltungsmacht, präsentieren sich, als ob sie höheren Gewalten ausgesetzt seien:

„Krisen und Konflikte stürmen mit unheimlicher Dichte und Wucht auf uns ein. Das gilt mit Blick auf Syrien, Jemen, Libyen, Irak oder Afghanistan. Unruhig sind die Zeiten aber auch bei uns in Europa.
[Frank-Walter Steinmeier, Sebastian Kurz, Paolo Gentiloni: Eine starke OSZE für ein sicheres Europa, Fremde Federn, Frankfurter Allgemeine Zeitung, 7.12.2016; Außenminister Deutschlands, Österreichs und Italiens]

Bei solchen Deutungen können die Ursachen von Krisen und Konflikten im Nebel bleiben.

Dabei hat Steinmeier als Chef des Bundeskanzleramtes erlebt und wohl auch mitgeprägt, wie viel eigener Spielraum bei einer Entscheidung selbst des mächtigsten Verbündeten noch möglich bleibt, als Bundeskanzler Gerhard Schröder 2002/03 Nein zum völkerrechtswidrigen Irak-Krieg der USA mit Großbritannien samt ihrer „Koalition der Willigen“ sagte:

Es bleibt dabei: Deutschland beteiligt sich nicht an diesem Krieg. (…) Ich sagte, es ist eine falsche Entscheidung getroffen worden. Dies ist unsere Überzeugung, die klar ausgesprochen werden muss.
[Fernsehansprache am 20.3.2003, Bulletin der Bundesregierung, Nr. 25-1]

Selbstbewusste Außenpolitik bewies die Bundesregierung auch unter Außenminister Steinmeier, als sie bei den Auseinandersetzungen in der Ukraine die Führung im Konfliktmanagement übernahm.

Krisen fallen in der vermittelten Meinungsbildung nicht nur schicksalhaft vom Himmel, sie werden am liebsten mit nahezu tagesaktueller Deutung beschrieben und kommentiert. Dank solcher Verkürzung kann die Genese von Konflikten ausgeklammert, zumindest vernachlässigt werden.

Als weitere „Phänomene“ in der neueren Entwicklung der EU und Europas insgesamt werden nationalkonservative bis rechtspopulistische Wahlerfolge sowie Renationalisierung zu Lasten gemeinschaftlicher Politik der Union registriert.

Wichtiger als solche Phänomenologie der Symptome ist jedoch die Erforschung der Ursachen. Analysen haben als Hauptursachen neoliberale Dominanz, damit verbundene Sparpolitik und Globalisierungsängste, Versagen der Sozialdemokratie und Umbruch internationaler Konstellationen herausgearbeitet.

Ursache: Neoliberale Dominanz

Als eine der entscheidenden Ursachen für die ansteigende Krisenanfälligkeit von Wirtschaftsordnung, gesellschaftlichem Zusammenhalt, Demokratieverständnis,
Akzeptanz politischer und ökonomischer Eliten wird inzwischen die lang andauernde Vorherrschaft des Neoliberalismus gesehen. Diese Erkenntnis reicht bis in die höchsten Kreise einstiger Propagandisten neoliberaler Ideologie:

Brutstätten des sogenannten Neoliberalismus mutieren zu Zentren der Kapitalismuskritik. Wer hätte sich noch vor wenigen Jahren vorstellen können, dass der Internationale Währungsfonds, der für seine neoliberalen Sanierungsagenden vielfach kritisiert wurde, zu mehr Staatsverschuldung und Stimulierung der Nachfrage aufruft?
[Julian Nida-Rümelin: Ungleich ist nicht immer ungerecht, Frankfurter Allgemeine Zeitung, 19.12.2016; Professor für Philosophie und Politische Theorie an der Universität München, Kulturstaatssekretär im ersten Kabinett von Bundeskanzler Schröder]

Neoliberal war einmal, Immer mehr internationale Organisationen sorgen sich um die Ungleichheit, Eine Lösung: höhere Steuern für Reiche
[Süddeutsche Zeitung, 11.4.2017]

Aber nicht etwa Erkenntnisgewinn oder moralische Skrupel hätten diesen Umschwung bewirkt, sondern schlichtweg Angst:

Die Rechtspopulisten haben geschafft, was linken Politikern und Publizisten seit Jahren nicht gelungen ist: Die Elite debattiert über Ungleichheit. Nicht aus Anstand – sondern aus Angst. (…) Die Rechten verderben den Eliten den ganzen Spaß am Kapitalismus. Und auch wenn jetzt viel über die kulturellen Wurzeln der rechten Revolution gerätselt wird (…) in Wahrheit weiß jeder, dass die Ursachen auch ökonomische sind.
[Jakob Augstein: Debatte über Ungleichheit, Liberale Lügen, Kolumne, Spiegel Online, 29.12.2016]

Ursache: Sparpolitik

Deutschland gelang es, als stärkste ökonomische Kraft in der EU und in Europa insgesamt die finanzpolitische Richtung vorzugeben und teils brachial durchzusetzen.

