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Titel: „Ein rechtsstaatswidriger Freibrief für kriminelles Handeln in staatlicher Mission“

Datum: 6. Mai 2018 um 11:45 Uhr
Rubrik: Audio-Podcast, Überwachung, Erosion der Demokratie, Innere Sicherheit, Interviews, Terrorismus
Verantwortlich:

Rolf Gössner

Von schweren „geheimdienstlichen Angriffen auf den demokratischen Rechtsstaat“ und auf die „Informationelle Selbstbestimmung, Privatsphäre und Menschenwürde“ spricht Rolf Gössner, Mitglied der Jury des BigBrotherAwards, im Interview mit den NachDenkSeiten. Mit seinen Aussagen bezieht er sich auf ein geplantes neues Verfassungsschutzgesetz und eine Novellierung des Polizeigesetzes in Hessen, für das sich die hessische CDU und Bündnis90/Die Grünen stark machen. Gerade erst wurden die Parteien mit dem BigBrotherAward ausgezeichnet, also einem „Negativpreis“, der unter anderem an Firmen und Organisationen verliehen wird, die massiv in die Privatsphäre der Bürger eindringen. Ein Interview von Marcus Klöckner.

Dieser Beitrag ist auch als Audio-Podcast verfügbar.

Herr Gössner, Sie haben als Laudator beim diesjährigen BigBrotherAward die Fraktionen von CDU und Bündnis90/Die Grünen im hessischen Landtag ausgezeichnet. Dabei geht es um ein geplantes neues Verfassungsschutzgesetz und die Novellierung des Polizeigesetzes. Warum gab es dafür den BigBrotherAward?

Den Negativpreis BigBrotherAward für „Datenkraken“ und Datenfrevler, den wir – das heißt: namhafte Bürgerrechts- und Datenschutzorganisationen – jährlich in verschiedenen Kategorien verleihen, gab es in diesem Fall für schwerwiegende Überwachungsbefugnisse, die die schwarz-grüne Regierungskoalition in Hessen mit den genannten Gesetzesinitiativen legalisieren will.

Welche Probleme sehen Sie beim geplanten neuen Verfassungsschutzgesetz?

Mit den neuen Überwachungsbefugnissen des hessischen Inlandsgeheimdienstes kann bereits weit im Vorfeld eines Verdachts oder einer Gefahr tief in Grund- und Freiheitsrechte von Betroffenen und Unbeteiligten eingriffen werden: So etwa mit der Möglichkeit zur heimlichen Einschleusung von „Staatstrojanern“ in Computer oder Smartphones Verdächtigter, die auf diese Weise heimlich infiziert und präventiv ausgeforscht werden können. Weiterhin sollen künftig Mitarbeiter staatlich geförderter Demokratie- und Präventionsprojekte – etwa gegen Rechtsextremismus oder Salafismus – anlasslos geheimdienstlich überprüft werden.

Darüber hinaus soll sich der hessische Verfassungsschutz künftig vollkommen legal vorbestrafter und kriminell gewordener V-Leute und Geheimagenten bedienen dürfen. Dabei sind selbst Straftaten von erheblicher Bedeutung oder Verbrechen, wie etwa die Mitgliedschaft in einer „terroristischen Vereinigung“, nicht tabu. Unter bestimmten Voraussetzungen sollen solche kriminellen V-Leute und Geheimagenten – ebenfalls erstmals gesetzlich geregelt – auch noch dem polizeilichen und justiziellen Zugriff entzogen werden, um sie weiter einsetzen und abschöpfen zu können – anstatt sie unverzüglich abzuschalten und zur Verantwortung zu ziehen.

Was kritisieren Sie noch?

Ich bezeichne diese geplante V-Leute-Regelung als einen rechtsstaatswidrigen Freibrief für kriminelles Handeln in staatlicher Mission, der so nicht Gesetz werden darf. Denn damit würden die bisherigen Geheimdienst-Skandale praktisch legalisiert und mit ihnen auch die obszönen Verflechtungen des Verfassungsschutzes in rassistische, kriminelle und gewalttätige Neonaziszenen.

