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Titel: Rote Karte für unsere Medien in ihrem Match gegen Russland? Teil 3: Welches Russlandbild bleibt jetzt nach der WM?

Datum: 18. Juli 2018 um 14:00 Uhr
Rubrik: Erosion der Demokratie, Gleichstellung, Kampagnen/Tarnworte/Neusprech, Länderberichte, Medienkritik, Ungleichheit, Armut, Reichtum
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Der NachDenkSeiten-Leser Michael Steinke[*] hat die Fußball-Weltmeisterschaft in Russland besucht und sich vier Wochen lang vor Ort einen eigenen Eindruck gemacht. Für die NachDenkSeiten schildert er seine Erfahrungen und Gedanken nun in einer dreiteiligen Serie und stellt sie der negativen Medienkampagne gegenüber, die seit Wochen auf Hochtouren läuft. Lesen Sie heute das ausführliche Finale des Dreiteilers. Der erste Teil der Serie erschien am letzten Dienstag, der zweite Teil am letzten Donnerstag.


Abb.: Creative Commons CC0

Die Vorurteile und Klischees, unser Bild über Russland haben sich im Laufe der Jahre verändert: In Russland trinkt man Wodka und beweint die russische Seele. Man fährt einen Lada durch unendliche Weiten. Die Bären laufen durch die Städte. Alle russischen Frauen sind schön. Im russischen Winter taucht man nach der Banja in ein Eisloch ein. (bis 1995)

Russen feiern gerne, sind immer und überall laut, protzen gerne, sind sehr abergläubisch; Alle russischen Frauen wollen einen Ausländer heiraten. Ein Land, in dem Korruption, Ungleichheit und Oligarchen herrschen. (bis 2005)

Russen sind alles Hacker, immer die Bösen, rücksichtslos, Russland, das sich nach alter Größe sehnt, nationalistisch, mit Hang zum Militarismus. (ab 2005)

Deutsche Medien-Oligarchie über Russland

Das Russlandbild in der deutschen Berichterstattung war im letzten Jahrtausend nach dem Ende des Kalten Krieges noch weitgehend folkloristisch geprägt, wurde dann um Armut und Oligarchen ergänzt, und nach 2000 um Stereotypen russischer Reisender. SZ: Im Sommer 2005 schreckte das Magazin Stern die Deutschen auf: Russische Touristen erobern die schönsten Strände in der Türkei und Ägypten. Im Vorspann des Artikels heißt es: “Rentenloch und Hartz IV waren schon schlimm genug. Jetzt nehmen uns die Russen auch noch die Liegestühle weg.” Kurz und knapp ließe sich der Text mit “Die Rüpel kommen” zusammenfassen. Der Artikel beschäftigte sogar den Presserat, da sich eine Studentin über die “abgrundtiefe Ignoranz und die Verbreitung unzähliger Vorurteile” beschwert hatte.

Die Beschwerden haben sich seitdem vervielfacht, denn die deutsche Berichterstattung hat zunehmend eine immer stärkere Politisierung und Putinisierung erfahren. Putin, das Land und seine Menschen werden in Deutschland immer stärker miteinander gesehen und beurteilt. Diese Problematik hat sich besonders auch bei der aktuellen WM in Russland gezeigt. So propagierte die deutsche Berichterstattung das Fußballfest zu “Putins WM” und war danach nicht mehr in der Lage, dem Land und seinen Menschen gegenüber neutral oder gar wohlwollend zu sein, obwohl diese es mehr als verdient hatten und es objektiv geboten gewesen wäre.”

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1998: Mitleid mit den notleidenden Russen . 2005: Angst vor urlaubenden Russen

Leider wird unser Russlandbild trotz steigendem Berichtsaufkommen nur von ganz wenigen Korrespondenten bestimmt. Gerade einmal 20 deutsche Journalisten aus gerade einmal 12 Medien sind noch in der russischen Hauptstadt akkreditiert: ARD, dpa, SPIEGEL (je 3) oder ZDF (je 2). Und nicht nur wie bei den bekannten Leitjournalisten sind die transatlantischen Netzwerker dominant, auch bei den noch wenig verbleibenden Russland-Korrespondenten wurde etwa die zwar kremlkritisch, aber auch differenzierend berichtende Gabriele Krone-Schmalz durch den einseitig-parteiisch berichtenden Udo Lielischkies und die offen anti-russisch hetzende Golineh Atai ersetzt, beim SPIEGEL die zumindest noch gegenüber Land und Leuten differenziert berichtenden Matthias Schepp und Benjamin Bidder durch die Propaganda verbreitenden Christian Esch und Christina Hebel.

Die Richtung dieser deutschen Medien-Oligarchie ist klar anti-russisch, ohne dass es im Mainstream auch nur noch einen Korrespondenten gäbe, der kontrollierend oder ausgleichend aus Russland einwirken könnte. Gegenmeinungen oder auch nur russische Positionen zu ihrer Politik, finden sich nur außerhalb des Mainstreams, etwa bei den NachDenkSeiten, Telepolis oder russland.news. Nicht ausreichend russischkritisch agierende Russland-Experten wie Florian Rötzer haben im Mainstream keine Chance oder wurden aus ihren Anstellungen gekündigt wie Moritz Gathmann, Ulrich Heyden, Kai Ehlers bzw. sie bekommen aus dem deutschen Mainstream einfach keine Aufträge (mehr).

Ex-ARD-Moskau-Korrespondentin Gabriele Krone-Schmalz klagt seit Jahren über eine wachsende Diskrepanz zwischen der Realität des Landes und den verbreiteten Stereotypen über Russland, die sich nach wie vor in den westlichen Köpfen gehalten hätten und noch aus dem Kalten Krieg stammten. Krone-Schmalz warnt vor einer Dämonisierung des Landes und der zu einfachen Einteilung der Welt in “Gut” und Böse”: “… dass in den westlichen Medien praktisch nur noch Raum für negative Nachrichten über das Land bleibt”, schreibt sie in ihrem jüngsten Buch “Eiszeit”. “Denn, was aus Moskau kommt, kann nur falsch sein. Viele Journalisten haben sich offenbar abgewöhnt, genauer hinzuschauen, wenn es um Russland geht, da die Sache ja ohnehin klar scheint: Putin ist der Gegner der freien Welt, der sich der Verbreitung des “Guten” in den Weg stellt.”

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2015: Der Putin-Wahn im deutschen Mainstream

Niemand kann den Korrespondenten verwehren, die russische Politik zu kritisieren oder zu verurteilen. Wenn dies aber völlig undifferenziert geschieht, ohne deren Positionen und Begründungen zu erklären oder wenigstens zu schildern, sondern nur, indem diese als böse, aggressiv dämonisiert wird, und das dann auch noch auf die Russen als intolerante, gewalttätige, homophobe Menschen ausgedehnt wird, dann arbeiten sie nicht mehr journalistisch, sondern propagandistisch.

Sogar die Bundeszentrale für Politische Bildung 2017 beklagt:

“wobei sich fast durchgehend ein Putin-kritischer Mainstream durchgesetzt hat, der zeitweise zu einer regelrechten “Dämonisierung” des Präsidenten abgleitet … Solche vereinfachten Deutungen geschehen vor allem in Heimatredaktionen, in denen es an Kompetenz, Interesse und Verständnis für Russland ebenso fehlt wie an frischen Sprach- und Landeskenntnissen. Das hält aber vor allem Kolumnisten und Kommentatoren der verschiedenen Zeitungen keineswegs davon ab, ausgiebig vom deutschen Schreibtisch aus über Russland zu schreiben und gängige Klischees zu verbreiten.”

Um zu einem realistischen Russlandbild vordringen zu können, muss man erst einmal mit den Verfälschungen und Dämonisierungen der deutschen Berichterstattung aufräumen. Befreit von diesen propagandistischen Lügen, Vorurteilen und Stereotypen kann man sich dann kritisch denen in Russland nähern, muss da auch propagandistische Lügen und Verfälschungen aus dem Weg räumen, und kommt dann langsam zu dem Russlandbild, das dem Land und der Lebenswirklichkeit seiner Menschen gerecht wird. Kurz:

Russland ist sicher

nicht DAS fortschrittliche, liberale, soziale Land mit funktionierender Demokratie, Meinungs- und Pressfreiheit.

Aber eben ganz sicher auch nicht

die verarmte, rückständige, intolerante Diktatur mit willkürlicher Verfolgung und Ermordung Andersdenkender, Kritiker oder Homosexueller,

wie es durch die negative Berichterstattung in den Köpfen der Deutschen entsteht oder nicht selten auch hineingepresst wird. Diese einseitige, undifferenzierte, negative Berichterstattung gegenüber Russland kritisiert auch die Bundeszentrale für Politische Bildung 2014: “Zwar sind viele der medial thematisierten Missstände in Russland real (mangelnde Demokratie, soziale Ungleichheit, Machtmissbrauch), aber wenn diese immer wieder auch übertrieben dargestellt werden und für andere, positive Facetten keinerlei Raum in der Berichterstattung ist, fördert dies die Bildung von pauschalisierenden Negativklischees.”

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Ohne gleich als Putinversteher angegriffen zu werden, sollte man sich vor Russland oder sogar vor Putin stellen können, um diese falschen Negativklischees oder demagogische Hetze des Westens abzuwehren. Das bedeutet aber noch lange nicht, dass man hinter der Politik Russlands oder Putins steht – schon allein nach den Gesetzen der Natur ginge das ja auch gar nicht.

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Bestandteile eines verzerrten Russlandbildes:

WMRussische Machos sehen Frauen als Schlampen und prügeln

WMPostsowjetisch, rückständig voller Armut und Tristesse

WMIsolation, Nationalismus, Militarismus

WMDiktatur ohne Meinungs- oder Pressefreiheit

WMRussland verschleppt und mordet seine Kritiker

Russen sind homophob und verfolgen Schwule

An eine Veränderung der deutschen Berichterstattung über Russland kann ich leider nicht glauben. Deshalb hoffe ich sehr, dass sich immer mehr Menschen der diskriminierenden Verunglimpfung Russlands und seiner Menschen verweigern, dass das bestehen bleibt und sich ausbauen lässt, was man unter “Diskrepanz zwischen öffentlicher und veröffentlichter Meinung versteht”, bpp 2014: “Einer Forsa-Umfrage aus dem Jahr 2007 zufolge glaubten seinerzeit 84 Prozent der Deutschen, dass das deutsche Russlandbild von Vorurteilen beherrscht sei. 49 Prozent waren der Meinung, die deutschen Medien berichteten über die Verhältnisse in Russland weder objektiv noch zutreffend, und 44 Prozent gaben an, dass diese einen bewusst negativen Eindruck vermittelten.”

WM Macholand voller Hausfrauen ohne Rechte, Chancen?

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Abb.: Creative Commons CC0

“Russen hetzen gegen ihre Frauen”. Keine “Geschichte” von der WM aus Russland fand wohl größere Verbreitung in den deutschen Medien als diese. “Nutten, die dem Land Schande bereiten”: “Wir haben eine Generation von Nutten groß gezogen, die bereit sind, bei den ersten ausländischen Tönen die Beine breit zu machen”, beschwert sich ein Autor in seiner Kolumne “Zeit der Nutten” in der Moskowskij Komsomolez über zu viel Freizügigkeit der Frauen im Umgang mit ausländischen Fans. Genüsslich stürzen sich alle auf eine in Russland angeblich so breit geführte Diskussion, RTL, SZ, taz, Focus, SPON, HuffPost, die ARD in der Fußballübertragung u.v.m. arbeiten sich an dieser Steilvorlage ab. Sie können so IHR Bild von Russland bestätigt finden und verbreiten, das konservative, mit Macho-Männern, spießig und rückwärtsgewandt, provinziell, verschlossen, nationalistisch und misstrauisch der ganzen Welt gegenüber. Und das nur, weil sich irgendein orthodoxer Außenseiter und/oder irgendeine erzkonservative Politikerin mit einer feministischen Bloggerin streiten.

Das Lustige an solchen Berichten aus Deutschland über angeblich wichtige russische Diskussionen, die diese Journalisten krampfhaft als solche untermauern wollen – “In den sozialen Netzwerken des Landes tobt darüber eine wilde Debatte.” – “vielbeachteter Artikel” – “große Debatte entbrannt” – ist, dass weder Nachbarn, Freunde, Verwandte oder ich selbst diese in Russland überhaupt mitbekommen haben, sondern aus Deutschland informiert werden mussten, was in Russland angeblich so heiß diskutiert wird. Jede Wette: Spätestens nachdem ARD-Lielischkies in seiner 5-Minuten-Schalte vor dem Viertelfinale Russland-Kroatien davon berichtete, dass einige russische Männer gegen Russinnen als Schlampen hetzen würden, kennen diese angebliche Diskussion ein Vielfaches mehr Deutsche als Russen.

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Aufgebauscht, verfälscht und instrumentalisiert. Was RTL, SZ, taz, Focus, SPON, HuffPost und die ARD mit dieser Kampagne betrieben, ist so realistisch und redlich, wie wenn ausländische Journalisten dasselbe über Deutschland berichten, nur weil die AfD “”Neue Deutsche?” Machen wir selber.” zu ihrem Wahl-Plakat machte und unter Deutschen eine Debatte auslöste, dass deutsche Frauen doch besser nicht mit Ausländern, Flüchtlingen … Im Falle Russlands reichte ein Kolumnist, eine(!) Politikerin und “einige Männer in den sozialen Medien” für eine derartige Medienwelle zur Verfälschung der russischen Realität, unseres Russlandbildes. In Deutschland hätten wir sogar die Wahl-Kampagne einer 12%-Partei und sicher auch genug deutsche Männer in den sozialen Medien, um auch unserem Land vorzuhalten, dass ihm “die internationale Annäherung vielleicht schon zu weit geht” – wie es der SPIEGEL bei Russland getan hat.

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Russische Frauen zwischen Beruf und Familie

Dabei verbreiten die deutschen Medien selbst sehr oft ein archaisches Frauenbild aus Russland. Immer wieder stellen deutsche Russland-Berichte auf junge, moderne, schöne Frauen und Models ab. Kaum einer kommt ohne Blick in eine der Model-Schulen aus. Und auch immer wieder berichten westliche Reporter so gern über “Klischee-Luder, über deren Hunger nach Oligarchen oder wohlhabenden Ausländern.” – ZEIT

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Abb.: Creative Commons CC0

“Andere Karrieren als Schönheit seien in der russischen Machowelt für Frauen wohl schwierig”

mutmaßt ARD-Mann Udo Lielischkies sogar, bei einem solchen Besuch für seine TV-Reportage “Unser Russland“. Immer wieder wird das Klischee über eine angebliche Machowelt in Russland bei vielen TV-Reportagen bemüht, sogar kurz vor dem Viertelfinalspiel Russland-Kroatien.