Allerdings hat die Merkel-Regierung seit Anfang der Eurokrise derart massiv versucht, im Namen der „Wettbewerbsfähigkeit“ deutsche Vorstellungen im Rest Europas durchzusetzen, dass der deutsche Neoliberalismus noch radikaler erscheint – und damit nicht „weicher“ sondern sogar „härter“ – als der angelsächsische.
[Hans Kudnani: Der deutsche Neoliberalismus und die Krise Europas, Blätter für deutsche und internationale Politik, 9/2016, S. 75-84, hier S. 76; Journalist und Philosoph, Senior Transatlantic Fellow beim German Marshall Fund und Fellow am Institute for German Studies der Universität Birmingham]

Opfer sind vor allem südeuropäische Länder. Der Preis der aufgezwungenen rigorosen Sparvorschriften war für weite Teile der Bevölkerung hoch. Ihnen wurden sinkende Löhne, Rentenkürzungen, trotzdem steigende Abgaben aufgebürdet.

Die absehbaren Folgen:

Ohne Wiederherstellung monetärer Handlungsfähigkeit auf nationaler Ebene oder, alternativ, die Einwilligung des Nordens in eine Umverteilung zugunsten des Südens wird die Verwandlung des Mittelmeerraums in ein Armenhaus weitergehen, mit den sich längst abzeichnenden, die europäischen Völker katastrophal spaltenden Folgen. Ob „Europa“ dann schon tot sein oder noch im Koma liegen wird, wird dann niemanden mehr interessieren.
[Wolfgang Streeck: Wenn die EU untergeht, wird keiner weinen, ZEIT Online, 27.10.2016; Soziologe, bis 2014 Direktor des Max-Planck-Instituts für Gesellschaftsforschung in Köln]

Ursache: Globalisierungsängste

Hierzu eine Auswahl aus der Fülle jüngerer Bilanzen:

Dazu kommt die Globalisierung, die das Tempo erhöht und beruhigende Gewissheiten wie die lebenslange sozialversicherte Vollzeitstelle angreift, Ab der Jahrtausendwende verzichteten die Arbeitnehmer jahrelang auf nennenswerte Lohnsteigerungen. Sie feuerten so die Exporte an. (…) Dazu kam auch noch die Finanzkrise, die eine groteske Umverteilung manifestierte. Die Banken schütteten Milliarden an Boni für Geschäfte aus, deretwegen sie anschließend der Steuerzahler retten musste. Ökonomen beziffern die Kosten nur für den Bundeshaushalt allein in den ersten zwei Jahren auf 200 Milliarden Euro oder 2500 Euro pro Bürger.
[Alexander Hagelüken: Das gespaltene Land, Wie Ungleichheit unsere Gesellschaft zerstört – und was die Politik ändern muss, München: Knaur, 2017, S. 126; Leitender Redakteur der Süddeutschen Zeitung, für Wirtschaftspolitik zuständig]

Die Angst vor der Globalisierung spielt beim Erfolg von rechtspopulistischen Parteien in Europa (…) die entscheidende Rolle.
Zu diesem Ergebnis kommt eine Studie der Bertelsmann-Stiftung.
[Zeit Online, 30.11.2016]

Die Revolte der Abgehängten an den Wahlurnen wird anhalten. Die Verlierer der Globalisierung und mit ihnen viele, die dieses Schicksal fürchten, sie stellen die Systemfrage.
[Harald Schumann: Nur die Sozialdemokratie kann Europa vor den Nationalisten retten, Der Tagesspiegel, 26.11.2016; Redakteur dieser Zeitung und Autor]

Revolte gegen die Globalisierung
[Peter Bofinger: Entschädigt die Verlierer der Globalisierung!, Die Zeit, Nr. 51, 8.12.2016; Professor für Volkswirtschaftlehre an der Universität Würzburg, dienstältestes Mitglied des Sachverständigenrates zur Begutachtung der gesamtwirtschaftlichen Entwicklung]

Auf der ganzen Welt formieren sich die Abgehängten des globalen Kapitalismus zum Widerstand. Es ist die rechte Revolution, die diesem Widerstand eine politische Stimme gibt – eine Stimme der Wut und des Ressentiments.
[Jakob Augstein: SPD-Kanzlerkandidat Schulz, Und ob he can!, Spiegel Online, 9.2.2017; Journalist, Chefredakteur der Wochenzeitung der Freitag, Verleger, Autor]

Ursache: Versagen der Sozialdemokratie

Sozialdemokratische Parteien haben als angebliches Modernisierungskonzept ihre traditionellen Positionen aufgegeben. Sie wollten sich als „Neue Mitte“ neu aufstellen und einen „Dritten Weg“ zwischen neoliberaler und klassischer sozialdemokratischer Orientierung verfolgen. Hierzu legte Anfang Juni 1999 Bundeskanzler Gerhard Schröder, bald nach seinem Amtsantritt Ende 1998, ein gemeinsames Papier mit dem britischen Premierminister Tony Blair („New Labour“) vor, Titel: Der Weg nach vorne für Europas Sozialdemokraten/ Europe: The Third Way.