Und im Fall der geplanten geheimdienstlichen Regelüberprüfung künftiger Mitarbeiter von Demokratie- und Präventionsprojekten ist meines Erachtens davon auszugehen, dass diese letztlich auf systematischer Gesinnungsschnüffelei beruhen werden. Die Betroffenen werden damit praktisch pauschal zu Sicherheitsrisiken erklärt und unter Generalverdacht gestellt. Dieses gesetzliche Misstrauensvotum untergräbt Akzeptanz und Vertrauen, die für eine erfolgreiche Arbeit solcher zivilgesellschaftlichen Projekte unerlässlich sind.

Und außerdem erinnert es fatal an unselige Zeiten menschenrechtswidriger Berufsverbote, wenn der Verfassungsschutz auch ermächtigt werden soll, personenbezogene Überwachungsdaten an öffentliche Stellen zu übermitteln – und zwar, so wörtlich, zur „Überprüfung der Verfassungstreue von Personen, die sich um Einstellung in den öffentlichen Dienst bewerben“.

Welche Möglichkeiten sollen denn noch geschaffen werden?

Erlaubt werden soll im Übrigen auch, Berufsgeheimnisträger wie Ärzte, Anwälte oder Journalisten als V-Leute anzuheuern oder V-Leute in deren beruflichem Umfeld zu platzieren. Damit werden Verschwiegenheitspflichten und zu schützende Vertrauensverhältnisse zu deren Mandanten, Patienten oder Informanten schwerstens verletzt. Und es werden so gesetzlich Vertrauensverhältnisse erster und dritter Klasse geschaffen, denn im Gesetzesentwurf werden nur Abgeordnete und ihre Mitarbeiter*innen vor dieser geheimdienstlichen Instrumentalisierung und Ausforschung ausdrücklich geschützt. Eine solche Ungleichbehandlung von Berufsgeheimnisträgern ist mit nichts zu rechtfertigen.

Und noch eine hochproblematische Regelung ist erwähnenswert: Selbst Daten über Minderjährige unter 14 Jahren – also von Kindern – sollen künftig in Dateien und Akten des Verfassungsschutzes erfasst und gespeichert werden dürfen. Das bedeutet eine frühzeitige geheimdienstliche Stigmatisierung, die fatale Folgen für die weitere Entwicklung der Betroffenen haben kann – etwa bei ihrer späteren Berufswahl, Lehrstellen- oder Jobsuche.

Alles in allem handelt es sich bei etlichen dieser geplanten Regelungen um schwere geheimdienstliche Angriffe auf den demokratischen Rechtsstaat sowie auf die Informationelle Selbstbestimmung, Privatsphäre und Menschenwürde der Betroffenen.

Wie sieht es mit der Polizei in Hessen aus? Auch sie soll ja weitere Befugnisse bekommen.

Stimmt. Hier nur ein besonders gravierendes Beispiel: So soll die hessische Polizei künftig unter anderem dazu ermächtigt werden, sogenannte terroristische Gefährder vorsorglich in elektronische Fußfesseln zu legen, um ihren Aufenthalt, ihre Bewegungen und Kontakte per GPS über Wochen und Monate lückenlos überwachen und kontrollieren zu können – selbst innerhalb von Wohnungen.

Und dies soll mit richterlicher Anordnung dann zulässig sein, so heißt es im schwarz-grünen Gesetzentwurf wörtlich, „wenn bestimmte Tatsachen die Annahme rechtfertigen“, dass die betreffende Person „innerhalb eines übersehbaren Zeitraums auf eine zumindest ihrer Art nach konkretisierte Weise“ eine Straftat begehen wird, „oder deren individuelles Verhalten eine konkrete Wahrscheinlichkeit dafür begründet, dass sie innerhalb eines übersehbaren Zeitraums“ eine Straftat begehen wird.

Das hört sich aber ziemlich schwammig an.

Diese vage Formulierung dürfte der Tatsache geschuldet sein, dass es sich um bloße Mutmaßungen in die Zukunft handelt. Man muss sich dabei auch noch Folgendes klarmachen: Solche eingriffsintensiven Polizeimaßnahmen, die lückenlose Bewegungsprofile liefern und Rückschlüsse auf die persönliche Lebensführung zulassen, sollen gegen sogenannte Gefährder verhängt werden. „Gefährder“ sind Menschen, die bislang nicht straffällig geworden sind, denen dies aber in Zukunft aufgrund bloßer Indizien und Annahmen oder unterstellter Absichten und Gesinnung polizeilicherseits zugetraut wird.