“Der Mann wolle doch, dass die Frau zu Hause bleibt”

bohrt Lielischkies weiter. Ist Russland also tatsächlich ein so patriarchalisches Land wie in den ARD-Darstellungen, in dem Feminismus noch nicht weit verbreitet ist und die Frauen zu Hause bleiben müssen?

Nach wie vor gibt es in Russland tatsächlich eine große Liste mit Berufen, die Frauen nicht ausüben dürfen, unter anderem Feuerwehrmann, Berufstaucher, U-Bahn-Fahrer, Lastwagenfahrer oder Schiffskapitän. Dabei war Russland sehr oft Pionier, was die Rechte beziehungsweise die Arbeitsmöglichkeiten von Frauen betrifft: Frauen durften ab 1917 wählen – das erste große europäische Land, das dies ermöglichte. Die erste Diplomatin und die erste Frau im Weltall kommen ebenfalls aus Russland. Richtig ist auch, russische Frauen machen sich besonders gern zurecht. Make-up und Haare sitzen nahezu immer perfekt, und selbst beim Müll raustragen wird gern ein schönes Outfit angezogen. Bei aller Betonung ihrer Schönheit: Frauen in Russland studieren oft, häufiger als Männer und auch mehr als in Deutschland. Der Frauenanteil an Studierenden in der Russischen Föderation beträgt 53,38%, im Vergleich: Deutschland 47,80% (Deutscher Akademischer Austauschdienst 2017).

Auch die Zahl der erwerbstätigen Frauen in Russland ist u.a. laut Irina Kosterina, Koordinatorin des Projekts “Geschlechterdemokratie” der Heinrich-Böll-Stiftung Moskau, im Vergleich zu den EU-Staaten sehr hoch. Der Anteil von Frauen an Erwerbstätigen beträgt in Russland 48,8% gegenüber 45,9% in Deutschland. Und dabei arbeiten die russischen Frauen auch keineswegs nur in “niederen” Positionen: In keinem anderen Land Eurasiens gibt es so viele Spitzenmanagerinnen wie in Russland. Laut SPIEGEL: “Russische Frauen in höchsten Führungspositionen” beträgt ihr Anteil in den Führungsetagen der Wirtschaft in Russland 43 Prozent. Amerika kommt hingegen nur auf 22%, Deutschland gar nur auf 14%.

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Abb.: Creative Commons CC0

Udo Lielischkies, Leiter des ARD-Studios Moskau, Russland-Korrespondent von 1999-2006 und wieder seit 2012, sollte besser nicht öffentlich solche Mutmaßungen wider bekannten Fakten anstellen. So entsteht ein fahrlässig falsches Bild der Frau in Russland. Aber vielleicht ist seine Einschätzung etwas subjektiv getrübt. Er heiratete an seinem 50. Geburtstag die 23-jährige Russin “Katjuscha“.

Trotz aller beruflichen Chancen sind Rechte und Freiheiten der Frauen in Russland aber faktisch oft eingeschränkt. Der Alltag russischer Frauen ist oft hart. “Nur Hausfrau” zu sein, gibt es kaum. Die meisten haben ihren Beruf und müssen mitverdienen. Die Mehrfachbelastung durch Arbeit und Familie ist deutlich höher als in westlichen Ländern. Familienfreundliche Regelungen und Teilzeitarbeit sind unbekannt, nach Feierabend kümmern sie sich um den Einkauf, den Haushalt, die Kinder, den Mann. Zugleich sind soziale Einrichtungen der Sowjetära wie Kinderkrippen, Tagesstätten und organisierte Schulferien in Kindererholungsheimen weggefallen oder für viele Familien unerschwinglich.

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Abb.: Creative Commons CC0

Zudem müssen viel zu viele Frauen unter häuslicher Gewalt leiden, besonders auf dem Land, besonders in Folge von Alkoholismus. Viele Tausende Frauen sterben sogar daran – jedes Jahr! Die in der deutschen Propaganda aber breit und unredlich ausgeschlachtete Gesetzesnovellierung 2017 (WELT: “Seine Frau zu verprügeln ist in Russland keine Straftat mehr”) sieht lediglich einen Angleich an deutsches Recht vor. Auch bei uns ist die “Ohrfeige” im Ernstfall, ohne jede sichtbare Spuren, ohne ärztliche Behandlung, zunächst keine Straftat. Diese Berichte sind also nur geeignet, zu propagieren, die Politik unterstütze, dulde diese häusliche Gewalt. Dem ist natürlich nicht so.

Kritikwürdig ist aber sicher, dass der russische Sozial- und Rechtsstaat oft zu schwach ist, die Frauen ausreichend zu schützen bzw. zu unterstützen: Viele Frauen heiraten früh, damit sie von den Eltern unabhängig leben, von zu Hause ausziehen können. Schüler- oder Studenten-Bafög gibt es nicht. Auch für eine junge Auszubildende oder Alleinverdienerin ohne Wohnbesitz reicht der Verdienst dazu meist nicht. Statistisch gesehen wird auch deshalb jede zweite Ehe in Russland geschieden, 35% innerhalb der ersten drei Ehejahre. Das kann in Russland schnell, einfach, ohne gerichtliche Verfügung geschehen, allerdings ist eine Trennung für die Frau, zumal mit Kindern, faktisch oft nur sehr schwer möglich. Frauen belastet in dieser Situation meist die Angst vor der allein ihnen überlassenen Verantwortung für das weitere Familienschicksal und einer Verschlechterung ihrer materiellen Situation. So kennt das russische Recht keinen Versorgungsausgleich oder Zugewinnausgleich. Einen nachehelichen Unterhalt gibt es fast immer nur innerhalb von 3 Jahren nach der Geburt des gemeinsamen Kindes, danach hat die Frau keinerlei Unterhaltsansprüche, und selbst der Kindesunterhalt wird in kaum der Hälfte der Fälle geleistet und selbst dann oft nur teilweise. Sie sind es in der Regel, die für die Kinder zu sorgen haben.

Es bedarf der Stärkung des russischen Sozial- und Rechtsstaates, um den Frauen auch faktisch finanziell bessere Möglichkeiten zu geben, als alleinerziehende Mutter überleben oder eben auch sich von gewalttätigen Männern rechtzeitig trennen zu können.

WM Rückständiges Russland voller Armut und postsowjetischer Tristesse

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Abb.: Creative Commons CC0

“Habt Ihr in Wolgograd eigentlich auch ein Kino?”

… fragte uns eine studierte Freundin in Baden-Baden. Meine russische Frau blickte mich ungläubig staunend an …

“Kann man hier überhaupt ein Parfüm kaufen?”,

wollte einer meiner neuen englischen Bekannten wissen, und die fünf Fußballfans aus Nottingham trauten ihren Augen nicht, als wir zusammen in eine der vielen Shopping-Malls gingen, die auch in London, Paris oder New York kaum moderner sein können. Auch der US-Reporter der Washington Post zeigte sich erstaunt, mit Moskau eine lebendige, moderne Metropole und freundliche Menschen anzutreffen statt leerer Regale und düsterer Gestalten. Den Höhepunkt lieferte eine Gruppe deutscher Urlauber in einem 5-Sterne-Türkei-Hotel:

“Wie können so viele Russen hier Urlaub machen, während in ihrem Land die Menschen verhungern?”

Das soziale Russlandbild der Deutschen, aber auch der anderen WM-Besucher aus England, der Schweiz oder Australien war und ist unglaublich verzerrt. Schaut man sich zwei sogar propagandaarme Reportagen aus Deutschland an, erkennt man schnell, wo dieses falsche Russlandbild entstanden ist:

“Auf dem Land ist die Zeit stehengeblieben”, so oder ähnlich resümieren zahlreiche Russland-Reiseberichte des westlichen Fernsehens, so auch die aktuelle und eigentlich interessante und empfehlenswerte WM-Reise-Reportage ARD: “Unser Russland” und zeigt besonders verfallene, verlassene Dörfer, arme Babuschkas, die von 200 Euro leben müssen, am Straßenrand ihr selbst angebautes Gemüse verkaufen müssen, oder andere “postsowjetische Tristesse”, alte Kolchosen (Rostow), Palast der Sowjets (Kaliningrad), Bauruinen, alte verfallende Holzhäuser (Samara) und wieder eine arme Rentnerin mit Minimalrente, die trotzdem Energie, Sympathie, Gastfreundschaft ausstrahlt.

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Mayakovskogo Street (Samara) – Abb.: Creative Commons CC0

Auch ZDF: 10.000 Kilometer Russland (1) und (2) “..Einblicke in die russische Gesellschaft. Wie hat sich das Land in den zehn Jahren verändert?” betont das Leben der Armen auf dem Land. Sie wurden andauernd dargestellt, betrachtet und interviewt, Babuschki, Straßenverkäuferinnen mit Nennung ihrer skandalös niedrigen Rente oder ihres niedrigen Lohns (6-7mal). Und ebenso oft ärmliche, skandalöse Wohnverhältnisse ohne Wasseranschluss oder -abfluss, verkommene Wohnheime, verfallende, alte Baracken, verlassene Dörfer, kaputte Industrie. Den ZDF-Bildern nach ist Russland ein verfallendes Entwicklungsland mit verarmten Menschen, die kaum genug zu essen haben.

Dabei ist diese Reportage gar nicht einmal propagandistisch angelegt, die Meinungen und Stimmungen im heutigen Russland wurden sogar vielfältig und einigermaßen realitätsnah abgebildet. Da kommen Putin-Befürworter und -Gegner sowie gesellschaftliche Gewinner und Verlierer zu Wort. Dargestellt in ihrer positiven Meinung wurden aber nur die Eliten, die Sportreporterin mit Beziehungen in den Kreml, Yuppies im Nachtclub, die Schönheitskönigin im Krasnojarsk-Palast, asiatische Gastronomie- und Bau-UnternehmerInnen.

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Babuschki am Strassenrand

Neben reichen Eliten und Armen überhaupt nicht persönlich dargestellt wurde die Mittelschicht, die Mehrheit der normalen Russen, moderne Stadtbilder wurden nur kurz als Firmengebäude gestreift, nicht als Lebensumfeld, es gab keine Bilder aus einem normal bis gut situierten Wohnumfeld, keine Interviews aus den modernen Einkaufszentren, Kinos, Fußgängerzonen, Geschäfts-Passagen … Man muss sich schon sehr anstrengen, um diese Bilder aus den ganzen durchfahrenen Städten zu vermeiden – Moskau, Kasan, Jekaterinburg, Irkutsk, Wladiwostok – alles verfallen und verarmt? Dabei schildern Lanz oder Fornoff in ihren Reportagen jeweils selbst, “dass Reichtum, Wohlstand bei sehr vielen Russen angekommen ist”. Auch wenn sie das ebenfalls nicht deutlich und nachhaltig genug mit Bildern, Interviews unterlegt haben.

Auch scheint es in Russland laut „ZDF: 10.000 Kilometer Russland“ keine erfolgreichen Wirtschaftsprojekte zu geben: nur Wirtschaftskrise, verfallende Industrie, die Lage sei viel schlechter, Geld fließe ab .. früher gut verdient, heute Betrug, Lohn wird nicht mehr bezahlt, schwerer geworden zu leben. Gescheiterte Kleinunternehmen. Es fehlen Berichte, Bilder über die verarbeitende Industrie und den Bauboom, Infrastrukturprojekte wie bspw. zur Krim oder einen Bericht über die Konsumfreuden der Mittelschicht.

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Shopping Mall Sankt Petersburg

Alle Russland-Reiseberichte im deutschen Fernsehen fokussieren viel zu stark auf Verfall, Armut und Tristesse auf dem Land. Fast drei Viertel (73%) der russischen Bevölkerung lebt aber in Städten, rund die Hälfte davon in den 13 Millionenstädten: Moskau, Sankt Petersburg, Nowosibirsk, Jekaterinburg, Nischni Nowgorod, Samara, Omsk, Kasan, Rostow am Don, Tscheljabinsk, Ufa, Wolgograd (ehemals Stalingrad) und Perm, nur 27% leben auf dem in den Reiseberichten immer überproportional gezeigten Land. Sicher gibt es auch da Plattenbau-Siedlungen, die eher arm wirken. Natürlich sind 200 EUR Rente skandalös wenig und der russische Staat müsste endlich mehr unternehmen, um niedrige Renten oder auch niedrige Staatslöhne zu erhöhen. Aber es gibt einige Fakten, die muss man einfach erzählen, sonst bekommt man ein verfälschtes und unvollständiges Russlandbild.

Bei den Schilderungen russischer “Armut” übersehen viele, dass sich die “Betroffenen” selbst oft gar nicht so arm empfinden, vor allem wenn man bedenkt, woher sie kommen.

1. Fast 2/3 aller Russen hatten während der 90-er Jahre, in den Zeiten des postsowjetischen Zerfalls unter Jelzin, mit westlicher Demokratie, nicht einmal genug zu essen, Löhne und Renten wurden monatelang nicht bezahlt, Bildung, Medizin, Sicherheit lagen am Boden bzw. waren gar nicht mehr existent. Dieses Trauma steckt übrigens allen älteren Russen noch in den Knochen, die darunter leiden mussten. Die 90-er Jahre unter Jelzin und westlicher wirtschaftlicher Führung gelten in Russland als die schlimmste Zeit der letzten 80 Jahre.

Fast alle konnten ihre Situation seitdem verbessern. Und heute geht es mindestens 2/3 der Russen gut, sie haben ihre Wohnung, ihr Auto, eine – wenn auch verbesserungsbedürftige – medizinische Versorgung, ihre Kinder wieder Bildung, Sicherheit, die meisten können in den Urlaub verreisen …

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Entwicklung BIP in Russland
Von Dostojewskij – Eigenes Werk, CC BY-SA 4.0

2. In den letzten 20 Jahren hat der Staat fast alle Wohnungen an seine Bürger verschenkt, für über 90% der Russen entstehen keine Mietkosten. Die Kosten für Energie, Strom, Wasser, Gas sind äußerst gering, zusammen meist weniger als 50 EUR/Monat. Grundnahrungsmittel sind sehr günstig oder werden gar in der eigenen Datscha angebaut. Russen haben völlig andere monatliche Kosten. Das, wofür deutsche Familien oft mehr als 50% ihres Einkommens ausgeben müssen, entfällt für Russen fast völlig.