Die Auswirkungen:

Unter Blair und Schröder verwandelte sich die einstige Arbeiterpartei in eine Partei des Marktes. Es war die SPD, die in den 90er-Jahren die Finanzmärkte liberalisierte und den Hedgefonds den Weg bereitete. Die Sozialdemokraten senkten das Rentenniveau, erfanden die Riester-Rente und vermarktlichten so die Sozialpolitik. Vor allem aber schufen sie die Agenda 2010, welche die FAZ als „die größte Kürzung von Sozialleistungen seit 1949“ bezeichnete. Angesichts dieser Programmatik muss sich niemand fragen, warum es Rechtspopulisten gelingt, die Verdrossenen und Wütenden für eine Politik der Abschottung und des Sozialprotektionismus zu mobilisieren: Links gibt es einfach keine glaubwürdige und offensiv vertretene Perspektive.
[Catherine Hoffmann: Linke Politik, Aufwachen, bitte, Süddeutsche Zeitung, 30.12.2016; in der Wirtschaftsredaktion der SZ]

In einstigen sozialdemokratischen und von sonstigen linken Kräften dominierten Feldern wildern inzwischen autoritäre Nationalisten:

Der Antikapitalismus ist heimatlos geworden und hat in der Xenophobie (von der die Arbeiterbewegung niemals frei war) seinen Auslauf gefunden. Wenn die Sozialisten einen nicht vor der Globalisierungskonkurrenz bewahren, will man die „Ortsrente“ im reichen Europa mittels autoritärer Fremdenfeindlichkeit geschützt wissen.
[Claus Leggewie: Die neue Machtperspektive, Gastkommentar, Handelsblatt, 6.2.2017; Direktor des Kulturwissenschaftlichen Instituts (KWI) in Essen, Mitglied im Wissenschaftlichen Beirat der Bundesregierung Globale Umweltverbesserungen]

Ursache: Umbruch internationaler Konstellationen

Die Frankfurter Allgemeine Zeitung fasst zusammen, welche Bedrohungen die EU unter dem neuen amerikanischen Präsidenten zu erwarten hat:

Es ist eine Zeitenwende – für die Vereinigten Staaten, für ihre Partner und Freunde, für die Welt. Und diese Wende sieht so aus: Die Atlantische Allianz wird für obsolet erklärt – und gleichsam wird sie irgendwie, aber das bleibt unspezifiziert, für wichtig gehalten. Der Brexit wird bejubelt, die EU als Werkzeug der Deutschen bezeichnet und deren Gründung als eine Art Komplott interpretiert, um Amerika im Handel zu schlagen. Dass Trump eine ganz spezielle Interpretation von Freihandel hat, bekommen jetzt auch die Deutschen in Gestalt der deutschen Autobauer zu spüren: Produziert bei uns, oder es setzt Strafzölle! Der Boss straft, der Boss belohnt – ganz so wie im Feudalismus oder in autoritären Regimen.
[Klaus-Dieter Frankenberger: Zeitenwende in Amerika, Frankfurter Allgemeine Zeitung, FAZ.NET, 16.1.2017; verantwortlicher Redakteur für Außenpolitik]

Die Fäden für dieses Szenario würden längst in Moskau gezogen. Der neue Zar habe seine Marionette in der Hand, nachdem er ihn zum Wahltriumph verholfen hat:

Zwischen dem erstarkten Selbstbewusstsein Wladimir Putins als Trumps Mentor, der wachsenden Unberechenbarkeit der Türkei und der anhaltendenden Terrorgefahr auch aufgrund der Dauerkrise in der EU-Nachbarschaft, sitzt Europa in der Klemme. Spätesten seit Bekanntwerden der russischen Beeinflussungsversuche während der US-Wahlen und der Enthüllung der Existenz eines belastenden Trump-Dossiers, dämmert auch wohlwollenden Beobachtern, dass Trump ein Präsident von Putins Gnaden ist und weithin zu einer Marionette des Kremls verkommen könnte.
[Thomas Henökl: EU nach Trump und Brexit, Ground Zero des Multilateralismus, Cicero, Magazin für Politische Kultur, Newsletter, 19.1.2017; Senior Researcher am Deutschen Institut für Entwicklungspolitik (DIE) in Bonn und Associate Professor an der Universität von Agder, Kristiansand in Norwegen] 

Der Herausgeber der Frankfurter Allgemeinen Zeitung Berthold Kohler argwöhnt in einem Kommentar:

Präsident von Putins Gnaden? (…) Wenn es diese Operation tatsächlich gab (die nicht ohne Billigung von oberster Stelle möglich gewesen wäre), dann müssten die russischen Geheimdienstler ihrem Herrn, der anders als Trump vom Fach ist, untertänigst zu seinem Coup gratulieren: Der Kreml bekam den amerikanischen Präsidenten, den er sich wünschte
[FAZ.NET, 8.1.2017]

