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Titel: Kinderarmut: „Man ist kurzzeitig schockiert und geht dann wieder zur Tagesordnung über“

Datum: 1. November 2017 um 9:00 Uhr
Rubrik: Aktuelles, Audio-Podcast, Interviews, Kampagnen / Tarnworte / Neusprech, Medienkritik, Soziale Gerechtigkeit, Ungleichheit, Armut, Reichtum
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Lars Schäfer

Wie lässt sich Kinderarmut bekämpfen? „Man müsste die stärker belasten, die mehr haben, um es denen zu geben, die weniger haben und so mehr sozialen Ausgleich schaffen. Das wollen aber bei weitem nicht alle in Deutschland.“ Das sagt Lars Schäfer, Fachreferent Armut und Grundsicherung beim Paritätischen Wohlfahrtsverband in Nordrhein-Westfalen. Die NachDenkSeiten haben mit ihm und Martin Debener, der ebenfalls als Fachreferent für Armut und Grundsicherung beim Paritätischen in Nordrhein-Westfalen arbeitet, ein Interview zum Thema Kinderarmut geführt. Sie stellen fest, dass viele Menschen in diesem Land mit dem Dauerproblem Kinderarmut erst gar nicht konfrontiert werden möchten und fordern eine Aufnahme der Kinderrechte ins Grundgesetz. Das Interview führte Marcus Klöckner.

Dieser Beitrag ist auch als Audio-Podcast verfügbar.

Herr Debener, gerade hat die Bertelsmann-Stiftung eine Studie zur Kinderarmut in Deutschland veröffentlicht. Wieder einmal ein Befund, der tief blicken lässt, oder?

Martin Debener: Ja, natürlich. Der Befund zeigt wieder einmal, welch drängendes Problem die Kinderarmut in einem reichen Land wie Deutschland weiterhin ist. Allerdings ist es auch nicht die erste Publikation, die das verdeutlicht. Viel Neues steht in der aktuellen Studie nicht drin. Die Problematik Kinderarmut ist schließlich seit vielen Jahren bekannt.

Jörg Dräger vom Vorstand der Bertelsmann-Stiftung wird mit folgenden Worten zitiert: „Kinderarmut ist in Deutschland ein Dauerzustand. Wer einmal arm ist, bleibt lange arm. Zu wenige Familien können sich aus Armut befreien.“
Das ist alles andere als eine neue Erkenntnis.

Debener: Auch wenn die Erkenntnis nicht neu ist, ist es dennoch wichtig, immer wieder darauf hinzuweisen. Von Chancengerechtigkeit kann man in Deutschland weiterhin nicht sprechen. Kinder von Eltern unterer Einkommensschichten haben deutlich geringere Chancen eine erfolgreiche Bildungslaufbahn zu absolvieren als Kinder von Eltern oberer Einkommensschichten. Solange das so bleibt, vererben viele Eltern ihre Armut an ihre Kinder weiter.

Wie nehmen Sie denn das Thema Kinderarmut in der Medienberichterstattung und in der öffentlichen Diskussion wahr? Ist die Berichterstattung und die Diskussion dem Thema angemessen?

Debener: Das Thema taucht immer wieder auf und verschwindet dann aber auch schnell wieder. Man ist kurzzeitig schockiert und geht dann wieder zur Tagesordnung über. Es ist ja auch nicht schön für die Gesellschaft, dass es dieses Dauerproblem gibt. Viele wollen mit diesem Thema am liebsten gar nicht konfrontiert werden. Das erinnert sie nämlich daran, dass man hier eigentlich etwas tun müsste.

Wie erklären Sie sich, dass über Kinderarmut immer nur halbherzig geredet wird?

Lars Schäfer: Zum einen liegt es daran, weil das Thema sehr vielschichtig ist und es folglich auch keine einfachen Lösungen gibt. Es ist zwar kein kompliziertes Thema – Raketentechnik ist kompliziert – aber dafür ist es sehr komplex, d.h., man muss viele Bereiche berücksichtigen und sich mit ihnen beschäftigen, die alle das Thema Kinderarmut tangieren. So geht es bei der Kinderarmut unter anderem um die Bereiche Bildung, Gesundheit, Wohnen und soziale Teilhabe. Diese einzelnen Bereiche sind schon sehr komplex und oft auch nicht klar definiert. Man kann sich sehr gut darüber streiten, was zum Beispiel der Begriff „Teilhabe“ bedeutet.
Zum anderen würde eine ernsthafte Auseinandersetzung mit dem Thema jedoch auch noch etwas anderes bedeuten: Man müsste Geld in die Hand nehmen, das dann womöglich an anderer Stelle fehlt. Oder noch „schlimmer“: Man müsste die stärker belasten, die mehr haben, um es denen zu geben, die weniger haben und so mehr sozialen Ausgleich schaffen. Das wollen aber bei weitem nicht alle in Deutschland.