3. Als Russland seinen Bürgern die Wohnungen geschenkt hat, haben sie nur vergessen, das jeweilige Gemeinschaftsgut zu regeln: Hausfassaden, Treppenaufgänge, Lifte, Gärten … das alles gehört “niemandem”, kaum einer kümmert sich und deshalb findet man zwar oft wunderschöne, moderne Wohnungen, aber nicht selten in einem äußerlich heruntergekommenen, verwahrlosten Haus, oft in einer tristen Plattenbausiedlung.

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Wohnung in einer Plattenbausiedlung Wolgograd

Russland ist nicht arm, es ist reich. Das Vermögen ist nur asozial verteilt. Russland ist weltweit das Land mit der größten Ungleichverteilung des Vermögens. Obwohl die sozialen, wirtschaftlichen Fragen für die meisten Russen die dringendsten überhaupt sind, sehen die wenigsten die Dimensionen und Folgen der Ungleichverteilung der Vermögen. Das Meinungsforschungsinstitut Levada ermittelt regelmäßig, welche Probleme sie für sich persönlich am schwerwiegendsten erachten:

1. zu hohe Preise (63%)
2. Armutsrisiko (47%)
3. drohende Arbeitslosigkeit (40%)

Erst sekundär werden Probleme genannt wie

4. Korruption (35%)
6. Verteilungsgerechtigkeit (33%) …
14. Bürokratie (12%) …
20. Rechtsstaatlichkeit (7%).

Laut dem Suisse Global Wealth Report 2016 kontrolliert ein Prozent der russischen Bevölkerung mehr als 74,5 Prozent des Vermögens. Laut Rosstat-Statistik gelten in Russland 20,3 Millionen Menschen, also 13,9 Prozent der Bevölkerung, als arm.

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Modernes Moskau – Abb.: Creative Commons CC0

Russland ist unter Putin zwar stabiler und wohlhabender geworden, aber immer noch das oder eines der asozialsten Länder der Welt. Das Land tut fast nichts zur “Aufhebung von Ungleichheit und als Unterdrückung begriffenen Sozialstrukturen, zugunsten der wirtschaftlich oder gesellschaftlich Benachteiligten.”

Putins Politik hat Russland nach außen geschützt, von der IWF-Hoheit und westlichen Falsch-Beratern befreit und die ausländische Ausbeutung russischer Rohstoffreserven verhindert. Auch Ordnung, Sicherheit und Stabilität im Inneren wieder hergestellt. Auch hat sie Russland von der politischen Regentschaft der Oligarchen befreit. Wichtig und gut. Nur hat Russland vor dem entscheidenden Schritt gekniffen, das durch die Oligarchen verbrecherisch geraubte Volkseigentum wieder in irgendeiner Form zu renationalisieren. Wenn ich an Deutschland denke, welche Macht die Top100 mit knapp 2% entfalten, dann sind Top100-Oligarchen mit 35% des Volksvermögens und erwiesener krimineller Energie kein akzeptabler Zustand. Auch sind diese in ihren politischen Manipulationsmöglichkeiten momentan nur durch die Putinsche Machtvertikale gehindert. Dort aber, wo sie nicht wirken kann, auf regionaler Ebene, nutzen die Reichen und Mächtigen Korruption, die Schwächen mangelnder Rechtsstaatlichkeit zur Durchsetzung ihrer Interessen auf Kosten Schwächerer.

Joseph Stiglitz, Wirtschafts-Nobelpreisträger und Chef-Berater von Bill Clinton, damaliger Chefökonom der Weltbank, forderte eine 90%-ige Besteuerung für Veräußerungsgewinne der Privatisierungen, um die

“Wohlstandsplünderung in der Ära Jelzin zurechtzurücken.”
Am wichtigsten aber sei es, die Vergiftung und Gefährdung der Demokratie durch das Oligarchengeld in der russischen Politik zu mindern.

Auch dadurch bleiben die zahlreichen inneren Probleme ungelöst, keinerlei Fortschritt bei Korruption und Kleptokratie in Justiz oder Bürokratie. Einen zwar recht gesundenden privaten Mittelstand, aber das Millionenheer von Staatsbeamten, Ärzten, Polizisten, Lehrern mit 15-25.000 RUB monatlich, 250-400 EUR, asoziale Verteilungspolitik, 13% Flat-Tax ab 1 RUB Einkommen, degressive Sozialabgaben, was dazu führt, dass

Arme in Russland fast 43%, aber Reiche nur etwas mehr als 13% Abgaben leisten müssen

Innere Probleme wie ungenügende staatliche Leistungen für Rente, Bildung, Medizin, Infrastruktur, kein funktionierendes Gesundheitssystem, keine innovationsfähige Wirtschaft, fast alles rohstoffbasiert, ungebremster Kapitalabfluss ins Ausland, …

Russlands soziale und wirtschaftliche Probleme sind enorm. Gerade wir in Deutschland haben aber überhaupt keinen Grund (mehr), auf Russland mit Häme zu schauen. Es gibt in Russland viel mehr Aufbruch als Verfall, viel mehr Modernität als Tristesse. Leider verhindern die westlichen Aggressionen, dass alternative Politikentwürfe zur sozialen und wirtschaftlichen Entwicklung Russlands stärker zum Zug kommen, wie sie etwa Grudinin, der Kandidat der KP, bei den letzten Präsidentschaftswahlen in die Diskussion brachte. Aber angesichts der bedrohlichen Lage setzen die Russen derzeit wieder verstärkt auf Stabilität und Sicherheit, die Putin verkörpert, niemand will die positiven Entwicklungen, die Verbesserungen seit den 90-er Jahren wieder gefährden.

WM Isolation, Nationalismus, Militarismus: Sehnsucht nach alter Stärke

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Abb.: Creative Commons CC0

Immer wieder, auch bei der WM-Berichterstattung „ZDF: Russlands Geheimnisse“ werden Russlands angebliche Großmacht-Sehnsüchte bemüht: “Das größte Land der Erde, das sich nach alter Größe sehnt”, auch wenn man zur Untermauerung dieser Behauptung eine extremistische Nationalistin mit Kalaschnikow (“Covergirl der neuen Rechten RUS”) bemühen muss, die offensichtlich nicht unbedingt typisch für russische Frauen und auch nicht DEN russischen Blick auf die Welt sein kann. Klassischerweise bemüht man aber dafür in Deutschland direkt Wladimir Putin, der 2005 ja den

Zusammenbruch der Sowjetunion als “größte geopolitische Katastrophe des 20. Jahrhunderts”

bezeichnet hat. Mit diesem Zitat belegen die deutschen Mainstream-Medien stets Russlands Schmerz über den Zusammenbruch des Imperiums oder gar des ersten kommunistischen Staates, angebliche Bestrebungen nach alter Größe, Stärke und Macht sowie einer angeblichen, dem Westen gegenüber feindlichen Gesinnung. Addieren sie jetzt noch die angeblich aggressiven russischen Interventionen, etwa auf der Krim, ist für sie das russische Bedrohungsszenario, gegen das sich die NATO schützen müsse, perfekt:

eine russische “Sehnsucht nach dem Imperium, nach dem Status einer Supermacht, nach dem Sozialismus. … dem Stolz, Angehöriger einer der beiden Supermächte zu sein, und der Illusion, im wirtschaftlich-moralisch überlegenen System zu leben.”
“Es war deshalb für Putin ein Leichtes, diese nationalen Sehnsüchte für seine imperialistische Politik zu mobilisieren.”

Konrad-Adenauer-Stiftung

Laut einer repräsentativen Umfrage des unabhängigen Levada-Zentrums bedauern 58 Prozent der Russen (2000 gar 75%) den Zerfall der Sowjetunion.

“Alleine diese Zahl sowie die nostalgisch-patriotische Stimmung im Land zeigen, wie sehr die Zeit vor 1990 in die russische Gegenwart hineinwirkt.” (bpb 2017)

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Abb.: Creative Commons CC0

Dabei musste doch auch die KAS anerkennen, dass die Russen wie andere Sowjetbürger 1991 mehrheitlich für das Ende der UdSSR waren bzw. gar abgestimmt haben und dass ihr Schmerz über den Kollaps der UdSSR nichts mit patriotischen Supermacht-Sehnsüchten zu tun hatte, sondern vielmehr mit persönlichen Leiden, die diesem Kollaps nachfolgten:

“Unübersehbar waren die negativen Folgen, die sich aus dem Ende des multi-nationalen Imperiums ergaben: Jahrzehntelang waren Kirgisen nach Moskau, Litauer nach Omsk, Moldawier nach Baku oder Ukrainer nach Alma Ata gezogen … Auf einmal fanden sie sich durch Staatsgrenzen von ihren Familien getrennt oder als ethnische Minderheit in neugeschaffenen Nationalstaaten. In zahlreichen Fällen wuchsen sich die ethnischen Spannungen zu gewaltsamen Konflikten aus, etwa immer wieder zwischen Kirgisen, Usbeken und Tadschiken im Ferghanatal. An anderen Orten kam es sogar zu teilweise langjährigen Bürgerkriegen wie in Bergkarabach, Transnistrien oder Abchasien.”

Als ich 2011 zum ersten Mal mit Russen eine Diskussion darüber führte, begründeten viele den Schmerz in etwa so:

“in der Sowjetunion war es für die meisten einfachen Menschen besser, heute ist alles vor die Hunde gegangen, Bildung, Medizin, schau dir doch die Straßen an … alles kaputt, überall Müll … nachts kann man sich kaum noch nach draußen wagen, überall Mord und Todschlag, … die Armen leben viel schlechter als früher, haben viel weniger”“alles Verbrecher da oben, Gorbatschow hat uns alles genommen und Jelzin war der schlimmste von all den Verbrechern”

Als wir allein waren, ergänzte Wanja: “Ich bin froh, dass die Sowjetunion zu Ende gegangen ist, ich war lange in Deutschland, konnte reisen und arbeite heute international im IT-Bereich.”“aber für viele ist es schwer, sie haben viel verloren, manche alles, und da war niemand, wie bei Euch im Osten, der geholfen hat.”

Besonders auf dem russischen Land war die Lage damals wohl noch nicht viel besser geworden, herrscht immer noch ziemliche Depression. Ich erinnerte mich, was ich 2003 in Die ZEIT gelesen hatte:

Wer in Priorzernja die russische Seele sucht, wird eine gedemütigte, verzweifelte, sehnsüchtige finden. Früher, da war Kommunismus, und das war ein Segen fürs einfache Volk. “Wir sind das einfache Volk”, sagt Fjodor. Früher gab es Wohnung, Schule, Studium. Alles umsonst. Da blühten Wissenschaft und Medizin. Da kannte man keine Drogen und wusste nichts von Mord auf Bestellung. Breschnjew ist der Held des einfachen Volkes, Gorbatschow der große Verbrecher. Nach der Perestrojka sei alles niedergegangen. Wer einen kleinen Garten in die “Scheißokratie” retten konnte, durfte von Glück reden.

Und genau so empfinden die Menschen in Russland das Ende der UdSSR vor allem als menschliche, soziale Katastrophe, und nicht etwa als Verlust der Supermachtstellung, und genauso begründet es auch Putin, weitgehend vom Westen ignoriert und verfälscht:

“Das Allererste und Wichtigste besteht darin, dass 25 Millionen Russen sich über Nacht im Ausland befanden. Das ist tatsächlich eine der größten Katastrophen des 20. Jahrhunderts. In Russland selbst seien “die Sozial- und Krankenversorgung zusammengebrochen, ganze Wirtschaftssparten darnieder gekommen, die Armee fristete ein elendes Dasein, Millionen von Menschen rutschten unter die Armutsgrenze. In unserem Land kam es zu einem regelrechten Bürgerkrieg …”

Am 8. Dezember 1991 unterzeichneten Boris Jelzin, Leonid Krawtschuk und Stanislau Schuschkewitsch die formelle Auflösung der Sowjetunion, ohne Absprache mit Gorbatschow oder den zwölf anderen Sowjetrepubliken. Rund neun Monate davor hatten die Sowjetbürger bei einem Referendum mehrheitlich (76,4 Prozent) für ein Weiterbestehen der UdSSR gestimmt. Die meisten Russen verbinden die ersten postsowjetischen Jahre mit Chaos, totaler Armut und Raubkapitalismus.

Isolation: Die erste Entfremdung
Die westliche (Mit-)Verantwortung für Russlands Chaos in den 90-ern

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Abb.: Creative Commons CC0

In der frühen postsowjetischen Phase zu Beginn der 90-er waren die Russen noch voller Vertrauen und Hoffnung in den Westen. WELT: Daniel Biskup, Fotograf, Freund und Kenner Russlands: “Nach dem gesellschaftlichen Umwälzungen unter Gorbatschow und Jelzin Ende der 80er-, Anfang der 90er-Jahre dachten viele Russen, der Westen würde ihr Land mit offenen Armen empfangen. Damals hab’ ich Bilder gemacht von einem Soldaten im Bus mit russischer und amerikanischer Flagge. Auf einem anderen Bus stand: “Success – Russian American Joint Venture”. Das kann man sich heute schon nicht mehr vorstellen.”

Auch in der Politik und Wirtschaft erfolgte rasch die Orientierung an die USA. Naomi Klein beschreibt in ihrem Buch “Die Schock-Strategie: Der Aufstieg des Katastrophen-Kapitalismus” Jelzins rasche und sklavische Orientierung an Milton Friedman und »die Chicago Boys«, die im Zusammenspiel mit dem IWF Russland zu einer „rigiden finanziellen Stabilisierung nach Rezepten einer ›Schocktherapie‹.” zwangen. Russland war, ähnlich wie wir es in Griechenland erlebt hatten, aufgrund seiner Kreditabhängigkeit, dem Westen, dem IWF ausgeliefert. Klein beschreibt den Einfluss der USA: “Lawrence Summers, damals Staatssekretär im US-Finanzministerium, warnte, »der Schwung der russischen Reformen muss wieder belebt und intensiviert werden, um eine nachhaltige multilaterale Unterstützung sicherzustellen«. Der IWF vernahm die Botschaft, und ein versprochener Kredit von 1,5 Milliarden Dollar wurde nicht ausbezahlt.”