Bald nach Trumps Amtsübernahme warnte z.B. DIE WELT:

Der Beginn einer gefährlichen Freundschaft (…) Jetzt wächst aus dieser Seelenverwandtschaft eine Freundschaft, die dem Rest der Welt nichts Gutes verheißt.
[Julia Smirnova; Welt, N24.de, 29.1.2017; Korrespondentin]

Solcher Spekulations-Journalismus setzt Bausteine wie in einer „Verschwörungstheorie“. Diesen Kampfbegriff benutzen Leitmedien gerne gegen kritischen Journalismus. Diesmal verfangen sie sich offensichtlich im selbstgeknüpften Netz. Inzwischen werden Kampagnen von meinungsbildenden Medien gestartet, bevor Belege und Ergebnisse eingeleiteter Untersuchungen vorliegen. Mangels Faktenlage wird mit Fragezeichen gearbeitet. Diese Technik war einst der Boulevard-Presse vorbehalten, bis zu Vorverurteilungen. Die Schmierenkomödien in Serie des angeblich mächtigsten Mannes der Welt sollen nicht beschönigt und verteidigt werden. Offensichtlich färbt aber die Beschäftigung mit der Marionette auf die schreibenden Zünftlinge ab.

DIE ZEIT kommt bei den bisher bekannt gewordenen Fakten zu dem Ergebnis:

Der US-Präsident eine Marionette Moskaus? Belegen lässt sich dieser Vorwurf nicht. Doch seit den Hacks im Wahlkampf wird russischer Einfluss Stück für Stück sichtbarer. (…) Einen Beleg für eine unmittelbare Kooperation zwischen dem Team Trump und dem Kreml gibt es bisher nicht. Auch ist unklar, ob es direkte Kontakte zwischen Trump und der russischen Regierung während dessen Kandidatur gab.
[Heike Buchter: Wie viel Einfluss hat Russland auf Trump?, Zeit Online, 10.3.2017; Auslandskorrespondentin im Büro New York]

Reaktionen

Politik, Medien, Wissenschaft reagieren mit diversen Vorschlägen zur Zukunft der Europäischen Union und zur politischen Entwicklung in den Mitgliedsstaaten. Integrationsfortschritte der EU sollen in verschiedenen Geschwindigkeiten erfolgen, die selbsternannte Vorhut will als Kerneuropa agieren. Ein Rückzug der USA aus Europa soll mit eigener militärischer, sogar atomarer Stärke beantwortet werden.

Vorschlag: Verschiedene Geschwindigkeiten/Kerneuropa

Bundeskanzlerin Merkel spricht seit Ende Januar 2017 von verschiedenen oder unterschiedlichen Geschwindigkeiten beim Ausbau der EU. Aber

anders als Merkel suggeriert, ist die EU der verschiedenen Geschwindigkeiten nichts Neues. Immer wieder verständigten sich Staaten auf bedeutende Projekte, die nicht alle Mitglieder mittrugen. Das Schengener Abkommen ist so ein Fall und natürlich die Wirtschafts- und Währungsunion.
[Alexander Mühlauer: Europa, Tempo und Risiko, Süddeutsche Zeitung, 8.3.2017; Europa-Korrespondent dieser Zeitung in Brüssel]

Was in Europa also längst Realität ist, ist auch im politischen Diskurs in Deutschland nicht mehr originell. Der CDU-Europapolitiker Karl Lamers brauchte nur das Positionspapier hervor zu holen, das er im September 1994 mit Wolfgang Schäuble, damals Vorsitzender der CDU/CSU-Bundestagsfraktion, als Konzept eines Kerneuropas ausgearbeitet hatte:

Wenn eine Gruppe von Ländern, die mit einem ausreichenden Gewicht ausgestattet sind, eine gemeinsame Politik machen, dann engt sich der Spielraum der draußen stehenden ein und er hat, der Kern, eine magnetische Wirkung. Und das war die Idee, die Wolfgang Schäuble und ich vor nunmehr ja, ich glaube, 21 Jahren in die Welt gebracht haben. Und es gibt ja schon Ansätze dafür. Es gibt die verstärkte Zusammenarbeit, und wenn Sie so wollen, ist auch die Währungsunion eine solche Kerngruppe.
[Interview mit dem Deutschlandfunk, 7.2.2017]

Merkels angeblich aktueller Vorschlag überzeugt schließlich auch deshalb nicht, weil er im Widerspruch zu ihrer praktizierten Politik steht:

Die Kanzlerin hätte genug Zeit gehabt, die Vertiefung der Euro-Zone voranzutreiben. Sie hat es nicht getan. Merkel ist den Beweis schuldig geblieben, dass die Währungsunion, das Paradeprojekt eines Europas verschiedener Geschwindigkeiten, funktioniert. Nun will sie es bei anderen Themen versuchen: Migration, Sicherheit, Verteidigung.
[Alexander Mühlauer: Europa …]