Solche Prognosen für künftiges Verhalten können entweder aus polizeilichen oder geheimdienstlichen Persönlichkeits- und Kontaktprofilen oder auch aus Risikobewertungen per Computeranalyse (z.B. Precrime-Programme) resultieren. Doch, so fragt man sich unwillkürlich, wie lässt sich dabei eigentlich verhindern, dass im Zweifel institutioneller Rassismus und Islamophobie zu folgenschweren Einschätzungen führen?

Solche verhaltenssteuernden und freiheitsbeschränkenden Polizeimaßnahmen, die sich auf mehr oder weniger vage Mutmaßungen stützen, sind nach meinem Verfassungs- und Grundrechtsverständnis unverhältnismäßig, verletzen rechtsstaatliche Prinzipien sowie Privatsphäre und Persönlichkeitsrechte der Betroffenen, die ja bis dahin als unschuldig zu gelten haben.

Von der elektronischen Fußfessel hört man immer wieder in den Medien. Ist diese überhaupt wirksam, wenn es um die Verhinderung terroristischer Straftaten geht?

Wohl kaum. Zum einen ist die elektronische Fußfessel relativ leicht manipulierbar und entfernbar. Zum anderen dürfte sie – selbst wenn sie funktionsfähig ist – im Ernstfall auch ungeeignet sein, terroristische Straftaten zu verhindern – besonders wenn es sich um potentielle Täter handelt, die zu allem entschlossen sind: So trug etwa einer der beiden Täter, die 2016 einem katholischen Pfarrer in der Normandie die Kehle durchtrennten, bei dieser Mordtat eine elektronische Fußfessel. Und auch Anis Amri, den Attentäter vom Berliner Weihnachtsmarkt im Dezember 2016, hätte man damit wohl kaum aufhalten können – wohl aber mit anderen, längst gesetzlich erlaubten Eingriffsbefugnissen, die aber, wie sich herausgestellt hat, nicht genutzt worden sind, so dass man in diesem Fall von Staatsversagen sprechen kann.

In Ihrer Laudatio sprachen Sie davon, dass die schwarz-grüne Regierungskoalition in Hessen mit ihren beiden Gesetzesinitiativen „einen großen Schritt in Richtung präventiv-autoritärer Sicherheitsstaat“ gehe. Welche Gefahren sehen Sie bei dieser Entwicklung für die Bürger?

Nun, die Bundesrepublik befindet sich längst auf diesem verhängnisvollen Weg: Mit der inneren Aufrüstung und der Entgrenzung staatlicher Sicherheitspolitik, wie wir sie seit 9/11 bis heute erleben, droht der demokratische Rechtsstaat zu einem präventiv-autoritären Sicherheitsstaat zu werden – einem nur noch schwer kontrollierbaren Staat im permanenten Ausnahmezustand, in dem der Mensch tendenziell zum Sicherheitsrisiko mutiert, in dem Rechtssicherheit und Vertrauen der Bürger mehr und mehr verloren gehen. Insgesamt gesehen gibt es eine fatale Tendenz dieser Art von Sicherheitspolitik und Antiterrorkampf, den Rechtsstaat radikal umzubauen, die verfassungsrechtlichen Grenzen zwischen Polizei und Geheimdiensten zu schleifen, auch die Grenzen zwischen Militär und Polizei zu verwischen – und damit das Instrumentarium des Ausnahmezustands zu normalisieren und zu schärfen.

Gegenwärtig haben wir es wieder einmal mit einer Welle von Gesetzesverschärfungen in Bund und Ländern zu tun, die insbesondere Gesetzesbefugnisse der Verfassungsschutzbehörden und der Polizei betreffen – so etwa in Baden-Württemberg, Bayern, Bremen, Niedersachsen, Nordrhein-Westfalen, Sachsen usw. – nachdem in den vergangenen Jahren schon permanent nach- und aufgerüstet worden ist. Wobei Bayern insoweit bislang am weitesten vorprescht und über den neuen „Heimatschutzminister“ Horst Seehofer (CSU) bayerische Verhältnisse auf Bundesebene zu etablieren sucht.