Der Westen hatte wie in Griechenland oder in der Ukraine den IWF geschickt, eine Armee an Beratern, Gesetzesschreiber. Statt Russland zu helfen, zerstörten sie die russische Wirtschaft, nutzten die russischen Märkte, trieben Russland zum Import 70% westlicher Waren und begannen, billig russische Rohstoffe abzuschöpfen. Sie trieben Russland eigennützig in Chaos, Verbrechen, Armut, Hunger und Fremdbestimmung. Sie zwangen Russland zu übereilten Privatisierungen, Währungs- und Preisfreigaben, zu schneller, unangepasster Übernahme westlicher Gesetze zur Demokratie und Freiheit, die allerdings nichts außer Freiheiten für Schurken und Verbrecher brachten. Der Staat war zusammengebrochen und musste 1998 den Bankrott erklären, er konnte weder für seine Bürger sorgen noch sie vor Verbrechen beschützen. Millionen Russen verloren in der sogenannten Rubelkrise, übrigens ausgelöst durch George Soros, ihre Altersersparnisse, die Inflationsrate stieg auf 85 %, viele Banken gingen in die Insolvenz und der Anteil der Armen Russlands stieg deutlich.

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Abb.: Creative Commons CC0

Professor Dr. h.c. Wolfgang Kartte †, 1976 bis 1992 Präsident des Bundeskartellamtes, 1992-1997 Wirtschaftsberater der Russischen Föderation im Auftrag der Bundesregierung und der Europäischen Union, beschreibt dies so:

“Das gängige Rezept des Internationalen Währungsfonds, nämlich großzügige langfristige Kredite, verbunden mit der Auflage offener Märkte und strikter Anti-Inflationspolitik auf Seiten der Empfängerländer, nützt in jedem Fall den westlichen Exporteuren und Rohstoffeinkäufern und freut die Banken und spekulativen Anleger in New York, London und Frankfurt. Die betroffenen Länder hingegen werden häufig überfordert, weil Anpassungsprozesse, die zweifellos notwendig sind, überstürzt eingeleitet werden. Sie bringen dann häufig schockartig soziale Verwerfungen mit sich, die den Transformationsprozess bei der Bevölkerung unglaubwürdig machen.”

“Die westlichen Berater Russlands haben ihr anfängliches Renommee inzwischen gründlich verspielt. Falsch war ohne Frage die einseitige Ausrichtung westlicher Ratschläge auf die Freigabe der Preise, die Öffnung der Märkte und die Bekämpfung der Inflation. Die Behauptung amerikanischer Monetaristen der sogenannten Chicago-Schule, offene Märkte, staatlich garantierte Verfügungsrechte und stabiles Geld reichten aus, um eine Marktwirtschaft spontan entstehen zu lassen, hat sich, zumindest für Russland, als fataler Irrtum erwiesen.”

Und auch der ehemalige Chef-Berater von Clinton, der damalige Ökonom der Weltbank und Nobelpreisträger Joseph Stiglitz, warf dem IWF/Westen eine falsche Politik zum systematischen Plündern der Schwellenländer, insbesondere auch Russland, vor.

Michail Gorbatschow fasst die russischen Irritationen und Entfremdungen 2007 so zusammen:

“Jelzin hat alles zerschlagen und man hatte das Gefühl, der Westen freut sich, wenn es Russland schlecht geht.”

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Isolation – Entfremdung mit dem Westen

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Das westliche Naarativ vom isolierten Russland. links: ARD, rechts Wirklichkeit

Die Behauptung, Russland stehe allein und isoliere sich zusehends von dem Rest der Welt, ist ein beliebtes Narrativ westlicher Geschichtenerzählung. Richtig ist, dass sich Russland nach den negativen Erfahrungen der 90-er Jahre, nach den ausgeschlagenen Partner- und Friedensangeboten Putins, den imperialistischen USA/NATO-Interventionen im Irak, Libyen, Georgien, Ukraine oder in Syrien sowie der zunehmenden Hetze des Westens gegen Russland nicht mehr blind dem Westen anvertraut.

Seit Jahren ist es der Westen, der eine mediale und politische Abdrängung und Isolation Russlands betreibt. Statt Russland als Partner in einer friedlichen Welt aufzubauen, baute der Westen Putin und mittlerweile ganz Russland als Feindbild auf. Statt den Ausgleich berechtigter Interessen aller Beteiligten zu suchen, setzte der Westen aggressiv seine Interessen und Werte rücksichtslos durch. Selbst jetzt stellt sich Russland sicher nicht gegen die ganze Welt, allein in den BRICS-Partnerstaaten Russlands lebt ein Vielfaches mehr an Menschen als in denen der USA/NATO.

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Russlands neue Partner; Abb.: Creative Commons CC0

“Der größte Fehler von unserer Seite in Bezug auf den Westen war, dass wir ihm zu sehr vertraut haben”, sagte Putin. “Und ihr Fehler war, dass sie dieses Vertrauen als Schwäche wahrgenommen und es missbraucht haben”, fügte er hinzu.

WELT: Daniel Biskup, Fotograf, Freund und Kenner Russlands: “Ich denke, das hat was mit enttäuschter Liebe zu tun. … De facto aber hat der Westen die Geschehnisse damals zu einer Art finalen Episode im Kampf der Systeme – Kommunismus gegen Kapitalismus – umgedeutet. Der Aufbruch, den die Russen sich selbst verordnet hatten, wurde als Sieg des Westens über den Osten interpretiert. Das haben die Russen gespürt. Das hat sie gekränkt. Denn sie wollten als Partner auf Augenhöhe behandelt werden.”

Russland blieb nichts anderes übrig, sich nach neuen Partnern und Verbündeten umzuschauen. Der Westen jedenfalls hat Russland als Partner ausgeschlagen, hätte Russland nur als sich bedingungslos unterwerfenden Vasall akzeptiert.

Sämtliche Vorschläge Russlands für partnerschaftliche Zusammenarbeit seit 2001 wurden vom Westen zwar wohlwollend zur Kenntnis genommen, aber ebenso auch mitleidig belächelt und für unnötig befunden. Auf den Verlierer des Kalten Krieges müsse man keine Rücksicht mehr nehmen, der habe sich dem US/NATO-Hegemon und seinen Kriegen und Interventionen einfach zu unterwerfen – so der Tenor der westlichen Politik.

Und Russland hat lange untätig zugeschaut, wie der Westen ein Land, eine Partner Russlands nach dem anderen bombardierte, überfiel und/oder einem Regime-Change aussetzte bzw. diesen ungehemmt beförderte (Farbrevolutionen), sei es Serbien, Afghanistan, Georgien, Irak, Libyen oder Syrien. “Die Erfahrungen mit der Libyen-Intervention der NATO 2011 und dem gewaltsam induzierten Regimewechsel in diesem Land wirkten sich direkt auf diese Haltung Russlands aus.” Prof. Gerhard Mangott Und selbst danach habe Russland in Syrien, so Mangott weiter, noch lange auf eine friedliche Lösung hingearbeitet. Doch auch in Syrien hat der Westen seine Regime-Change-Interventionen hemmunglos weiter getrieben und beim Putsch in Kiew 2014 endgültig zu weit getrieben und Russland so zu Konsequenzen gezwungen.


Münchner Konferenz für Sicherheitspolitik, 1. Februar 2014: US-Aussenminister trifft sich drei Wochen vor dem Umsturz in der Ukraine mit der Maidan-Opposition, Petro Poroschenko, Witali Klitschko und Arsenij Jazenjuk. Abb.: Marc Müller, Creative Commons

Als Russland sich diese imperialistischen US-NATO-Interventionen, -Regime-Changes und -Kriege gegen alle russischen Partner-Länder nicht mehr gefallen lassen konnte, wurde das Land vom Westen in die Isolation getrieben und zum Feind erklärt, was Gabor Steingart, damals Herausgeber des Handelsblatts in “Politik der Eskalation: Der Irrweg des Westens” scharf kritisierte: “Der deutsche Journalismus hat binnen weniger Wochen von besonnen auf erregt umgeschaltet. Das Meinungsspektrum wurde auf Schießschartengröße verengt. … Westliche Politik und deutsche Medien sind eins.”, was auch Gabriele Krone Schmalz in ihrem jüngsten Buch “Eiszeit” beklagte. “Putin ist der Gegner der freien Welt, der sich der Verbreitung des “Guten” in den Weg stellt.“

Aus westlicher Sicht liest sich das so: “Auch darf nicht unterschätzt werden, wie sehr Russland immer noch nach dem richtigen Weg sucht, sich zu organisieren und die für sich passenden politischen und gesellschaftlichen Strukturen aufzubauen. In Russland selbst ist deshalb oft von einem eigenen Weg die Rede. Die Idee, einfach westliche Standards und Strukturen zu kopieren, gilt als gescheitert. (bpb 2017)

“Wir sind in der Lage, viel zu verzeihen. Arroganz nicht.”

Die Chefredakteurin Margarita Simonjan von “Russia Today” erklärt, in einem persönlichen Statement nach den Präsidentschaftswahlen 2018, warum immer mehr RussInnen Putin unterstützen – und sich vom Westen abwenden:

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Abb.: kremlin.ru

“Wir wollen nun nicht mehr so weiterleben wie ihr. Etwa 50 Jahre lang wollten wir – insgeheim oder ganz offen – so leben wie ihr, nun aber nicht mehr.” Und schuld daran seid ihr, my Western friends. Ihr selbst habt bei uns das “Russen ergeben sich nie”-Programm eingeschaltet.

Und jetzt habt ihr dafür gesorgt, dass wir euch nicht mehr respektieren – mit euren kurzsichtigen Sanktionen, der herzlosen Erniedrigung unserer Sportler (einschließlich der Behinderten), euren Skripals und der demonstrativen Gleichgültigkeit gegenüber liberalen Grundwerten wie der Unschuldsvermutung. … Mit all euren Ungerechtigkeiten und Grausamkeiten, den inquisitorischen Heucheleien und den Lügen – mit all dem habt ihr uns dazu gebracht, euch nicht mehr zu respektieren. Euch und eure so genannten Werte. Ihr selbst habt dafür gesorgt, dass bei uns Patriotismus jetzt als Gegensatz zum Liberalismus gilt, obwohl diese Konzepte einander nicht ausschließen.

Ihr habt dafür gesorgt, dass wir uns in diesem verlogenen Dilemma für den Patriotismus entschieden haben. Dabei sind ja viele von uns Liberale. Ich zum Beispiel.”

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Russland Nationalismus??

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Abb.: Creative Commons CC0

Schon allein aufgrund seiner heterogenen Struktur könnte die russländische Föderation einen einheitlichen Nationalismus nicht einfach so umsetzen. Zu groß sind die kulturellen, ethnischen, religiösen und/oder abstammungsbedingten Unterschiede. Russland ist einer der am meisten multinationalen und -ethnischen Staaten der Welt. In Russland leben Vertreter von etwa 140-160 Nationalitäten und ethnischen Gruppen. Zwar sind etwa 3/4 ethnische Russen, aber in der Föderation leben auch 5 Mio. Tataren, 3 Mio. Ukrainer, 2 Mio. Baschkiren, 2 Mio. Tschuwaschen, 1,5 Mio. Tschetschenen, 1,2 Mio. Armenier, je knapp 1 Mio. Mordwinen, Awaren, Weißrussen, Kasachen, Udmurten, Aserbaidschaner, Marier, Deutsche, Kabardiner, Osetiner, Darginer oder je 0,5 Mio. Burjaten, Jakuten, Kumyken, Inguschen, Lezgen, teilweise in autonomen Teilrepubliken.

Rund ein Drittel bis die Hälfte der Russen bezeichnen sich als Orthodoxe, ferner leben aber auch rund 20 Mio. Muslime, 3 Mio. andersgläubige Christen, knapp 2 Mio. Buddhisten und 0,5 Mio. Juden in dem multireligiösen Vielvölkerstaat Russland. Die Jüdische Autonome Oblast ist eine autonome Verwaltungsregion Russlands. Tatarstan, Tschetschenien, Dagestan sind autonome islamische Republiken.

Das multi-nationale und multi-ethnische Russland

Immer wieder schwärmen einige russlandfreundliche AfD-ler, in Russland würde Putin noch “richtig” nationale, anti-islamische Politik machen. “Putin ist kein Islamkuscher. Der wird mit den Terroristen fertig.” – Das ist natürlich Unsinn, reine Fantasie.

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Abb.: Creative Commons CC0

Das Foto bspw. zeigt Muslime zum Opferfest in Moskau. Wohl kaum etwas, was Pegida-Herzen höherschlagen lässt. Allein in Moskau leben 2 Mio. Muslime, in einigen Republiken des Kaukasus oder Tatarstan sind sie in der Mehrheit und dürfen bspw. sogar regional Kopftuchpflicht einführen. Und von wegen “national”. Russland ist eine Föderation aus über 100 verschiedenen Ethnien und 38 (!) anerkannten Amtssprachen. Man mag hier ja patriotisch sein … aber mindestens ebenso selbstverständlich multi-ethnisch und multi-religiös.

Und Putin, oder besser Russland, dämmte islamistischen Terror auch nicht (nur) durch Härte und Verfolgung ein, sondern vor allem (auch) durch überdurchschnittliche Aufbauhilfe und Modernisierung für den Kaukasus, etwa des ehemals von der Scharia heimgesuchten Tschetscheniens, einer Teilrepublik, die neben Dagestan oder auch Tatarstan besonders von den wahhabitischen Staaten Saudi-Arabien, Vereinigte Arabische Emirate oder Katar mit Predigern, Söldnern und Terroristen unterwandert wurde. Dorthin fließen Milliarden, Grosny bekommt das höchste Gebäude Europas, die islamische Teilrepublik Tatarstan gilt mit als die reichste und modernste u.v.m.

Außerdem bekennt sich Präsident Putin stets so zum Islam in Russland, dass PEGIDA-Anhänger in Schockstarre verfallen würden.

“Der traditionelle Islam ist Teil der russischen Kultur”

“Muslime sind ein wichtiger Teil des russischen, multinationalen Volkes.”

Russland ist aus gegenseitigen Bereicherungen der Kultur, der Tradition und der Religionen entstanden und zieht daraus seine Eigenart und Kraft.