Nach der Osterweiterung der EU ist dieser Plan vor allem den neuen Mitgliedern suspekt und bei ihnen diskreditiert:

Die Formel von den zwei Geschwindigkeiten ist mit der Vorstellung eines französisch-deutschen Motors der EU verbunden, auch mit einem „Kerneuropa“ (…) Als Frankreichs Präsident Jacques Chirac vor nun bald 15 Jahren die neuen EU-Mitglieder östlich Deutschlands einmal brüsk in die Schranken wies und verlangte, sie sollten erst einmal zuhören, statt Forderungen zu stellen – spätestens da war die Idee eines solchen Kerneuropas politisch tot.
[Torsten Krauel: Wie Merkel die EU zukunftsfähig machen will, Die Welt, welt.de, N 24, 9.2.2017; Chefkommentator]

Vor den Auswirkungen dieses Vorschlags wird sogar gewarnt:

Merkels Mantra von den unterschiedlichen Geschwindigkeiten ist daher keine Lösung, sondern eine Gefahr für die EU, die weiter auseinanderzudriften verspricht. Gerade kleinere Staaten empfinden Merkels Formel als Drohung.
[Alexander Mühlauer: Europa …]

Auch am Exempel Euro-Zone wird diese Debatte weiter forciert. Die für den Euro-Raum bereits reduzierte Gemeinschaft soll noch weiter schrumpfen.
So fordert z.B. der Chef des Ifo-Instituts, Clemens Fuest, den Austritt Italiens aus dem Euro.
[Interview mit Der Tagesspiegel, 2.1.2017]

Griechenland soll ebenfalls vor die Tür gesetzt werden, aber nicht ganz:

Wir müssen so schnell wie möglich einen Weg finden, wie wir Griechenland zwar in der EU und ihrer Solidargemeinschaft halten, aber aus der Eurozone hinaus begleiten.
[Alexander Graf Lambsdorff (FDP), Interview, Heilbronner Stimme, 7.2.2017; Vizepräsident des Europaparlaments]

Eine erfolgversprechendere Lösung haben US-Ökonomen bereits 2015 gefordert:

Prominente US-Ökonomen sehen im Austritt Deutschlands die einzige Chance für die nachhaltige Lösung der Euro-Krise. (…) Führende US-Ökonomen sehen nicht Griechenland, sondern Deutschland als das größte Problem der Euro-Zone. (…) Deutschland habe vom Euro am meisten profitiert und schaffe wegen seiner wirtschaftlichen Stärke ein Ungleichgewicht.
[Deutsche Wirtschafts Nachrichten, 19.7.2015]

Friedhelm Hengsbach, Jesuitenpater, Wirtschafts- und Sozialethiker, zieht zur Eurozone als Beispiel für eine EU der zwei Geschwindigkeiten diese vernichtende Bilanz:

Das Gerede von einem Europa zweier Geschwindigkeiten ist eine Kampfformel. Soll die eine Zone aufholen oder die andere noch schneller werden? Eine deutsch-französische Achse wirkt imperial und löst Widerstände aus. Die Eurozone als eine Art Kerneuropa schreckt ab, denn die sozialen Verwerfungen nehmen zu. Die Distanz zwischen denen, die drinnen und draußen sind, erzeugt Spannungen, daraus entsteht Rivalität und „Exit“. Spätestens dann erübrigen sich Integrations- oder Tempovergleiche.
[Europa ist eine Sozialunion, Beitrag, Frankfurter Rundschau, 25./26.3.2017]

Vorschlag: Militärische Stärke

Nach dem Ende des Kalten Krieges hat Deutschland seit 1989 seinen Wehretat von 2,7 % auf 1,2 % des Bruttoinlandsprodukts (BIP) reduziert. Während der „Ukraine-Krise“ wurde dann auf dem NATO-Gipfel in Wales am 5.9.2014 beschlossen

den Trend der rückläufigen Verteidigungshaushalte umzukehren, als Richtwert gilt 2 % des BIP.9
[Gipfelerklärung, 5.9.2014]

In Deutschland würde der Wehretat dafür von derzeit 37 Milliarden Euro auf 60 bis 70 Mrd. ansteigen müssen. In der Bundesregierung gibt es teils Widerstand gegen diese Vorgabe, so von Außenminister Sigmar Gabriel:

Aber bei allem Respekt vor dem 2%-Ziel, eines der Länder, die es in Europa erreicht haben, ist Griechenland. Ob es aber eine besonders kluge Idee ist, 2% vom Bruttoinlandsprodukt von Griechenland für die Verteidigung einzusetzen, während man gleichzeitig die Renten nicht auszahlen kann, und ob dies zu mehr Stabilität in Griechenland führt, darüber sollte man einmal nachdenken.
[Rede auf der 53. Münchner Sicherheitskonferenz, 18.2.2017, auswaertiges-amt.de]

Höhere Militärausgaben stehen jedoch längst auf der Agenda der Bundesregierung. Nach dem Sondergipfel der Staats- und Regierungschefs am 3. Februar 2017 auf Malta bekräftigt Bundeskanzlerin Merkel:

Die EU – und auch Deutschland – muss mehr in seine Verteidigungsfähigkeit investieren
[Die Welt, welt.de, N24, 3.2.2017]

Gegenüber 2016 wurde der Verteidigungshaushalt um 2,7 Mrd. Euro angehoben, eine Steigerung von acht Prozent. Der Bundeshaushalt insgesamt soll nicht einmal halb so hoch (+ 3,7 %) ansteigen.

