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Titel: Attentat auf Lula, 126 ermordete Sozialaktivisten, Androhung eines Militärputschs – Warum verhängt die EU eigentlich keine Sanktionen gegen Brasilien?

Datum: 4. April 2018 um 15:05 Uhr
Rubrik: Erosion der Demokratie, Innere Sicherheit, Länderberichte, Rechte Gefahr, Wahlen
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Brasilien steht am heutigen 4. April unter politischer Hochspannung. Der Oberste Gerichtshof (STF) will den Habeas-Corpus-Antrag der Verteidiger von Altpräsident und erneut favorisiertem Präsidentschaftskandidaten Luis Inácio Lula da Silva prüfen. Wie die Nachdenkseiten am vergangenen 21. Februar berichteten, besteht im STF Uneinigkeit über die Rechtsklausel der unverzüglichen Haftprüfung, die Lulas Freiheit sichern soll. Ein Bericht von Frederico Füllgraf.

Am Montag, dem 2. April, demonstrierten einige hundert Staatsanwälte und Richter – allen voran der in den USA ausgebildete FBI-Kontaktmann im „Unternehmen Waschanlage“ und religiös motivierte Hauptankläger gegen den ehemaligen Staatschef, Deltan Dallagnol – vor dem hohen Gericht und händigten der Vorsitzenden, Richterin Carmen Lúcia Antunes Rocha, ein „Manifest“ aus, in dem sie die Einhaltung des zweitinstanzlichen STF-Beschlusses von 2016 mit der sofortigen Verhaftung Lulas fordern.

Weite Teile der brasilianischen Öffentlichkeit werteten den Druck auf den STF als unverfrorene Nötigung. Nicht so Vorsitzende Carmen Lúcia, die Tage zuvor selbst eine Abordnung der bereits 2014 in die Aufmärsche gegen Präsidentin Dilma Rousseff involvierten rechtsradikalen Aktivistengruppe Vem p´ra Rua („Komm auf die Straße“) mit der gleichen Forderung empfangen hatte. Über die umstrittene republikanische Sittlichkeit der Vorsitzenden – die mit einem überheblichen Achselzucken auf den Vorwurf der Promiskuität zwischen Medien und Justiz reagierte, als sie 2016 ausgerechnet von der Medienkette Globo den Preis der „Persönlichkeit des Jahres“ entgegennahm – bestehen in Brasilien kaum Zweifel.

Die bezeichnenderweise vom Ex-Präsidenten Lula 2006 zum STF ernannte, ehemalige Landesrichterin hatte bereits in einer am vergangenen 21. März unterbrochenen Abstimmung gegen die mit 6 gegen 5 Stimmen vom STF-Richterkollegium erlassene einstweilige Verfügung votiert, die dem Antrag von Lulas Verteidiger José Roberto Batochio für die Aussetzung seiner im Februar verordneten 12-jährigen Haftstrafe nachgab.

Sämtliche konservative Medien Brasiliens, allen voran die Gruppe Globo, belegten den STF mit einem publizistischen Dauerbeschuss gegen den eventuellen Hafterlass Lulas. Als Letzter stimmte Heereskommandant General Eduardo Villas Boas mit einem Tweet in das Konzert der Gerichtshof-Belagerer ein, mit dem er Druck auf die Inhaftierung Lulas ausübte und mit sofortiger Unterstützung von drei Generälen a.D. vor „Straflosigkeit” warnte.

Durch die Blume kann die „Warnung“ Villas Boas‘ als Androhung eines Militärputsches gewertet werden und löste in den sozialen Medien einen Sturm massiver Empörung aus. Rio de Janeiros ehemaliger Staatssekretär für öffentliche Sicherheit, Luiz Eduardo Soares, bezeichnete auf Facebook den Tweet des Generals als „die größte Erpressung der Justiz seit Ende der Diktatur!”.

Das am 2. April in Rio de Janeiro von der Arbeiterpartei (PT), der Kommunistischen Partei (PCdoB) und der trotzkistisch angehauchten Partei für Sozialismus und Freiheit (PSOL) ins Leben gerufene Bündnis „Gegen den Faschismus, zur Verteidigung der Demokratie“ kündigte für den 4. April die Besetzung des STF an, wobei die Linke voraussichtlich auf Gegendemonstrationen der Rechten stoßen und damit die angespannte Atmosphäre zusätzlich anheizen wird.