Der Kreml unterstützt den Aufbau und Erhalt muslimischer Ausbildungsstätten in der Föderation, die Selbständigkeit der islamischen Teilrepubliken. So erlaubt Russland die faktische Kopftuchpflicht, Alkoholverbot in Tschetschenien. u.v.m. “Russland kuscht nicht vor dem Islam.” Der Islam gehört selbstverständlich zu Russland, er ist ein großer Teil seiner Identität. Die ARD-Reportage “Unser Russland” zeigt in Teil 4 zum einen, wie Tatarstan den Angriff des politischen Islamismus abwehren und wie sich in Kasan und der ganzen Republik ein friedliches Miteinander von Orthodoxie und Islam entwickeln konnte.

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Staat, orthodoxe Kirche und islamische Moschee friedlich nebeneinander
Kasaner Kreml, Sitz der Regierung von Tatarstan, Mariä-Verkündigungs-Kathedrale, Kul-Scharif-Moschee – Abb.: Creative Commons CC0

Putin und seine Regierung verfolgen deshalb auch keineswegs einen russischen Nationalismus, ganz sicher nicht nach innen. Russischer Nationalismus betont den rassischen und ethnischen Gedanken, ein Russe zu sein, und grenzt viele Völker der heutigen russländischen Föderation aus. “Schluss mit dem Durchfüttern des Kaukasus” fordern sie etwa unter ihren schwarz-gelb-weißen Fahnen und kämpfen gegen eine Islamisierung Russland. Vertreter dieses rassischen Russentums sind etwa Eduard Limonow und Alexander Dugin, Gründer der Nationalbolschewistischen Partei Russlands, Dugin dann der Eurasischen Partei. Und eben Nawalny, der den sogenannten Russischen Marsch der Ultranationalisten aktiv unterstützte und wiederholt zum Rassenhass insbesondere gegen Kaukasier oder Zentralasiaten anstachelte. Das ist das russische Pendant zu den Ukra-Faschisten und Nazis der Svoboda und dem Rechten Sektor. Schirinowski ist dabei nur ein Hofnarr des Kreml, der Sprüche von links nach rechts brüllt, aber in wichtigen Fragen immer mit dem Kreml stimmt – ein Auffangbecken für Unzufriedene.

Russischer Patriotismus hingegen will diese verschiedenen Völker und Religionen aber in einem Staat einen:
“Das russische Volk”, das sind Menschen, die ihr Bewusstsein unabhängig von der ethnischen Zugehörigkeit auf der Tradition der tausendjährigen russischen Staatlichkeit gründen, zur russischen Kultur gehören und/oder russische Sprachen sprechen. Wer das Land voranbringt, der ist ein Russe”, erklärte etwa der Historiker Juri Krupnow. Die russländische Föderation als multi-ethnische und -religiöse Gemeinschaft ist auch Kreml-Position. Neben Traditionalismus soll dieser Patriotismus dem fragilen Gebilde Russische Föderation eine gemeinsame Identität geben, die nicht auf Russentum der Rasse oder Religion beruht.

Wenn überhaupt müsste man Tendenzen zu einem russischen Nationalismus nach außen hin suchen. Man kann die Kreml-Politik berechtigterweise mit vielem belegen, autokratisch, imperialistisch, o.ä. aber sie ist weit entfernt davon, rassistisch oder islamfeindlich zu sein.

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Auch wenn Nationalismus in Russland nicht Mainstream oder bestimmende Politik ist, kann schon von der derzeit herrschenden patriotischen Welle ein allzu großer Druck auf Andersdenkende bzw. sogar nur auf Nichtinteressierte ausgehen. Ein(e) SchülerIn bspw., die/der eines der ganz wenigen begehrten Stipendien zum kostenlosen Studieren bekommen will, sollte sich besser an den staatstragenden Aktivitäten beteiligen. Art und Weise der Krim-Eingliederung zu kritisieren u.ä. führt eben auch schnell zu einem Stempel als unpatriotisch. Aber auch das ist aus Deutschland nicht unbekannt. Auch unsere Wiedervereinigung war Verfassungsauftrag, Widerstand gegen die Merkel-Flüchtlingspolitik wurde vom Mainstream “tabuisiert” – wir haben nur andere Etiketten dafür als unpatriotisch.

Russlands Militarismus

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Abb.: Creative Commons CC0

SPIEGEL: 75 Jahre Stalingrad – Kampf um die Erinnerung

“Je weiter der Sieg zurückliegt, desto mächtiger scheinen die Paraden. Kampfjets donnern über den “Platz der gefallenen Kämpfer”. … “Wir zeigen, was wir können”

“Unter Präsident Wladimir Putin ist das staatliche Gedenken immer militärischer geworden.”

Letzteres bleibt eine Behauptung, die nicht belegt wird, deren Wahrheitsgehalt für niemanden in Deutschland überprüfbar ist, nur in den Echokammern gleichgerichteter deutscher Propaganda ständig wiederholt wird. Der SPIEGEL-Aufmacher zeigt ein Bild von Putins Gedenken am Mahnmal “Mutter Heimat”. Denn obwohl das Gedenken angeblich immer militärischer und mächtiger werden soll, lässt sich kein passendes Bild von Putin finden. An der angeblich so zentralen und wichtigen Militärparade nahm Putin, obwohl vor Ort, nämlich auch gar NICHT teil….

Handelsblatt: Wie Russland die Schlacht um Stalingrad heute ausnutzt

derstandard.at – Rückkehr nach Stalingrad nach 75 Jahren

“Je weiter der Sieg zurückliegt, desto größer und pompöser werden die Paraden”

“Das zeigt zwei Tendenzen an: Erstens gibt es in der jüngeren Vergangenheit wenig zu feiern für die Russen. Zweitens deuten sie auf die zunehmende Militarisierung der russischen Gesellschaft hin.”

Wieder diese Behauptungen, die nicht belegt sind, deren Wahrheitsgehalt für niemanden in Deutschland überprüfbar ist, nur in den Echokammern gleichgerichteter deutscher Propaganda ständig wiederholt wird. Wenn Frankreich den Sturm auf die Bastille jährlich mit einer ebenso großen Militärparade begeht, ist es für die deutschen Medien was? Folklore? Wenn Russland seinen militärischen Sieg bei Stalingrad im 2. Weltkrieg AUCH mit einer Militärparade begeht, ist es für die deutschen Medien zunehmender Nationalismus und Militarismus!

Die ganze Woche über gab es mehr als 200 verschiedene Veranstaltungen zum 75-jährigen Jubiläum des Sieges in der Schlacht von Stalingrad, neben der Militärparade Konzerte, eine Lasershow, ein Feuerwerk, Lesungen von Gedichten und Briefen über den Krieg, interaktive Ausstellungen, Videoinstallationen, Kranz- und Blumenniederlegungen, Veteranen-Ehrungen, Empfänge, … auch der russische Präsident Wladimir Putin kam. Auf dem Mamajew-Hügel legte er einen Kranz an der Ewigen Flamme nieder und Blumen am Grab von Veteranen, traf sich mit Schülern. Dann besuchte der Präsident ein Gala-Konzert. Hier gratulierte er den Veteranen zum Sieg und besuchte noch das interaktive Historische Museum.

Der Vorwurf deutscher Medien über angeblich zunehmenden russischen Militarismus hat erkennbar System und wird jährlich immer wieder propagandistisch und verfälschend erneuert. Während in Wolgograd am Tag des Sieges aber kaum 20.000 Menschen die Militärparade besuchen, sind es immer 100-200.000 Menschen, die am sogenannten Besmertni Polk teilnehmen oder zusehen, einer russischen Graswurzelbewegung, bei der Familien die Bilder ihrer Vorfahren friedlich und singend durch die Stadt tragen und so ihrer Opfer feierlich gedenken. In ganz Russland tun das mittlerweile 5-10 Millionen Menschen. Diese feierlichen und friedlichen Bilder werden in den deutschen Medien aber permanent versteckt, dafür die der Militärparaden ins Zentrum gerückt.

Auf der Basis der eigenen, verengten Berichterstattung lässt sich dann sogar wie im Handelsblatt oder im Standard völlig wirklichkeitsverleugnend behaupten:

“Die Opfer geraten bei den jetzigen Feierlichkeiten aber in den Hintergrund.”

Eine unfassbare Groteske, wenn man sich das Veranstaltungsprogramm oder das Besuchsprogramm Putins anschaut oder die Feierlichkeiten selbst erlebt hat.

Es ist unfassbar, dass sich ausgerechnet Deutschland, das sich jedem offiziellen Gedenken an die über 20 Millionen sowjetischen Opfer des deutschen Vernichtungskrieges verweigert, erhebt, um über fehlendes russisches Opfergedenken zu klagen.

Diktatur ohne Meinungs-, Demonstrations- oder Pressefreiheit und ohne Rechtsstaatlichkeit

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Abb.: Creative Commons CC0

Unterhält man sich etwa in Berlin-Mitte mit Bekannten, Freunden, selbst aus sogenannten Bildungs-Schichten, dann bekommt man als bekennender “Russlandversteher in Ausbildung” Sätze an den Kopf geknallt wie:

“Die Russen müssen doch das machen, was Putin will.”

“In Russland gibt es doch keine Zeitung, die kritisch über die Krim-Annexion berichten darf.”

“Putin lässt doch jede Demo gegen seine Politik verbieten”

“In Russland darf man doch seine Meinung gar nicht frei äußern. Die Stasi ist doch dort überall.”

“Putin lässt doch jeden verschwinden, der ihm nicht in den Kram passt!”

“Es herrscht ein absoluter Mangel an kritischem Denken. Propaganda! Was man ihnen erzählt, das glauben sie …” beschwert sich die deutsche Berichterstattung oft über die Leichtgläubigkeit der Russen. Wenn ich mit obigen Kommentaren konfrontiert werde, stelle ich fest: Offensichtlich hat auch die deutsche Propaganda ganze Arbeit geleistet.

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“In Russland herrscht keine Meinungsfreiheit – Kritiker werden weggesperrt”

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“Gibt es in Russland Meinungsfreiheit? Abb.: Creative Commons CC0

Meinungsfreiheit? … Nein! …. Doch, ja …. ein bisschen … vielleicht auch mehr …

Eigentlich unfassbar, dass man es erwähnen muss: “Es ist nicht so, dass man etwas gegen Putin sagt, in der nächsten Nacht kommt ein abgedunkelter Lieferwagen und am nächsten Tag gilt man als plötzlich verschwunden und findet sich in einem Gulag wieder. Viele Russen sind keine Putin-Anhänger, stehen dazu und leben ganz normal außerhalb von Gefängnissen. Dennoch herrscht natürlich auch keine echte Meinungsfreiheit – wir befinden uns in einer Graustufe dazwischen.” Roland Bathon russland.news.

Wer sich schon einmal politisch mit Russen unterhalten hat, der weiß, wie kritisch, z.T. verächtlich, sich diese über ihre Regierung, Politiker, Staatsbeamten äußern – privat, öffentlich, immer wieder, ohne jede Hemmungen oder irgendwelche Gefahr. Kritiker werden nicht einfach – wie immer wieder in westlichen Medien behauptet – weggesperrt.

Aber ja, wer beim Staat als Professor, Lehrer oder Journalist Karriere machen will, der sollte sich in Russland besser nicht außerhalb des Mainstreams stellen. Vielfach wird Druck ausgeübt, der Linientreue oder gar vorauseilenden Gehorsam fördert. Das ist zu kritisieren. Aber sicher nicht von oben herab. Denn wie werden systemkritische Journalisten, Professoren in Deutschland behandelt? Wer beschäftigt die denn noch? Werden kritische Stimmen in Deutschland nicht vom Mainstream als Verschwörungstheoretiker, Querfrontler bekämpft und ausgegrenzt?

Aber selbst bei der systemkritischen Opposition “echte” Kommunisten, Sozialisten bzw. prowestliche Liberale und Neofaschisten sollte man sich laut Roland Bathon von der Vorstellung verabschieden, jede Betätigung dieser Gruppen würde durch sofortige Verhaftung und Verbannung nach Sibirien beendet. Die Einschränkungen der Meinungsfreiheit in Russland sind heute viel subtiler.

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Protest gegen Putins Ukraine-Politik, Moskau 15.3.2014 Abb.: Wikimedia Commons

“Warum kommen so viele russische Oppositionelle ins Gefängnis?
Weil sie Oppositionelle sind. Zwar werden sie nicht deswegen verknackt, aber der Zusammenhang zwischen Strafmaß und politischer Orientierung ist nicht zu übersehen.”

klagt die Rossijskaja Gaseta, laut Wikipedia der russischen Regierung mit einer Auflage von 432.000. “Vom Umgang mit der Opposition: wegsperren oder umarmen?”

Eine Schuldirektorin wurde gekündigt, weil sie Exkursionen ihrer Schüler mit finanzieller Beteiligung der Eltern abhielt, was in Russland zwar verboten, aber allgemein üblich ist. Ihre Tochter war als Nawalny-Unterstützerin aktiv. Das schien einigen Eltern nicht gefallen zu haben, die sie gemeldet haben …

Roland Bathon: Das beste Paradebeispiel ist wie so oft Pussy Riot. Diese und die Künstlergruppe “Wojna”, aus der sie entstanden ist, gab es nicht erst ein paar Wochen vor der Verhaftung. Sie war schon länger zutiefst oppositionell aktiv. Pussy-Riot-Auftritte gab es vor der Christ-Erlöser-Kathedrale bereits in der Metro, in Einkaufszentren und am Roten Platz. Wojna machte die verschiedensten provokanten Aktionen, vom Gruppensex im Museum bis zum vaginal eingeführten Tiefkühlhähnchen. Der Staatsapparat schlug jedoch erst dann richtig zu, als Pussy Riot etwas taten, was nach russischem Recht eindeutig gesetzeswidrig ist und von der russischen Bevölkerungsmehrheit deutlich missbilligt wurde: Das Punkgebet in der Christ-Erlöser-Kathedrale, dem wahrscheinlich wichtigsten orthodoxen Kirchenbau Russlands. Die “Störung der Religionsausübung” ist, wie in Deutschland, in Russland unter anderer Bezeichnung unter Strafe gestellt und man nutzte die Chance, die ungeliebten Oppositionellen nun scharf abzuurteilen. Jetzt war auch die eigene Bevölkerungsmehrheit einverstanden.