Wie sehen die Zahlen des Paritätischen in Sachen Kinderarmut aus? Decken die sich mit denen der Bertelsmann-Studie?

Lars Schäfer: Ja, die Zahlen decken sich. Nahezu alle Studien zeigen seit Jahren in dieselbe Richtung, egal von wo sie kommen. Man muss es deutlich sagen: Wir haben hier kein Erkenntnisdefizit, sondern eines im Handeln.

Martin Debener

Das sind alles Zahlen. Was heißt denn Kinderarmut konkret im täglichen Leben dieser Kinder? Wie stellen sich die Lebenssituationen der Kinder dar, die in Armut leben?

Debener: Ein Beispiel: Gerade hat die Bundesnetzagentur veröffentlicht, dass im Laufe des letzten Jahres 330.000 Haushalten der Strom abgeklemmt wurde. Stellen wir uns die Kinder in diesen Haushalten vor und fragen zum Beispiel, wie sie ihre Hausaufgaben machen sollen ohne Licht. Ein weiteres Beispiel: Der Kindergeburtstag des Klassenkameraden steht an und das Kind kann nicht hingehen, weil sich die Eltern das Geschenk nicht leisten können. Kinder trifft besonders die soziale Ausgrenzung, die mit fehlendem Geld der Eltern oft einhergeht.

Mit welchen Problemen sind diese Kinder noch konfrontiert?

Schäfer: Mit vielen. Nehmen wir zum Beispiel das Bildungs- und Teilhabepaket. Das ist ein bürokratisches Monstrum, das unfassbare Summen für die Verwaltung verschlingt. Wenn die Eltern es geschafft haben, die schwierige Beantragung zu meistern, bleiben immer noch die Fragen offen, wie die sozialen und kulturellen Angebote mitunter erreicht werden sollen – Stichwort kostengünstiger öffentlicher Nahverkehr – und wie die mit vielen Angeboten verbundenen Folgekosten – z.B. die notwendigen Fußballschuhe – finanziert werden sollen. Am Ende guckt mal wieder das Kind in die Röhre und kann nicht teilhaben. Arme Kinder sind von vielen Aktivitäten ausgeschlossen, die für andere Kinder selbstverständlich sind. Dazu werden sie in der Schule von vielen Lehrern benachteiligt, die ihnen weniger zutrauen als Kindern aus Familien, die mehr Geld zur Verfügung haben. Das ist die unfaire, traurige Realität für viele arme Kinder.

In der Diskussion um Armut ist bisweilen zu hören, dass mehr Geld für die Armen nicht die einzige Lösung sein kann. So richtig sicherlich ist, dass Geld nicht alles ist: Aber ohne eine tatsächlich ausreichende ökonomische Basis sind andere Maßnahmen auch nichts. Wie sehen Sie das?

Debener: Genau so ist es. Beispiel Mithaftung. In einer Hartz-IV-Familie lebt eine 16-jährige Tochter und ihr 20-jähriger Bruder. Der Bruder versäumt mehrere Termine im Jobcenter und bekommt alle Leistungen (inkl. Mietanteil) gestrichen. Natürlich setzen die Eltern ihn meistens trotzdem nicht vor die Tür. Unter dem Druck, der in dieser Familie herrscht, leiden auch die Bildungschancen der Tochter. Und machen wir uns nichts vor: Geld bestimmt an ganz vielen Stellen in unserer Gesellschaft darüber, ob ein Zugang besteht oder nicht. Um eine alte Weisheit zu paraphrasieren: Geld ist nicht alles, aber ohne Geld ist sicherlich vieles nichts.

Wenn wir über Armut reden, scheint es viele tieferliegende Probleme zu geben. Ein großes Problem ist, von welchen Bildern und Vorstellungen die Diskussion über Armut geprägt ist.
Wir haben eine Situation, in der eine Spaltung der Gesellschaft erzeugt wurde. Mit den Armen will sich kaum einer solidarisieren. Im Gegenteil: Manch einer scheint das Bisschen, das Ihnen von staatlicher Seite zur Verfügung gestellt wird, sogar noch zu neiden. Was läuft in der Wahrnehmung der Armen und des Armutsproblems in diesem Land falsch?