Womit würden die Bürger konfrontiert, wenn diese Gesetze Realität werden? Haben Sie ein konkretes Beispiel?

Nun ja, nehmen wir als Beispiel jene berüchtigten Spionage-Programme, die als “Staatstrojaner” bekannt geworden sind und im Land der Hessen auch “Hessentrojaner” heißen. Sie sollen künftig von Länderpolizeien und vom Verfassungsschutz Hessen über gefundene oder aufgekaufte Sicherheitslücken in Computern oder Smartphones Verdächtigter eingeschleust werden, um diese präventiv per Onlinedurchsuchung oder Quellen-Telekommunikationsüberwachung (TKÜ) umfassend ausforschen zu können. Im Bundeskriminalamtsgesetz sind diese Methoden bereits 2017 legalisiert worden.

Das heißt im Klartext: Polizei oder Verfassungsschutz dürfen dann zur verdeckten Informationsgewinnung Computersysteme mit Hilfe von Spionage-Programmen hacken, um „dringende Gefahren“ abzuwehren. Auf diese Weise bricht der Staat massiv in Privatsphäre und Persönlichkeitsrechte, in die Informationelle Selbstbestimmung und Meinungsfreiheit der Betroffenen ein. Anders gesagt: Alles, was der Bürger auf seinem Computer gespeichert hat, aber auch die gesamte Kommunikation, die er darüber führt, können dann überwacht und ausgeforscht werden.

Wir haben es mit einem der schwersten staatlichen Grundrechtseingriffe zu tun, die man sich vorstellen kann. Heribert Prantl von der „Süddeutschen Zeitung“ spricht in diesem Zusammenhang von „digitaler Inquisition“. Dieses geheimdienstliche Hacken bedroht damit den Kernbereich privater Lebensgestaltung – gefährdet aber noch weit, weit mehr.

Ergibt sich aus diesen Weichenstellungen auch eine Gefahr für die Allgemeinheit?

In der Tat. Staatstrojaner sind nämlich digitale Waffen. Ihr Einsatz unterminiert das „Grundrecht auf Gewährleistung der Vertraulichkeit und Integrität informationstechnischer Systeme“, wie es das Bundesverfassungsgericht für das digitale Zeitalter schon vor geraumer Zeit aus der Taufe gehoben hat.

Dies geschieht, indem die Sicherheitsbehörden darauf abzielen, Software-Sicherheitslücken ausfindig zu machen, denn sie wollen natürlich ihre Staatstrojaner heimlich auf einem Gerät installieren und aktivieren. Ihnen geht es darum, diese Schwachstellen in der Software auch zukünftig offenzuhalten. Diese Schwachstellen ermöglichen es ihnen, wie durch eine Tür, Eingang zu finden.

Das heißt, wenn die Sicherheitsbehörden die vorhandenen Schwachstellen in der Software nützen können, haben auch Andere die Möglichkeit, durch sie „einzutreten“.

Genau das ist der Punkt. Die Anderen können zum Beispiel Cyber-Kriminelle, Terroristen, Erpresser, aber auch Geheimdienste anderer Länder sein.

In Ihrer Laudation haben Sie betont, dass so ganze Staaten und ihre Bewohner in Gefahr sein können.

Ja, natürlich, weil damit die Möglichkeit besteht, Computersysteme anzugreifen, die Staaten oder Unternehmen für ihre kritische Infrastruktur verwenden.

Das heißt?

Strom- und Wasserversorger, Krankenhäuser, Gesundheits- und Verkehrswesen usw. Wir kennen ja solche Fälle bereits – erinnert sei nur an das abschreckende Beispiel des Erpressungstrojaners „Wannacry“, der im Mai 2017 neben Privat-PCs auch Bahnunternehmen und Krankenhäuser lahmlegte und Schäden in Milliardenhöhe verursachte. Die NSA, also der Auslandsgeheimdienst der USA, kannte die Sicherheitslücke, die für diesen Angriff benutzt wurde, übrigens schon lange.