Verteidigungsministerin Ursula von der Leyen will mehr, bis zur vollständigen Erfüllung, und antwortet den USA:

Wir haben verstanden
Der Nato-Indikator von zwei Prozent des Bruttoinlandsproduktes ist und bleibt eine wesentliche Zielgröße. Wir wissen, dass vor diesem Hintergrund ein Anstieg in Richtung des beim Nato-Gipfel in Wales neu bestätigten Richtwertes in den nächsten Jahren nötig ist. Wir haben den festen Willen, dies stufenweise zu erreichen.
[Gastbeitrag in der Süddeutschen Zeitung, SZ.de, 15.2.2017]

Warum eigentlich der neuen US-Administration nachgeben, Trump hat die Nato doch für obsolet erklärt? Leitmedien reagieren da konsequenter. Dann müsse eben die EU militärisch so stark werden, bis beide Supermächte Respekt bekommen:

Die Zeiten, in denen sich die USA darum kümmerten, sind wohl vorbei. Putin oder Trump werden nur eine EU respektieren, die sich wehren kann. Alleine können das Dänen, Litauer oder Deutsche nicht. Daher sollten möglichst viele EU-Staaten eine gemeinsame Verteidigung aufbauen, die einen Ausfall der Nato ausgleichen könnte.
[Stefan Ulrich: Selbstbehauptung, Europa muss in den Kampfmodus schalten, Süddeutsche Zeitung, SZ.de, 29.1.2017; stellvertretender Leiter Außenpolitik der SZ]

Das Handelsblatt sieht das Ende einer Ära gekommen:

Das Vierteljahrhundert der Abrüstung seit dem Mauerfall ist endgültig vorbei. (…) Eine breite gesellschaftliche Debatte ist überfällig: Wie viel Aufrüstung braucht Deutschland? Welche Rolle spielt die Bundeswehr für eine wehrhafte Demokratie? Wohin dürfen welche Waffen exportiert werden? Welche Wertschätzung genießen Soldaten und Mitarbeiter der Rüstungsindustrie?
[Donata Riedel: Vom Ende einer Ära, Leitartikel, Handelsblatt, 16.11.2016; Redakteurin im Berliner Hauptstadt-Büro]

Selbst die atomare Bewaffnung der Bundeswehr ist kein Tabu mehr. So denkt der Herausgeber der Frankfurter Allgemeinen Zeitung sogar Das ganz und gar Undenkbare:

Wenn Trump bei seiner Linie bleibt, dann wird Amerika die Verteidigung Europas in einem Maße den Europäern überlassen, das sie seit 1945 nicht mehr kennen. Das wäre so widernatürlich nicht, für viele Europäer aber dennoch eine Zumutung, weil damit unangenehme Folgen verbunden wären, denen man unter dem oft verteufelten, aber bequemen amerikanischen Schutzschirm ausweichen konnte: höhere Ausgaben für die Verteidigung, die Wiederbelebung der Wehrpflicht, das Ziehen roter Linien – und das für deutsche Hirne ganz und gar Undenkbare, die Frage einer eigenen nuklearen Abschreckungsfähigkeit, welche die Zweifel an Amerikas Garantien ausgleichen könnte. Die französischen und britischen Arsenale sind dafür in ihrem gegenwärtigen Zustand zu schwach. Moskau aber rüstet auf.
[Berthold Kohler: Das ganz und gar Undenkbare, Frankfurter Allgemeine Zeitung, FAZ.NET, 27.11.2016]

Im Fernsehen werden allzu scheuen deutschen Hirnen nicht wenige Experten vorgeführt, allerdings alle namenlos, bis auf einen CDU-Sicherheitsexperten und ehemaligen Generalstabsoffizier der Bundeswehr:

Nicht wenige Experten fordern in dieser Situation eine Debatte über die Frage: Was tun, wenn Trump den nuklearen Schutz aufkündigt? Wenn Trump die Atomwaffen aus Europa abzieht? Dann wäre Deutschland atomwaffenfrei. (…) Die offene Debatte scheut die Politik bisher weitgehend – auch über eine deutsche Atombombe. Die ist wohl technisch möglich, aber aufgrund vieler Verträge wie dem Atomwaffensperrvertrag momentan nicht erlaubt.
[Robert Bongen, Johannes Jolmes, Volker Steinhoff: Donald Trump und US-Atombomben in Deutschland, ARD, Erstes Deutsches Fernsehen, Sendung Panorama, 2.2.2017]

Nur momentan nicht erlaubt? Pacta sunt servanda, Verträge müssen eingehalten werden, bekräftigte einst sogar Franz Josef Strauß, CSU-Vorsitzender, Ministerpräsident Bayerns, schärfster Gegner der Ostverträge Willy Brandts, nachdem die Verträge unter Dach und Fach waren.