Schäfer: Viele in Deutschland haben sich an die urbane Sozialfigur des Flaschensammlers bereits gewöhnt. Arm ist aber nicht nur, wer Flaschen sammelt. Armut findet ganz oft im Verborgenen statt. Etwa jeder Vierte, der Anspruch auf eine Sozialleistung hätte, nimmt diesen Anspruch aus Unwissenheit oder Scham nicht wahr. Aber darüber wird in der Öffentlichkeit kaum gesprochen. Vielmehr wird über die wenigen „Florida-Rolfs“ berichtet, die sich in der angeblichen „sozialen Hängematte“ ausruhen. Das sind im Vergleich zu den oben genannten jedoch eine verschwindend geringe Anzahl. Eine solche Berichterstattung schürt natürlich Neid und Wut. Viele sagen dann: Schau mal, der kriegt Geld fürs Nichtstun und lässt es sich gutgehen und ich muss mich abrackern. Das hat zwar mit der Wahrheit meist nichts zu tun, aber das interessiert dann nicht. Zudem ist es politisch ja auch lange Zeit ganz angenehm gewesen, dass viele Menschen aus der (unteren) Mittelschicht immer nur auf „die da unten“ geguckt haben und Angst hatten, dass die ihnen was wegnehmen. Solange gucken die nämlich nicht auf „die da oben“, wo sich der wirkliche Reichtum befindet. Eine Folge davon konnten wir gerade erst beobachten: In der Flüchtlingskrise haben viele Menschen mit wenig Einkommen denen Leistungen geneidet, die überhaupt nichts haben, nämlich den Flüchtlingen. Aber wenn man jahrelang quasi dazu erzogen wird, verinnerlichen die Leute das mit der Zeit. Und dann sind auf einmal alle überrascht, dass auch viele arme Menschen gegen Flüchtlinge hetzen und AfD wählen.

Wie nehmen Sie denn die Rolle der Medien wahr? Haben Medien mit zu dieser Spaltung beigetragen?

Schäfer: Selbstverständlich. Eine Geschichte über die „Florida-Rolfs“ ruft halt viele – vor allem negative – Gefühle wach und wird daher auch gerne von den Medien erzählt. Die Meldung, dass viele Menschen ihren Anspruch auf Sozialleistungen nicht wahrnehmen, obwohl sie einen hätten, ist dagegen ziemlich unspannend. Dennoch bleibt es die eigentlich wichtigere Nachricht und die Medien sollten ihr viel mehr Aufmerksamkeit widmen. Auch über Reichtum wird in den Medien relativ wenig gesprochen – mal abgesehen von irgendwelchen Boulevardmagazinen, die irgendwelche neureichen Proleten porträtieren. Aber wo Armut ist, gibt es auf der anderen Seite auch immer viel Reichtum. Wo ist er und was wird damit gemacht? Wenn die Leute darüber mehr wüssten, wären viele sicher auch eher bereit, dass große Einkommen und Vermögen stärker herangezogen werden, um zu mehr sozialem Ausgleich in Deutschland zu kommen. Hierzu könnte eine kritische Berichterstattung der Medien durchaus beitragen.

Zur politischen Ebene. Die SPD hat in ihrem Wahlkampf versucht, sich als Partei zu inszenieren, die auf soziale Gerechtigkeit setzt. Wie sieht denn der Realitätscheck von Ihrer Seite aus?
Erinnert sei an den Vorstoß von Andrea Nahles vom vergangenen Jahr, wonach Kindern aus einem Hartz-IV-Haushalt Geld gekürzt werden sollte, wenn Sie sich für eine gewisse Zeit bei einem anderen Elternteil aufhalten. Das Vorhaben wurde dann doch nicht umgesetzt, aber spricht es nicht Bände, dass verantwortliche Politiker und Mitarbeiter in Ministerien überhaupt solche Pläne ausarbeiten?

Debener: Es gibt auch weitere Beispiele. Thema Rente. Die kleinen Renten sollen verbessert werden, schrieben mehrere Parteien in ihre Programme. Was ist denn eine kleine Rente, habe ich dann immer gefragt? 300-600 Euro sagten viele. Bei Renten in diesem Bereich ist es aber so, dass ihnen jede Rentenerhöhungen von der Grundsicherungsleistung wieder abgezogen wird. Das ist das Spiel rechte Tasche, linke Tasche. Von einer Rentenerhöhung hätten alle diese Menschen faktisch nichts.

Was muss getan werden, um der Kinderarmut entgegenzutreten?

Debener: Wir fordern eine Kindergrundsicherung, in der die verschiedenen Leistungen für Kinder zusammengefasst werden. Zudem braucht es eine tatsächliche Lernmittelfreiheit, mehr Chancengerechtigkeit in der Bildung, tatsächliche Teilhabe an Sport und Kultur.

Was noch?

Debener: Öffentliche Aufmerksamkeit für Kinder könnte zum Beispiel entstehen, wenn die Kinderrechte ins Grundgesetz aufgenommen würden. Dann müssten Gerichte mitentscheiden, was angemessene Beteiligung von Kindern in unserer Gesellschaft ist.


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