Die Verurteilung von Nawalny, Chodorkowski oder Pussy Riot sind aber nur eine Seite der Medaille. Die andere ist genauso fragwürdig:

Warum sitzen so viele Menschen, die Verbrechen begangen haben, oder zumindest dessen verdächtig sind, in Russland nicht im Gefängnis?
Weil sie auf die eine oder andere Weise zum Lager der “Macht” gehören.”
Rossijskaja Gaseta

Zumindest im Russland der 90-er bis Anfang der 00-er Jahre haben fast alle Unternehmer, Selbständige irgendwie gegen das Gesetz verstoßen, so zahlten nur 5% der Unternehmen überhaupt ihre Steuern, Korruption herrschte allerorten. Es war und ist also ein Leichtes, jemandem “etwas anzuhängen” und dafür die von Reichen und Mächtigen leicht instrumentalisierbare Staatsanwaltschaft, Gerichtsbarkeit einzusetzen: Der eine wird für etwas verurteilt, wofür der andere nicht einmal angeklagt wird.

Die Korruption im Lande und die Vorteilsannahmen von Politikern ist ein Riesenproblem:

“Es ist eine traurige Sache mit der Gerechtigkeit in Russland. Eigentlich müsste man fast die gesamte politische und wirtschaftliche Elite des Landes einsperren, inklusive zahlreicher Figuren, die heute Opposition spielen. Aber das geht natürlich nicht. Wer soll denn dann das Land regieren?”
Rossijskaja Gaseta

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Bei diesen Zeilen erinnerte ich mich an das Gespräch mit Wanja:

Und Demokratie?” fragte ich … Schallendes Lachen.

“Demokratie? Dermokratie heißt das bei uns … von дерьмо́, die Scheiße [vulg.]” … “sicher ist Demokratie ein schönes Ideal … aber was willst du machen, wenn alle, die das Volk wählt, ohnehin nur an sich denken und machen, was die Oligarchen wollen … Demokratie in Russland bedeutet doch nur, dass du bestimmst, wer das Geld bekommt, damit er das macht, was den Oberen nutzt. Egal, was du machst, wen du wählst, als Volk bleibst du immer in der Scheiße.” …

“Gibt es denn keine Guten?”

“was glaubst du, wie lange einer überleben würde, der wirklich für das Volk gegen die Mächtigen arbeitet?” … überleg doch mal, was passiert, wenn einer wie Petuchow* wirklich mal was gegen die Oligarchen, für das Volk macht?… er wird einfach umgebracht … oder … xyz … oder kritische Journalisten wie zxy … oder die Politkowskaja …?

* Bürgermeister Petuchow wurde nach “Volksmeinung” von Chodorkowskis Leuten umgebracht, weil er diesen nötigen wollte, seine Steuerschulden zu bezahlen.

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So oder so ähnlich denken viele Russen, “die da oben” machen ohnehin alles nur zu ihrem eigenen Vorteil, Demokratie kannst du vergessen, klappt nicht … (in Deutschland?) Besonders nach den Erfahrungen in den 90-ern, wo Demokratie hohl blieb und nur zu Hunger, Chaos und Untergang führte – ohne dass die einfachen Menschen von irgendjemandem geschützt wurden.

Für Russen bedeuten Menschenrechte in erster Linie eine würdige, geschützte, medizinisch versorgte Existenz, dass ihr Leben materiell halbwegs gesichert ist, was man ja durch die schmerzhaften Verbrechens- und Hunger-Erfahrungen, die die Russen in den 90-ern machen mussten, auch verstehen sollte.

Zu ihren drängendsten Problemen zählen sie deshalb zu hohe Preise (63%) – viele Russen kalkulieren “hart am Limit” – ein Armutsrisiko (47%), drohende Arbeitslosigkeit (40%).

Begrenzte Bürgerrechte oder demokratische Freiheiten (Presse- und Meinungsfreiheit) halten lediglich 2-5% in Russland für ein Problem, mangelnde Rechtsstaatlichkeit 7%.
Meinungsforschungsinstitut Levada-Center

Die WELT kommentierte das Ergebnis: “Die Menschen haben andere Probleme, als sich über die Vorzüge demokratischer Freiheiten Gedanken zu machen.”

Es ist sicher richtig, dass die Russen andere Probleme haben, das genau sagen sie ja selbst, aber zum anderen konnte ihnen auch noch niemand die “Vorzüge demokratischer Freiheiten” beweisen, jedenfalls nicht in den sogenannten “demokratischen West-90-ern”, wo Freiheit nur Freiheit für Kriminelle (Oligarchen) bedeutete, sich auf Kosten der einfachen Menschen zu bereichern – ohne dass diese von irgendjemandem geschützt wurden. Und zum weiteren bedeuten diese 2-5% auch, dass die allermeisten Menschen überhaupt keine Defizite für sich bzgl. fehlender Meinungsfreiheit erkennen können – sie können sagen, was sie denken, und tun das auch.

Entgegen der westlichen Berichterstattung tun sie das etwa auch bei den jährlichen Putin-Bürgerfragestunden, 4-5 Stunden live im Fernsehen, und reflektieren so die Probleme des Landes, die seine Bürger wirklich interessieren. Auch die TV-Diskussionen enthalten fast immer oppositionelle Vertreter, Ukra-Nationalisten, gar US-Journalisten, auch wenn die Moderation die Mainstream-Dominanz ausübt – aber auch das ist in Deutschland ja nicht unbekannt, in den Fällen, in denen systemkritische Opposition gegen NATO, gegen Neoliberalismus überhaupt eingeladen wird.

WM
ARD “Unser Russland”

Im Gegensatz zu dieser Erkenntnis stellt sich ARD-Moskau-Korrespondent Udo Lielischkies immer wieder vor die Kamera und zeichnet das Bild einer Diktatur, spricht von Russen, die sich nicht trauen, vor der Kamera ihre Kritik an der Regierung zu äußern. Er beklagt, viele Russen zeigten neuerdings Scheu, vor westlichen Kameras aufzutreten. Und er kennt auch den Grund. Sie hätten Angst vor Repressionen, Kritik gelte in Russland neuerdings als unpatriotisch. Ein aus seiner Sicht weiterer Beleg für Einschüchterung, für fehlende Meinungsfreiheit in Russland.

Aber haben denn nicht auch viele Deutsche Scheu, in russischen Sendern aufzutreten oder gar nur deren Nutzung einzugestehen? Es gibt Dutzende Boykottaufrufe gegen RT Deutsch. Schon einfache Links auf deren Veröffentlichungen führen oft genauso zur Ausgrenzung und Verleumdung – die NachDenkSeiten waren oft genug selbst Opfer – nicht als unpatriotisch, aber als Aluhutträger, Wahnwichtel, Verschwörungstheoretiker, Querfrontler. Gibt ein deutscher Politiker ihnen doch mal ein Interview, wird er vom Mainstream scharf kritisiert, er unterstütze und “adle” ein russisches Propagandainstrument. Treten deutsche Journalisten, Wissenschaftler, Sportler, Künstler in “russischen Propagandasendern” auf, selbst nur im Kultur-Programm, beginnen Verfolgungskampagnen und Anklagen, sie seien Hilfe für Putins Russen-Sender, sie würden Putins Propagandamaschine bedienen, so wie etwa bei “TV-Bösewicht” Claude-Oliver Rudolph, der eine Kultur-Diskussionsshow bei RT führen wollte. Wie ist es, Putins Propaganda zu verbreiten? oder “Ein deutscher Schurke im Dienste Wladimir Putins“.

Das deutsche Attribut “Putinversteher“, das es sogar in die englische Wikipedia schaffte, wird heute zur Ausgrenzung und Geißelung jedes nicht hasserfüllten, kriegs- oder mindestens sanktionsschreienden Diskutanten, Politikers oder Journalisten benutzt. Sind das keine Belege für Einschüchterung, für Versuche, die Mainstream-Meinung zu verabsolutieren, Meinungsfreiheit faktisch zu begrenzen? Man sollte die gemachten Vorwürfe eben schon realistisch und damit auch moralisch einordnen. Und der politische Mainstream generell übt eben Druck aus auf systemkritische Opposition. Es ist sicher so, dass es in Russland dafür eher juristische Einschränkungen geben kann, Rechtsstaatlichkeit allgemein funktioniert nicht … Aber will man in Deutschland gerade in den Medien, Wissenschaft oder gar in der Politik Karriere machen, sein Geld verdienen, kommt man ebenso schnell an faktische Grenzen der Meinungsfreiheit, wird man ebenso auf Mainstream-Linie genötigt wie in Russland.

Mag sein, dass der ein oder andere Russe sich scheut, öffentlich gegen den russischen Mainstream zu agieren. Entscheidender aber ist, dass auch in Russland die Höhepunkte deutscher Propaganda gegen Russland im TV gezeigt werden, die ZDF-Falschberichte mit gekauften Kronzeugen über einen angeblichen russischen Krieg in der Ukraine, unbelegte Schauermärchen über russische Schwulen-KZs von Golineh Atai oder gerade auch hochaktuell, die ARD-Kampagne gegen Russland und sein angebliches Staatsdoping, die zum Ausschluss russischer Sportler von der Olympiade führten und in Russland zu einer breiten Diskussion im ganzen Volk. Jeder halbwegs informierte Russe weiß natürlich um den Olympia-Ausschluss der eigenen Sportler durch diese ARD-“Recherchen”, um die deutschen Homosexuellen-Horrorgeschichten über Russland und die anderen Kampagnen etwa auch den Skripal-Rausschmiss russischer Diplomaten. Alle werden auch in Russland oft thematisiert. In diesem Umfeld wundert sich Lielischkies, in der Vergangenheit selbst schon verantwortlich für zahlreiche Falschberichte zugunsten ukrainischer Freiwilligen-Bataillone – sprich Ukra-Faschisten – zulasten ukrainischer Separatisten, zulasten Russlands über die Zurückhaltung vieler Russen, sich kritisch über sein Land, über Politik oder gar als betroffener Homosexueller in einer ARD-Kamera zu äußern?

Diese Ablehnung vieler Russen erläutert Gert Ewen Ungar bei RT Deutsch so:

“Der begründet schlechte Ruf des westlichen und auch des deutschen Journalismus in Russland an sich, was der deutsche Journalismus unter anderem dem Wirken von Hajo Seppelt verdankt, ist Grund für die Verweigerung von Aussagen gegenüber deutschen und westlichen Journalisten. Man möchte einfach nicht das Wort im Munde herumgedreht bekommen und instrumentalisiert werden. Die Beispiele, das genau das immer wieder passiert, sind an Zahl enorm.”

Herr Lielischkies sollte verstehen, dass nicht jeder Russe gleich “Angst und Bedrohung” ausgesetzt ist, nur weil er keine Lust hat, sich mit jemandem zu unterhalten, der ihn eben noch mehrfach beleidigt und öffentlich durch den Dreck gezogen hat. IRISH TIMES zeigt Verständnis für die Zurückhaltung der Russen ausländischen Medien gegenüber: “There’s a word you hear Russians using when they refer to how they are portrayed by the outside world: “Propaganda.” All the assumptions; the Russians don’t smile, the hooligans will beat you up, the food will be awful. How dumb and insulting it must all seem to them.”

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“In Russland darf man nicht gegen Putin demonstrieren”

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Abb.: Wikimedia Commons

Sicher kein Beleg für fehlende Meinungsfreiheit in Russland sind die angeblichen Demonstrationsverbote und Verhaftungswellen bei den verschiedenen Nawalny-Aktionen. Nichts davon ist hierbei tatsächlich eine Menschenrechtsverletzung des russischen Staates. Denn Nawalny bekommt sie i.d.R. alle genehmigt. Er legt nur seine Demo-Vorhaben gerne bewusst dorthin, wo sie nie genehmigt werden können – in Moskau etwa auf die Tverskaya, einer 10-spurigen Hauptverkehrsstraße in der Nähe des Roten Platzes, am besten noch, wenn 1 Million Russen dort einen Umzug abhalten – um der westlichen Propaganda Bilder und Futter für angebliche Menschenrechtsverletzungen zu geben.

Dass er jedes Mal Alternativvorschläge der Moskauer Verwaltung ablehnt, dass 98 der 100 angemeldeten Demos im Land völlig unbehelligt stattfinden können, dass Verhaftete bereits nach wenigen Stunden und Feststellung der Personalien freikommen, wird im Westen verschwiegen. Die fröhlichen Party-Selfies der verhafteten Nawalny-Anhänger aus den Polizeiautos in den sozialen Medien sprechen Bände und konterkarieren die Schreckensbilder ihrer Verhaftungen. Hier werden nicht Demonstrations- oder Menschenrechte unterdrückt, hier werden medienwirksame Provokationen für westliche Propaganda inszeniert.

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Oppositionspolitiker Ilja Jaschin lässt sich auf diesem REUTERS Bild von der Polizei verhaften

Deutsche Medien Moskau 12.07.2017: …. Nawalny … | einzig bekannter Oppositioneller Russlands … | meldet eine Demo an … | … … | … die Behörden verbieten … | … … | Nawalny wird verhaftet | Die Demo findet trotzdem statt | … … | Es kommt zu Hunderten Verhaftungen, “friedliche Demonstranten werden weggesperrt = keine Demonstrationsfreiheit = staatliche Willkür”

Realität Moskau 12.07.2017: Der rechtsradikale Rassist und Nationalist Nawalny | einzig bekannter Oppositioneller in den westlichen Medien | meldet eine Demo auf der Tverskaja an, wo 1 Million Menschen den Nationalfeiertag feiern werden | …die Behörden schlagen Alternativen vor, keine 2 km vom Kreml entfernt … | Nawalny weigert sich unter falschem Vorwand | Nawalny ruft wiederholt zu einer nicht genehmigten Demo auf und wird verhaftet | Die Demo beginnt trotzdem auf der Straße, wo 1 Million Menschen den Nationalfeiertag feiern | In 98 anderen russischen Städten laufen angemeldete Demos friedlich und ohne Verhaftungen ab | Polizei beendet die Provokation des Moskauer Umzuges | Es kommt zu Hunderten Verhaftungen, zur Feststellung der Personalien, nach wenigen Stunden sind alle frei

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Oppositionspolitiker Ilja Jaschin meldet auf Twitter seinen gelungenen Coup

“In Russland gibt es keine Pressefreiheit”

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Abb.: Wikimedia Commons

Pressefreiheit? … Naja! …. eher nein …. oder doch schon …

In Russland gibt es auch die mächtige Meinungsführerschaft, den Mainstream der Herrschenden, der Partei “Einiges Russland” (ER) mit Putin an ihrer realen Spitze. [Parteivorsitzender: Dmitri Medwedew] Umgeben sind sie von der linientreuen Presse, der großen Mehrheit der TV-Kanäle und Radiostationen sowie Zeitungen, die weitgehend das verbreiten, was den Zielen der Herrschenden dienlich ist. Das passiert nicht unbedingt im direkten Zwang, sondern eher in einer Art vorauseilendem Gehorsam mit der Schere im Kopf der Journalisten.