Das Attentat auf Lula: Faschisten gehen zur Bildung von Milizen über

Die Offensive der militanten Rechten in Zivil, in Uniform und im rechtsradikal unterwanderten Justizapparat findet weniger als drei Wochen nach der Ermordung der Stadträtin Rio de Janeiros, Marielle Franco, und eine Woche nach einem Attentat auf Lula statt, dessen Ermittlungen im dunklen Nichts der Beweisvernichtung zu versanden drohen. Weltweit einstimmig verurteilt, wurde während den landesweiten Auftritten von Ex-Präsident Lula am vergangenen 27. März in der Nähe der südbrasilianischen Ortschaft Quedas do Iguaçu auf seine durchfahrende Buskarawane ein bewaffneter Anschlag verübt.

Drei Schüsse schlugen in zwei der insgesamt drei Busse der Karawane ein. Einer davon streifte das Fenster am Sitzplatz der 2016 illegal machtenthobenen Präsidentin Dilma Rousseff, die Lula landauf, landabwärts begleitet. Keiner der Schüsse traf jedoch den Bus Lulas, den die Attentäter in der Mitte vermuteten, der diesmal jedoch zufällig die Karawane anführte.

Den Schüssen waren in Südbrasilien Straßenblockaden mit Traktoren, Lastwagen und PKWs und wutentbrannte Steinigungen der Karawane an mehreren Stadtzufahrten vorausgegangen, zu denen Verbände von Landwirten, einzelne Stadtverwaltungen und rechtsradikale Aktivisten in sozialen Netzwerken mit Sprüchen wie „Lula-Ganove, bei uns nicht!” aufgerufen hatten. Kurz nach Aufnahme der Untersuchungen ermittelte die Landeskriminalpolizei des Bundesstaates Paraná mindestens zehn mutmaßliche Täter und 20 Telefonnummern, die untereinander Gespräche führten und WhatsApp-Texte über Waffenkäufe und geplante Anschläge absetzten.

Gleichwohl wurde weniger als 24 Stunden nach dem Anschlag der junge Polizeikommissar Wikinson Fabiano Oliveira von den von ihm begonnenen Ermittlungen entfernt. Wikinson hatte in einem Presse-Interview erklärt, es habe sich bei den Schüssen in der Tat um einen Mordversuch gehandelt und mindestens zwei Verdächtige seien an dem Anschlag beteiligt gewesen. Woraufhin der Polizist im Handumdrehen vom amtierenden, seit Jahren wegen vielfacher Korruption beschuldigten Playboy und Landesgouverneur, Beto Richa von der rechtsliberalen “Sozialdemokratischen Partei” (PSDB), als „Lügner“ bezeichnet und durch seinen Vorgesetzten Helder Lauria ersetzt wurde.

Unabhängige Journalisten und die vom Parteivorstand der PT beauftragten Anwälte sehen Ähnlichkeiten im Modus Operandi des Mordanschlags auf Marielle Franco und den Angriffen auf Lulas Karawane, wie der renommierte Blogger Eduardo Guimarães bereits zwei Tage vor dem Attentat unterstellte (Conheça a máfia de extrema-direita que atacou Lula – Blog da Cidadania, 25. März 2018). Die Website Diário do Centro do Mundo führte eine offene publizistische Anklage und beschuldigte den ehemaligen Heereshauptmann, Abgeordneten, Faschistenführer und Präsidentschaftskandidaten Jair Bolsonaro als Drahtzieher der Anschläge auf Franco und da Silva (Ruralista pró-Bolsonaro, candidata do MBL, ativista pró-armas… quem está organizando os ataques a Lula no Sul – 25. März 2018).