Dieses unverantwortliche Staatsverhalten öffnet also Missbrauch und gefährlichen Cyberattacken Tür und Tor. Und solche Methoden sind letztlich weder demokratisch kontrollierbar noch in einer vernetzten Welt wirklich beherrschbar.

Was meinen Sie, warum wollen CDU und ausgerechnet Bündnis-Grüne in Hessen all das umsetzen?

Wie bereits angedeutet: Der Hessische Gesetzentwurf reiht sich – mit besonders prekären Regelungen – in eine bundesweite Entwicklung ein, mit der Grund- und Freiheitsrechte per Verfassungsschutz- und Polizeirechtsreformen abermals massiv eingeschränkt werden, um vermeintlich mehr Sicherheit zu erreichen. Bei der CDU ist man diese Art von überschießender und freiheitsgefährdender “Sicherheitspolitik” schon lange gewohnt – also insoweit nichts Neues. Doch dass hierfür auch eine grüne Fraktion mitverantwortlich zeichnet, irritiert zunächst, zumal sich diese Partei selbst immer noch als Bürgerrechtspartei versteht. Doch mit solcherart Geheimdienst- und Polizeigesetzen, wie im schwarz-grün regierten Hessen oder im rot-grün regierten Bremen geplant oder aber im grün-schwarz regierten Baden-Württemberg teilweise schon umgesetzt – damit können die Grünen ihr Selbstverständnis als Bürgerrechtspartei allmählich begraben.

Das in Oppositionszeiten gewachsene Image der Grünen als Bürgerrechtspartei leidet erfahrungsgemäß in Regierungsverantwortung. Schon in der rot-grünen Regierungskoalition im Bund stimmten sie nach den Terroranschlägen in den USA am 11. September 2001 umfangreichen neuen Sicherheits- und Antiterrorgesetzen zu, die gravierende Eingriffe in Grundrechte und Privatsphäre ermöglichten. Als kleiner Regierungspartner spielen die Grünen beim Überwachungspoker immer wieder mit, rechtfertigen die Beschränkung der Freiheitsrechte mit dem vorgeblichen Ziel, damit mehr Sicherheit zu erlangen, um der Terrorangst in der Bevölkerung begegnen zu können.

Die grüne Fraktion im hessischen Landtag begründet ihre Mitwirkung an besagtem Verfassungsschutzgesetz mit „terroristischen Bedrohungen“, die es nötig machten, die digitale Kommunikation weitgehender als bisher zu überwachen. Das miese Spiel mit der Angst vor Terror zur Beschränkung der Freiheitsrechte, um angeblich mehr Sicherheit zu erlangen, das haben die Grünen bislang eher anderen überlassen, wie etwa der CDU/CSU oder auch der Großen Koalition. Die grüne Fraktion in Hessen aber spielt nun selbst beim Überwachungspoker mit, beteiligt sich am sicherheitspolitischen Überbietungswettbewerb und behauptet noch, ihr Gesetzentwurf trage eine „grüne Handschrift“.

Gibt es denn nennenswerten Protest gegen diese Gesetzesverschärfungen?

Zwar lässt sich die Mehrheit der Bevölkerung durch unhaltbare Sicherheitsversprechen der jeweiligen Regierungen leider immer wieder beschwichtigen – oder besser gesagt: hintergehen. Doch sowohl gegen die Verschärfungspläne in Hessen (siehe hier und hier) als auch gegen die in Bremen, Bayern und NRW regt sich heftiger Protest, der von relativ breiten zivilgesellschaftlichen Bündnissen unter Beteiligung zahlreicher Bürgerrechts- und Datenschutz-Organisationen getragen wird.

Und während einer Anhörung im Hessischen Landtag hat die große Mehrzahl der Sachverständigen den dortigen Gesetzentwurf scharf kritisiert und erhebliche Änderungen angemahnt. Auch die Basis der hessischen Grünen votierte Ende 2017 speziell gegen die Legalisierung des „Hessentrojaners“ – zumal die Grünen im letzten Wahlkampf versprochen hatten, keine Online-Durchsuchung zur Gefahrenabwehr zuzulassen.