Die “systemimmanente” Opposition aus Kommunisten, “Gerechtes Russland” bzw. Liberaldemokraten (in Deutschland etwa die halbe LINKE, GRÜNEN bzw. FDP) kann sich in Russland nahezu frei betätigen, verfügt über eigene, unzensierte Publikationen, aber dennoch nicht über eine annähernd so große Meinungsmacht wie die der ER. Es handelt sich – im Gegensatz zur gelegentlichen westlichen Darstellung – auch nicht um Pseudo-Opposition, nur weil sie nicht gegen jede Putin-Entscheidung ist. Sonst wären die Grünen in Deutschland momentan auch keine Opposition.

Die systemkritische Opposition “echte” Kommunisten, Sozialisten bzw. prowestliche Liberale und Neofaschisten stehen zunächst einmal lediglich unter einer verstärkten Beobachtung der offiziellen Machtelite und ihrer sekundierenden linientreuen Medien. Berichtet wird über sie in den staatstreuen Massenmedien derweil nach Möglichkeit nicht. Und wenn es gar nicht anders geht, natürlich nicht positiv und nicht groß. Die intensiven Beobachter sind aber sehr gut informiert und warten genau ab, bis diese Opposition einen entscheidenden Fehler macht. Über große eigene Publikationen verfügen sie nicht. Internet-Blogs wie der von Nawalny sind ihre Haupt-Publikationen. Allerdings wurde über ihren “Marsch des Friedens” mit einigen Zehntausend Demonstranten gegen die Ukrainepolitik Russlands bspw. im Staatsfernsehen schon ausführlich berichtet, ausführlicher und objektiver jedenfalls als etwa über die Anti-TTIP-Demo im deutschen Mainstream, auch mit direkten, persönlichen Statements.

Für mich ist der Zustand der russischen Mainstreammedien propagandistisch, einseitig und beklagenswert – aber eher wie bei uns in Deutschland selbst, als etwa wie in einer Diktatur. Das, was die westliche Propaganda über Russland immer unter “keine Meinungsfreiheit”, “fehlende Pressefreiheit” sowie “Bedrohung, Verfolgung und Ermordung kritischer Journalisten” laufen lässt, beruht größtenteils auf feindseliger Verfälschung, auch und vor allem durch die vom Westen selbst eingesetzten bzw. betriebenen NGOs. So sind Reporter ohne Grenzen oder auch Human Rights Watch wesentlich von NED aus den USA oder George Soros finanziert, allein letztere mit 100 Millionen Dollar – was nicht einmal die Wikipedia leugnen kann. Deren Urteil ist somit weder neutral noch glaubhaft. Eine Analyse und Kritik der russischen Medien muss also selbst und differenzierter erfolgen:

Im Mainstream des Staatsfernsehens sind systemkritische Stimmen selten, eher nur in den TV-Diskussionen zu vernehmen:

“Wissen Sie, ich denke, am stärksten ist die Selbstzensur. Denn die Bedrohung des eigenen Lebens, der Gesundheit, der Familie, die Angst, den Job zu verlieren – das alles zwingt Journalisten zur Selbstzensur.”

so etwa Alexej Wenediktow, Chefredakteur von Echo Moskwy, im Interview mit The New Times.

Eher weniger der Selbstzensur unterworfen sind die eigenen, großen, oppositionellen systemkritischen Medien wie die The New Times/Nowoje Wremja, Kommersant, die Novaya Gazeta, … die z.T. ein Vielfaches an Auflage haben, wie vergleichbare deutsche systemkritische Zeitungen, etwa Neues Deutschland, Junge Welt, (Freitag). Mit Radio Echo Moskwy wird sogar eine der kritischsten Medien auf Staatskosten (Gasprom) finanziert und unterhalten, der Kreml oft dafür intern kritisiert, dass er sich selbst seine größten Feinde züchtet.

Mit Doschd existiert gar ein oppositioneller, systemkritischer TV-Sender und dennoch einige Zeit im Kabelangebot in ganz Russland. Dessen Reichweite wurde allerdings tatsächlich politisch begrenzt: Denn Doschd machte eine Umfrage “hätten die Leningrader im Zweiten Weltkrieg nicht besser aufgegeben” und schlachteten damit eine heilige Kuh Russlands, denn der Widerstand gegen Nazi-Deutschland ist eine solche. Sofort startete die linientreue Presse einen gut organisierten Shitstorm gegen “Doschd” und flugs nahmen viele Kabelnetzbetreiber den diskreditierten Sender aus ihrem Programm. Ziel erreicht. Hier musste nicht einmal jemand verhaftet werden. (russland.ru) Erreichte er früher noch 1-2 Millionen, gibt es ihn heute, KenFM ähnlich, hauptsächlich übers Internet. Dort gibt es auch eine große, vielfältige Zahl oppositioneller Medien, Blogs … einige nach Zensurmaßnahmen allerdings nur über IP-Generatoren erreichbar. Inhaltlich sind diese Medien z.T. extrem scharf und berichten mit westlicher Agenda über angebliche Schwulen-KZs in Tschetschenien, Korruption, russische Soldaten im Donbass, Krim-Annexion u.ä. Auch zahlreiche ausländische Medien aus den USA, GB oder Deutschland wie Radio Liberty, BBC, Deutsche Welle u.a. senden und berichten auf Russisch.

Eine Medienvielfalt in Russland ist also trotz gegenteiliger westlicher Behauptungen tatsächlich vorhanden. Politisch genügt es dem Kreml, ähnlich wie auch der deutschen Politik, die Staatsmedien, das TV, eben den Mainstream zu kontrollieren. Für die kritischen 10-15% existieren aber auch in Russland trotz diverser Repressalien mindestens ebenso viele, große und kritische Medien wie in Deutschland.

Nachzulesen ist die kritische russische Medien-Opposition, die es laut westlicher Propaganda eigentlich gar nicht geben dürfte, sogar auf Deutsch unter dekoder.org.

Ein merkwürdiges Demokratieverständnis beweisen westliche Kommentatoren, wenn sie die Übernahme der Oligarchen-TV-Sender wie etwa NRT oder ORT als staatliche Zensurmaßnahmen gegen die Pressefreiheit geißeln. Denn nicht nur nach eigenen Aussagen waren es diese Reichen und Mächtigen, Oligarchen wie Beresowski, Chodorkowski, Potanin oder Gussinski, die Russlands Medien und Politik dominierten, Wahlen und politische Entscheidungen nach ihrem Belieben beeinflussen und kaufen konnten. Die Begrenzung der medialen und politischen Macht dieser Oligarchen war und ist deshalb eine Grundvoraussetzung für die Herstellung einer funktionierenden Demokratie in Russland. Dass der russische Staat diese Mainstream-Medien nicht mit ausreichenden Freiheitsgraden versorgt, sondern in seinem Sinne dominiert, ist bedauernswert. Ich kann das im Hinblick auf unsere öffentlich-rechtlichen Medien aber nicht als Alleinstellungsmerkmal erkennen. Noch niemals seit dem Kalten Krieg waren ARD- oder ZDF-Nachrichten so treu auf Regierungslinie. Und selbst die Sport-“Berichterstattung” betreibt politische Propaganda.

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WM Russland unterdrückt und mordet seine Kritiker

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Abb.: Creative Commons CC0

“Der russische Präsident hat das Land weiter radikalisiert. Oppositionelle werden entweder nicht zu Wahlen zugelassen (Alexej Nawalny) oder kommen auf mysteriöse Art ums Leben (Boris Nemzow). Presse- und Meinungsfreiheit werden durch Kontrolle und Morde an Journalisten (Maxim Borodin, Iwan Safronow) eingeschränkt.”

In seiner ZEIT-Hetzschrift unterstellt dieser Extrem-Propagandist Putin direkt, für politische Morde zu sorgen, was in ZEIT II “Putin hat Nemzow exekutieren lassen” sogar noch einmal zugespitzt wird. Nicht so plump hetzerisch, aber auch hinreichend stellt “Unser Russland” der ARD die Verbindung unaufgeklärter Morde mit der Kremlführung her: In dieser Reisereportage führte Lielischkies seine beinahe erste Station zufällig gleich auf die Brücke, wo sich der Mord an Nemzow ereignete, ganz in der Nähe des Kreml, wie er betonte, beklagte, dass die Mörder zwar verhaftet und verurteilt wurden, ein Attentäter getötet wurde, Drahtzieher aber wie bei allen russischen Morden an Kritikern oder Journalisten nicht festgestellt werden konnten, sprach mit Aktivisten der Gedenk-Mahnwache, die die Blumen, Plakate regelmäßig gegen das “Kreml-Räumkommando” verteidigen müssen. Palina – sichtlich uninformiert – zeigt sich gebührend schockiert, wie nah am Kreml der Mord passierte, …

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“Nemzow Brücke” Moskau 2015 cc-by-2.0

Was kümmert es da schon, dass 2015 schon niemand ernsthaft annahm, dass Putin einen für den Mainstream unbedeutenden Politiker ermorden lässt, der klar nicht einmal die 5%-Hürde schafft. Einmal mehr erfolgt die Vorverurteilung Russlands durch die Wiederholung unbelegter Anschuldigungen und die einseitige Auslegung von Indizien (Kremlnähe). Sogar Garri Kasparow bekundete, nicht daran zu glauben, dass Putin die Ermordung wollte, aber die aufhetzende Propaganda-Situation verantwortlich machte.

Sogar die Bundeszentrale für Politische Bildung beklagt sich darüber:

“wobei sich fast durchgehend ein Putin-kritischer Mainstream durchgesetzt hat, der zeitweise zu einer regelrechten “Dämonisierung” des Präsidenten abgleitet. Das zeigte sich beispielsweise in der Berichterstattung über den Mord an dem Oppositionellen Boris Nemzow im Februar 2015, nachdem zahlreiche Medien es so darstellten, als sei Putin persönlich für den Mord verantwortlich gewesen, obwohl dafür jeder Beleg fehlte. … Das hält aber vor allem Kolumnisten und Kommentatoren der verschiedenen Zeitungen keineswegs davon ab, ausgiebig vom deutschen Schreibtisch aus über Russland zu schreiben und gängige Klischees zu verbreiten.”

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Gedenkmarsch zur Ermordung Nemzows am 1.3.2015 in Moskau, cc-by-2.0

Die westliche Propaganda erweckt den Eindruck, dass Morde an politisch aktiven Journalisten und Kritikern seit dem Amtsbeginn Putins 1999/2000 in Russland stark zugenommen hätten, als Folge dessen autoritären, undemokratischen Führungsstils. Das Gegenteil ist der Fall:

Journalistenmorde gab es schon und besonders in den sogenannten demokratischen Zeiten Russland unter Jelzin und westlicher Führung. In der halben Zeit gar ein Vielfaches! So wurden u.a. lt. Wikipedia

zwischen 1993 und 1999 in Russland gemäß einer Statistik der russischen Journalisten-Gewerkschaft 201 Journalisten ermordet.
(Roland Haug zählt in seinem Buch Die Kreml AG 261 Attentate.)

Diese haben also offensichtlich nichts damit zu tun, dass Putin/der Kreml ab 2000 seine neu-autoritäre Agenda durchsetzen wollte und Mordbefehle an unliebsame, kritische Journalisten ausstellen würde, sondern damit, dass die Politik in Russland immer noch mafiös und die Mafia politisch unterwegs sind.

Denn in Russland wurden in den 90-ern und werden bis heute die großen Geschäfte immer noch in und durch die Politik gemacht. Beeinflusst die Finanzoligarchie im Westen direkt die Politik, Gesetzgebung und Parlamentsentscheidungen zu ihren Gunsten, herrschen in Russland neben diesem Lobbyismus immer noch Korruption, die Lenkung von Verwaltungs- oder Rechtsentscheidungen und auch Verbrechen als Mittel zu Durchsetzung der Interessen der Oligarchen etwa gegen störende Konkurrenten oder lästige Journalisten. Es gilt in Russland als offenes Geheimnis, dass alle führenden Oligarchen der 90-er wie Beresowski, Chodorkowski, Potanin oder Gussinski ihre Milliarden nicht ohne Verbrechen, nicht ohne Ermordung störender Politiker, Beamter, Journalisten zusammenrauben konnten. Und nicht ohne Grund werden bis heute bei vielen politisch motivierten Morden tschetschenische Täter ermittelt, Heimat der, wie auch im Westen bekannt, größten Mafia-Organisation Russland. Journalisten sind in Russland dann besonders gefährdet, wenn sie im Dunstkreis von Korruption recherchieren, dem großen Geld, Verbrechen, den Schandtaten der Oligarchie auf der Spur sind, irgendjemand Reichem und Mächtigem in die Quere kommen.

Auch die in der westlichen Berichterstattung immer wieder aufgeführten Mordopfer wie Natalja Estemirowa, Anna Politkowskaja, Paul Klebnikow oder der in Großbritannien vergiftete russische Ex-Agent Alexander Litwinenko standen oft direkt und offensichtlich den Machenschaften skrupelloser Oligarchen wie Chodorkowski oder Beresowski im Weg. So machte Walter Litwinenko im „Perwij Kanal“ (Erster Kanal) einen Geschäftsmann aus dem Umfeld von Boris Beresowski für die Ermordung seines Sohnes verantwortlich.

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Und auch Paul Klebnikow hatte die Aktivitäten verschiedener russischer Oligarchen nachverfolgt und veröffentlicht “Der Pate des Kreml – Boris Beresowski und die Macht der Oligarchen

Seine (Anm.: Beresowskis) Zerstörungskraft war selbst für russische Verhältnisse unglaublich. 1997 hat das Innenministerium versucht, das Autowerk von den Banditen zu säubern, dabei stießen die Beamten auf 65 Auftragsmorde. Das waren Morde an Managern aus der Unternehmensleitung oder auch an Autoverkäufern. Die ganze Zeit floss Blut, wo immer er auftauchte. Boris Beresowski ist für Paul Klebnikow die Inkarnation des Bösen,und das belegt er stichhaltig.