Dieser neue Leichtsinn im Umgang mit dem langwierig und schwierig ausgehandelten Sperrvertrag spielt mit dem atomaren Feuer:

Außer Frankreich und Großbritannien haben alle anderen europäischen Staaten für immer völkerrechtlich verbindlich auf den Besitz von Atomwaffen im Rahmen des Nuklearen Nichtverbreitungsvertrags (NVV) verzichtet. Ein Ausstieg aus dem Vertrag würde womöglich zu einem weltweiten nuklearen Wettrüsten führen. Eine solche atomare Weiterverbreitung widerspricht aber europäischen Sicherheitsinteressen, wie sie zu recht seit vielen Jahrzehnten formuliert wurden.
[Oliver Thränert: Größter anzunehmender Umfall, Weshalb ein europäischer Atomschirm keine Option sein darf, IPG, Internationale Politik und Gesellschaft, 14.3.2017; Leiter des Think Tank am Center for Security Policy der ETH Zürich und Non-Resident Senior Fellow der Stiftung Wissenschaft und Politik in Berlin]

Die Bild-Zeitung bringt Schwung in die Diskussion:

Bekommt Deutschland eigene Atomwaffen? Die Welt ändert sich rasant – und plötzlich wird diskutiert, ob Deutschland zum besseren Schutz eigene Atomwaffen besitzen sollte!

Liest man weiter, fragt man sich nach dem Sinn der zuspitzenden Überschrift:

Auf BILD-Anfrage erklärte Vize-Regierungssprecherin Ulrike Demmer: „Es gibt keine Pläne zur atomaren Aufrüstung unter Beteiligung der Bundesregierung in Europa.“ (…) Eine atomare Aufrüstung Europas oder gar Deutschlands halten auch Militär-Strategen für „nicht erstrebenswert“. Ex-Nato-General Hans-Lothar Domröse: „Damit würden wir die Büchse der Pandora öffnen.“ Ex-Kanzlerberater Horst Teltschik: „Das ist die völlig falsche Antwort.“ Ex-Botschafter Wolfgang Ischinger: „Der Griff nach Nuklearwaffen wäre für Deutschland ein schwerer Völkerrechtsbruch.“

Dreimal Ex- vermittelt den Eindruck: Durchweg Reaktionen von Gestrigen, aber Die Welt ändert sich rasant. Zwar leitet Ischinger seit 2008 bis heute die Münchner Sicherheitskonferenz, das weltweit größte sicherheitspolitische Treffen überhaupt, als „Ex-Botschafter“ passt er jedoch besser ins Bild.
[Bild-Zeitung, 9.2.2017]

Die ZEIT startete eine Befragung ihrer Leserschaft:

Braucht Deutschland eigene Atomwaffen? (…) Was meinen Sie? (…) Ja Nein
[zeit.de/serie/procontra, 5.4.2017)

Von dominierenden Medien den Boden bereitet, hat die Frage eigener Atomwaffen für Deutschland den Bundestag erreicht. Der CDU-Abgeordnete und ehemalige Generalstabsoffizier Roderich Kiesewetter, Obmann der CDU/CSU-Bundestagsfraktion im Auswärtigen Ausschuss beauftragte bereits im letzten Jahr den Wissenschaftlichen Dienst des Bundestages die völkerrechtlichen Verpflichtungen Deutschlands beim Umgang mit Kernwaffen zu prüfen. Insbesondere interessierte ihn offenbar, ob eine „Ko-Finanzierung ausländischer Nuklearwaffenpotentiale durch Deutschland“ möglich sei (…) man darf dennoch vermuten, dass Kiesewetter auch hier nicht isoliert handelt, sondern man in Unionskreisen nach dem Brexit und mit Trump über deutsche und europäische Alternativen zur Nato nachdenkt, Atomwaffen inklusive.
[Florian Rötzel: Darf Deutschland legal Atomwaffen besitzen oder bauen?, Telepolis, 7.7.2017

Inzwischen werden auch positive Aspekte des Kalten Krieges herausgestellt:

Der Kalte Krieg war, jedenfalls im zweiten Akt nach Berlin- und Kubakrise, besser als sein Ruf. Er war global, nuklear und bipolar und ließ sich einhegen in Verträgen und eingeübten Umgangsformen.10
[Michael Stürmer: Wendezeiten der Geschichte, Die Welt, 16.1.2017]

Nach dem Ende des Kalten Krieges und dem Zusammenbruch der Sowjetunion schien sicherheitspolitisch eine neue Ära angebrochen zu sein. Als das östliche Militärbündnis, der Warschauer Pakt, 1991 aufgelöst war, gab es Bestrebungen, im Westen gleich zu ziehen und auch die Nato durch Sicherheitsstrukturen abzulösen, mit denen die alte Ost-West-Trennung überwunden werden sollte, sogar bis zum Beitritt Russlands in die Nato.