Gibt es denn inzwischen Ansätze von Nachdenklichkeit bei den Gesetzesinitiatoren?

Ja, die gibt es – gerade in Hessen – und es gibt auch schon erste Erfolge – wie aktuell in Bremen.

Zunächst zu Hessen: In gewisser Weise hat die Verleihung des BigBrotherAwards die kritische Diskussion der Gesetzentwürfe bei den Grünen in Hessen beeinflusst und beflügelt. Der Grünen-Innenpolitiker und Befürworter des neuen Verfassungsschutzgesetzes, Jürgen Frömmrich, wurde von seiner Partei beim Landesparteitag am 21. April 2018 deutlich abgestraft und landete, anders als angestrebt, auf einem hinteren Landeslistenplatz. Besser schnitt der Software-Experte Torsten Leveringhaus ab, der sich dezidiert „gegen die digitale Aufrüstung“ ausgesprochen hat. Und er will den Gesetzentwurf gründlich ändern, „damit wir den ‚BigBrotherAward’ so schnell wie möglich zurückgeben können“, so Levringhaus.

Und die Opposition im hessischen Landtag ist sich einig: Den BigBrotherAward für den größten Datensünder des Jahres habe die schwarz-grüne Landesregierung als „Quittung für die geplanten, tiefgreifenden Eingriffe in die Grund- und Bürgerrechte“ verdient. Die „mehr als peinliche Auszeichnung” stelle den „öffentlichkeitswirksamen Höhepunkt einer Posse dar, die ihresgleichen sucht“, so etwa die FDP-Fraktion.

Im rot-grün regierten Bremen hat die grüne Fraktion kürzlich sogar die Reißleine gezogen und den Gesetzgebungsprozess hinsichtlich der geplanten Verschärfung des Bremer Polizeigesetzes – ebenfalls mit Staatstrojaner, elektronischer Fußfessel und Ausweitung der Videoüberwachung – aufgekündigt. Hier hat sich offenbar auch die Oppositionsarbeit des Bündnisses „Brementrojaner” ausgewirkt; siehe auch Weser-Kurier vom 25. April 2018.


Dr. Rolf Gössner ist Rechtsanwalt, Publizist und Kuratoriumsmitglied der Internationalen Liga für Menschenrechte Berlin und Mitherausgeber des jährlich erscheinenden “Grundrechte-Reports. Zur Lage der Bürger- und Menschenrechte in Deutschland” (Fischer-TB). Ausgezeichnet mit der Theodor-Heuss-Medaille, dem Kölner Karlspreis für engagierte Literatur und Publizistik und dem Bremer Kultur- und Friedenspreis. Sachverständiger in Gesetzgebungsverfahren von Bundestag und Landtagen. Seit Anbeginn (2000) Mitglied in der Jury zur Verleihung des Negativpreises BigBrotherAward. Autor zahlreicher Bücher zum Themenbereich Demokratie, Innere Sicherheit und Bürgerrechte. Internet: rolf-goessner.de

Rolf Gössner stand fast vier Jahrzehnte lang unter geheimdienstlicher Beobachtung des Bundesamts für Verfassungsschutzes, die das Verwaltungsgericht Köln 2011 für unverhältnismäßig und grundrechtswidrig erklärte. Nach Berufung der Bundesregierung hat das Oberverwaltungsgericht Nordrhein-Westfalen im März 2018 dieses Urteil nach einer 12-jährigen Gesamtdauer des Gerichtsverfahrens in zweiter Instanz bestätigt und die Revision zugelassen.

Rolf Gössner ist einer der Sprecher des Bündnisses “Brementrojaner” gegen die Verschärfung des Bremer Polizeigesetzes; er ist auch als Sachverständiger im hessischen Landtag zur dortigen schwarz-grünen Gesetzesinitiative gehört worden (Gutachten hier). Seine BigBrotherAward-Laudatio auf die Fraktionen von CDU und Grüne im hessischen Landtag, die vom Publikum im Bielefelder Stadttheater mit dem Publikumspreis ausgezeichnet wurde, ist hier einzusehen.


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