Bolsonaro, der mit 16 Prozent der Wählerzustimmung an zweiter Stelle hinter Favorit Lula rangiert, ist seit Jahren bekannt als Schutzpatron der aus Polizisten rekrutierten Mordmilizen Rio de Janeiros und war Wortführer im Parlament sowohl für die Herabsetzung des Strafalters für Jugendliche auf 16 Jahre als auch für die Wieder-Inkraftsetzung des Gesetzes für den freien, privaten Waffenbesitz. Mit Sprüchen wie „ein guter Bandit ist ein toter Bandit”, wirbt Bolsonaro seit Jahren für Selbstjustiz und erwarb damit die Sympathien der Mehrheit der Streitkräfte und der Polizei.

Als Protagonist einer grotesken Selbstinszenierung trat Bolsonaro am letzten Tag von Lulas Karawane ebenfalls in der südbrasilianischen Landeshauptstadt Curitiba mit der Absicht auf, die Abschlussveranstaltung seines verhassten politischen Gegners zu stören. Was ihm mangels Zulauf nicht gelang, woraufhin der landesweit als Psychopath verrufene Militär derart in Rage geriet, dass er vor laufenden Kameras (siehe Bild) Kopfschüsse auf eine Gummipuppe mit dem Antlitz Lulas mimte.

Nach Beobachtungen demokratischer und der PT nahestehender Medien signalisieren die Mob-Aufstände in Südbrasilien und die Mordanschläge auf Marielle Franco und Lula, angesichts der Zunahme anstatt der vom rechtsradikalen Block erhofften Abnahme der landesweiten Sympathien für den Altpräsidenten und sich wieder bewerbenden Präsidentschaftskandidaten, einen Übergang vom friedlichen Wahlkampf zur bewaffneten Konfrontation mit der Aufstellung von Milizen.

Großgrundbesitzer-Mafia: Steuerhinterzieher und Massenmörder

Welch´ Verlogenheit und Zynismus, welch´ kriminelle Cliquen zu den Drahtziehern der faschistischen Offensive zählen, die Lula ohne mit der Wimper zu zucken der “Korruption” beschuldigen, offenbart ein Geschäft des de-facto-Präsidenten Michel Temer von Anfang August 2017. Damals nötigte die sogenannte „Bullenzüchter-Fraktion“ der Großgrundbesitzer in der Abgeordnetenkammer die Regierung zu einem Schuldenschnitt von umgerechnet 3,5 Milliarden Euro.

Mithilfe einer sogenannten „provisorischen Maßnahme“ (kurz MP genannt) stimmte Temer zum einen der Senkung des Beitragssatzes an den ländlichen Hilfsfonds für Landwirte (Funrural) zu, der bei der Kostenaufstellung für die Rente von Landarbeitern von der Regierung subventioniert wird. Zum anderen erlaubt die Maßnahme den Latifundisten, einen Teil ihrer säumigen Beiträge zur Sozialversicherung einfach zu streichen bzw. seit Jahren fällige Geldbußen zu ermäßigen und in Raten abzuzahlen. Nach Berechnungen des Sekretariats der brasilianischen Steuerbehörde (Receita Federal) bedeutet allein der Verzicht auf Zinsen und Bußgelder eine Einbuße von umgerechnet mindestens 2 Milliarden Euro in den kommenden 15 Jahren (Governo abre mão de mais de R$ 10 bilhões com alívio de dívidas de ruralistas – G1/Globo, 03/08/2017).

Die aggressiven Großgrundbesitzer werden jedoch nicht nur des Staatsbetrugs und illegaler Geschäfte, sondern auch vielfacher Morde an Gewerkschaftsführern der Landarbeiter im tiefen Hinterland Brasiliens beschuldigt, die mit den Morden an Sozialaktivisten in São Paulos und Rio de Janeiros Favelas seit 2016 die schwindelerregende Opferzahl von 126 Toten (Era Temer já tem mais de 100 assassinatos por conflitos agrários – 01. Februar 2018) erreichten und längst diplomatische Maßnahmen der Europäischen Union auf den Plan verlangt, die für mutmaßliche und unvergleichlich geringere Straftaten ihrer Gegner in der Lage ist, die Weltmedien mit Schlagzeilen über Sanktionen und Diplomaten-Ausweisungen in Marsch zu setzen.


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