So beschloss z. B. die SPD im 1989 verabschiedeten Grundsatzprogramm:

Unser Ziel ist es, die Militärbündnisse durch eine europäische Friedensordnung abzulösen. Bis dahin findet die Bundesrepublik Deutschland das ihr erreichbare Maß an Sicherheit im Atlantischen Bündnis, vorausgesetzt, sie kann ihre eigenen Sicherheitsinteressen dort einbringen und durchsetzen, auch ihr Interesse an gemeinsamer Sicherheit. Der Umbruch in Osteuropa verringert die militärische und erhöht die politische Bedeutung und weist ihnen eine neue Funktion zu: Sie müssen, bei Wahrung der Stabilität, ihre Auflösung und den Übergang zu einer europäischen Friedensordnung organisieren.
[Grundsatzprogramm der Sozialdemokratischen Partei Deutschlands, beschlossen vom Programm-Parteitag am 20.12.1989 in Berlin, S. 12-13]

Von diesem Ziel ist im nächsten, heute noch gültigen Grundsatzprogramm von 2007 keine Rede mehr. Stattdessen will die SPD die transatlantische Partnerschaft erneuern. Deutschland, Europa und die Vereinigten Staaten von Amerika teilen gemeinsame Werte. Auf dieser Grundlage arbeiten sie auch in der NATO eng zusammen.
[Hamburger Programm, Grundsatzprogramm der Sozialdemokratischen Partei Deutschlands,beschlossen am 28.10.2007, S. 21]

Ausblick

72 Jahre nach dem nicht allein Europa zerstörenden Krieg, mit Millionen Toten, Verwundeten, aus ihrer Heimat Vertriebenen schwindet in beängstigendem Ausmaß die von Willy Brandt auf den Punkt gebrachte Gewissheit: Frieden ist nicht alles, aber ohne Frieden ist alles nichts.
Immer unverhohlener wird wieder mit Waffen geklirrt. Nur verbale Eskalation, die Waffen dagegen sollen in den Arsenalen bleiben? Darüber wunderte sich Donald Trump schon, bevor er Präsident wurde:

Wenn wir Atomwaffen haben, warum setzen wir sie nicht ein?
[Zitiert u. a. von Frankfurter Allgemeine Zeitung, 3.8.2016]

Nach einem solchen Einsatz dürfte es kaum erneut eine Gelegenheit geben, sich in gehörigem Abstand zum bewaffneten Kräftemessen wieder mal die Hand zur Versöhnung zu reichen, wie 1984 Bundeskanzler Kohl auf dem Schlachtfeld des Ersten Weltkrieges in Verdun mit dem französischen Staatspräsidenten Mitterand oder zum 70. Jahrestag der Schlacht in Stalingrad 2015 der damalige Bundesaußenminister Steinmeier.

Entwicklungen in mehreren Mitgliedsstaaten können die EU in einen Zustand versetzen, in dem das Bündnis als Garantiemacht für friedliche Konfliktlösungen endgültig ausgedient hat:

Wenn die Nationalismen in ganz Europa wieder Raum gewinnen – dann wird Europa zurückgeschoben in eine ungute Vergangenheit, in eine Viel- und Kleinstaaterei, in ein Nebeneinander und Gegeneinander.
[Heribert Prantl: Warum man Europa lieben muss, IPG, Internationale Politik und Gesellschaft, 7.3.2017; Mitglied der Chefredaktion der Süddeutschen Zeitung und Leiter des Ressorts Innenpolitik]

Die im Mainstream diskutierten Vorschläge zur Zukunft der Europäischen Union würden die Gemeinschaft weiter und tiefer spalten. Auch der Ausbau zur militärischen Festung wäre ein Rückfall in Zeiten vor dem Einigungswerk. Die EU erhielt 2012 den Friedensnobelpreis für ihren erfolgreichen Kampf für Frieden und Versöhnung und für Demokratie sowie die Menschenrechte; die stabilisierende Rolle der EU bei der Verwandlung Europas von einem Kontinent der Kriege zu einem des Friedens.

Militärische Aufrüstung würde zudem Unsummen verschlingen, Geld, das innerhalb der EU sehr viel erfolgreicher zur Lösung der dringendsten Probleme eigesetzt werden muss, gegen Auseinanderfallen im ökonomischen und sozialen Bereich und nach außen hin in den Entwicklungsbeziehungen im Kampf gegen Verelendung, Hauptursache für Konflikte und Fluchtbewegungen.

Nur ein Kurswechsel zu einer Politik, die sich an die Ursachen dieser Fehlentwicklungen und Rückschläge heranwagt, wird die EU und Europa insgesamt auf einen besseren Weg für die Zukunft bringen können.


[«*] Aktualisierte Fassung des Ende Mai abgeschlossenen, im Herbst in den Krakauer Internationalen Studien erscheinenden Beitrags


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