In diese Reihe verbrecherischer Oligarchen gehört vor allem auch, Michail Chodorkowski (Михаил Ходорковский), den die West-Propaganda, den die ARD und vor allem auch Lielischkies immer wieder als Kronzeuge eines besseren Russland für mehr Demokratie aufführt und gar einen Film zu seiner Verteidigung drehte, “Kreml, Knast und Korruption”.

Mitte der 90-er war er im Kabinett Jelzin für den Bereich zuständig, der die Privatisierung von Erdölunternehmen, u.a. eben von Yukos, regelte. Mit diesem Wissensvorsprung und Kontakten konnte seine Menatep-Bank Aktienanteile des Mineralölunternehmens Yukos in ihren Besitz bringen. Als Hausbank von Yukos wiederum sorgte er nun dafür, dass die verdeckte Manetep-Tochter Rosprom unter Leitung von Platon Lebedew bei den Auktionen 95/96 von Yukos allein zum Zug kam, Mitbieter wurden Informationen und der Zugang zur Auktion vorenthalten. Chodorkowskis Rosprom bekam so den riesigen Yukos-Konzern (Wert damals schon rund 10. Mrd $) für 309 Mio. $ vom Staat RUS.

“Als große Unternehmen zwecks Privatisierung zur Auktion gingen, durften Banken die Gebote annehmen und konnten – in Kenntnis der Offerten – selbst mitbieten. Sie wählten die zugelassenen Bieter aus und bevorzugten dabei eigene Tochterfirmen. Nach dem Urteil des deutschen Russland-Experten Wolfgang Kartte war der Jukos-Konzern auf dem Weltmarkt mit seinen Ölreserven gut 40 Milliarden Dollar wert.” – SPIEGEL

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Michail Chodorkowski Abb.: Wikimedia Commons

Joseph E. Stiglitz, Ratsvorsitzender der Wirtschaftsberater von US-Präsident Bill Clinton, Chef-Ökonom der Weltbank und Wirtschafts-Nobelpreisträger warnte schon 2003: “Schlimmer noch: Wird die Hinterlassenschaft der unrechtmäßigen Privatisierung nicht angegangen, könnte sich die wirtschaftliche Oligarchie wahrscheinlich auch noch in eine politische verwandeln. In diesem Licht sollte man Putins Vorgehen gegen Khodorkowsky sehen. Denn, wenn die Oligarchen ihre üblen Aneignungen mit Erfolg behaupten können, kann man sich leicht vorstellen, dass jemand wie Khodorkowsky, der schon damit begonnen hat, neben seinem Wirtschaftsimperium eine politische Maschine aufzubauen, seine Yukos-Anteile versilbert, seinen Reichtum in einer Steueroase vor der Küste in Sicherheit bringt und ihn zur Manipulation der russischen Politik benutzt.”

Er forderte damals eine Maßnahme, um die “Wohlstandsplünderung in der Ära Jelzin zurechtzurücken. Am wichtigsten ist aber, dass sie, auch wenn sie nicht die Bildung einer handhabbaren Demokratie sicherstellen würde, zum mindesten die Gefährdung der Demokratie mindern könnte, die von der zunehmend vergiftenden Rolle, die das Geld in der russischen Politik spielt, ausgeht.”

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Abb.: Creative Commons CC0

Chodorkowski ist also zu 100% ein Privatisierungsbetrüger, der RUS viele Milliarden gestohlen hat und wie Beresowski mit Auftragsmorden in Verbindung zu bringen ist – jedenfalls deutlich berechtigter als im Falle Putins. Chodorkowski, ein 100%-iger Verbrecher, einer der Handvoll Oligarchen, die in den 90-ern Russland ausraubten, das Land medial, politisch dominierten, Jelzin die Wiederwahl erkauften (“Ich kann Parlamente und Wahlen kaufen”) und Hunderte störende Politiker, Beamte, Journalisten genau auf die Weise beseitigten, die Lielischkies im Falle Nemzows nun so scheinheilig beklagt.

Erinnert sei nur an Vladimir Petukhov. Als Bürgermeister der Stadt Nefteyugansk, in der die Firmenzentrale beheimatet war, warf er Chodorkowskij (Yuganskneftegas) vor, seine Steuern zu hinterziehen. Als weder der Chef der Steuerbehörde noch der Leiter der Steuerinspektion reagierten, trat er in den Hungerstreik. Am Morgen des 26. Juni 1998 auf dem Weg zur Arbeit wurde Petukhov mit einer Maschinenpistole getötet. Der Mord ereignete sich am Geburtstag von Michail Chodorkowski. Bewohner blockierten Straßen, forderten eine strafrechtliche Untersuchung und warfen Fensterscheiben von Yukos ein. Die Untersuchung ergab 2 Tatverdächtige, Popov und Prichodko. Beide fand man in den folgenden Tagen ermordet auf. Nicht nur Chodorkowskis Sicherheitschef Alexej Pitschugin wurde wegen mehrfachen Mordes verurteilt, sondern auch Chodorkowskis langjähriger Partner Leonid Nevzlin, der 2. Mann bei Yukos. off-guardian.org

Man stelle sich vor, bei einem der Mordfälle gäbe es im Umfeld derart direkte Verbindungen zu Putin! …Die westlichen Medien würden sich überschlagen. … Über den Mordfall Petukhov berichten sie bis heute nicht. Wäre ich Buchmacher, kurz vor einem öffentlichen Jüngsten Gericht, meine Quoten (1-10) für eine überführte Mitwisserschaft / Mordbeteiligung folgender Verdächtiger sähen ungefähr so aus:

Beresowski: 1.08
Chodorkowski: 1.18
Putin: 9.78

In der Regel/wahrscheinlich müssen die Oligarchen gar nicht den Auftrag für konkrete Morde gegeben haben. Sie haben “Sicherheitschefs” angestellt, die solch schmutzige Geschäfte für sie erledigten und bis heute noch erledigen. Politik – Korruption – Verbrechen sind in Russland leider immer noch dicht beisammen.

WM Russland, das Homosexuelle unterdrückt und verfolgt

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Abb.: Creative Commons CC0

Die Situation homosexueller Russen ist sicher nicht gut. Es gibt homophobe Missstände und auch Diskriminierungen. Zu oft und zu stark wirken gesellschaftliche Mechanismen zu ihrer Ausgrenzung. Zwar ist das Ausleben homosexueller Neigungen im Gegensatz zu 80 anderen Ländern nicht verboten, aber faktisch oft stark eingeschränkt. Und das nicht nur in streng muslimischen Gebieten des Kaukasus oder der streng orthodoxen Provinz. Selbst in den “Gay-Metropolen” Moskau, Sotschi oder Sankt Petersburg ist das offene Ausleben von Homosexualität eher nur im Nachtleben wirklich frei möglich, während es etwa besonders für Politiker, Journalisten oder andere Personen des öffentlichen Lebens, aber auch im normalen beruflichen Umfeld geboten ist, sich nicht zu outen.

Dennoch ist es eine Verfälschung westlicher Propaganda, dass sich Homosexuelle in Russland zwangsweise verstecken müssten oder gar systematisch verfolgt würden. Es gibt durchaus nicht wenige homosexuelle Sportvereine, Motorradclubs, eine öffentliche und aktive Szene, in Sankt Petersburg etwa Gay-Clubs (Central Station), Varietés (Club Cabaret), Banjas (Bunker), Bars (Blue Oyster) oder gar einen Gay-Strand (in Sestroretsk), Cafes, Saunen und auch nach der Einführung des sogenannten “Anti-Schwulen-Gesetzes” LGBT-Demonstrationen in Russland.

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Homosexuelles Nachtleben Sankt Petersburg 2016

Die westlichen Horrorgeschichten verfälschen die Lebenswirklichkeit Homosexueller und sind nichts als anti-russische Propaganda und Volksverhetzung. Dabei kopierten einige Medien sogar Art und Weise rechtsradikaler Hetze, die sie im eigenen Land bekämpfen, und bauschten ungeklärte oder bedauerliche Einzelfälle zu einer Hetze gegen ganz Russland und seine Menschen auf.

“Der im Westen verbreitete Eindruck, Schwulenverfolgung in Russland gehöre zum Alltag, ist in etwa so richtig wie die gelegentlich im Ausland anzutreffende Meinung, dass die Hälfte der Deutschen Faschisten seien, nur weil rechtsextreme Parteien gelegentlich in Landtage einziehen.”
– Matthias Schepp, Der SPIEGEL

1.) Die unfassbare Lügengeschichte der ARD von Golineh Atai über russische KZs für Schwule, mit Folter und Mord, die die Propaganda übernahm und ausweitete:

Ausführliche Stellungnahmen und Korrekturen findet man (nur) bei RT Deutsch.

2.) Hetz-Propaganda in WDR, phoenix, BBC
Nackte Angst – Russische Jagd auf Schwule
“Hunted: The War On Gays In Russia”

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Dass der Film Lügenhetze ist, verwundert nicht. Ben Steele erstellte den Film für HBO – Time Warner, USA. Aber dass das deutsche Öffentlich-Rechtliche so eine Kampfpropaganda sendet, grenzt an Volksverhetzung …

Propaganda-Kette über die Situation Russland:

gesellschaftliche Vorurteile / Hasstiraden / radikale Gewaltexzesse / staatliche Gewalt / juristische Defizite

Der Film beginnt mit einer Gruppe radikaler Russen, die homophobe Vorurteile und Hasstiraden äußern.

“Einige Russen behandeln sie als Beute. Schwule werden als Tiere betrachtet.”

Es wird so getan, als ob es sich um eine weit verbreitete Volksmeinung handelt. Tatsächlich bekennen sich die gezeigten Russen über ihre schwarz-gelb-weißen Fahnen allerdings zur faschistisch-nationalistischen extremen Rechten des Landes. Ohne Probleme ließen sich diese verachtenswürdigen Hasstiraden über Schwule oder Ausländer auch in den USA oder bei uns so finden.

“Gewalttätige Übergriffe auf Homosexuelle haben dramatisch zugenommen. Es ist fast ein Trend. Die Bedrohung gehört zum Alltag. Schwule leben in ständiger Gefahr.”

Es werden zwei einzelne YouTube-Videos gezeigt mit nächtlichen, gewalttätigen Übergriffen auf Homosexuelle. Schlimme Bilder, die sich aber ebenso in den USA gegenüber Schwarzen wie auch bei uns gegenüber Ausländern, sicher sogar gegenüber Homosexuellen so finden lassen. Die Behauptung, dass dies zum Alltag gehört, wird weder belegt noch irgendwie sonst untermauert.

Die Rechte von Homosexuellen. Auch vor Gericht scheinen sie kaum noch zu existieren. Homosexuelle werden von Bürgergruppen gejagt und vom Staat verfolgt. Die homosexuelle Community ist unter Beschuss. Es ist wird immer schlimmer. Die Leute haben immer mehr Angst.

So, so … sie scheinen kaum noch zu existieren … Als Beweis wird ein Prozess gegen einen klerikalen Aktivisten gezeigt, der angeklagt wurde (immerhin), weil er einen LGBT-Aktivisten tätlich angegriffen hatte … es wird beklagt, dass er immer noch nicht verurteilt wurde. Gerade Time Warner müsste doch wissen, wie viele US-Bürger nicht einmal angeklagt wurden, selbst als sie unbewaffnete schwarze Mitbürger erschossen! Zahlen, Fakten werden auch hier nicht genannt, ebenso wenig wie bekannte Fälle, in denen homophobe Gewalt in Russland mit z.T. langjährigen Gefängnisstrafen belegt wurde.

Der Teil des Gesetzes, der erlaubt, homosexuellen Eltern ihre Kinder wegzunehmen, würde sogar Hitler glücklich machen. Sie haben guten Grund, Angst vor den Behörden zu haben.

Das Gesetz, das alle Propaganda für “nicht-traditionelle Lebensweisen” in Russland mit Ordnungsstrafen untersagt, ist falsch und schlimm. Es gibt aber keine Möglichkeit, Eltern ihre Kinder wegzunehmen. Selbst der Film gesteht ein, dass das nur einige Radikale in der Duma fordern würden.

Wenn sie kommen, um meine Kinder zu holen, müssen sie mich erschießen. Ich werde bis zum Schluss kämpfen.

Und so endet das Propaganda-Machwerk mit einer weinenden Umarmung zweier Frauen, die sich und ihre Kinder bis zum letzten Blutstropfen gegen den “bewiesen” grausamen russischen Staat wehren müssen … auf tatsächliche Fälle solchen Kindesentzuges bei homosexuellen Eltern wartet man vergeblich.

Die, die es sich leisten können, verlassen Russland schon jetzt.

Das hätte Time Warner sicher gerne. Mit unglaublichen Lügen und Verfälschungen arbeitet etwa der im deutschen ÖR gezeigte Film “Nackte Angst – Russische Jagd auf Homosexuelle” sowie eine Vielzahl ähnlicher Zeitungs- oder Online-“Berichte”.

Auch ich lehne die Gesetzes-Verschärfung ab. Aber ich lehne auch die westliche Hetz-Kampagne ab. Ich verbünde mich in Russland mit Oppositionellen, um gegen den vielfachen Neo-Konservatismus vorzugehen, der besonders von Jelena Misulina vorangetrieben wird, dazu gehören, neben diesem Gesetz, Religion in den Staat aufzunehmen, Abtreibungsverbot, Förderung der 3-Kinder-Ehe, Webseiten für Schimpfwörter abzustrafen, u.v.m. Es ist ein schlimmer Versuch, eine neue russische Identität zu schaffen, der einen starken psychologischen Druck erzeugt und Andersdenkende zu Illegalen macht. Das ist bigott und rückständig. Es geht aktuell auch gerade einher mit dem beherrschenden Patriotismus, der Kritiker versucht, als Verräter abzustempeln.

Aber die arrogante, überzogene und verfehlte westliche Hetze gegen Russland schadet den betroffenen Menschen und der Opposition. Wenn man berechtigte Kritik an dem Gesetz zu einer Hetze gegen die russische Gesellschaft und die Normen der Menschen aufbaut, treibt man sie nur hinter Putin und schließt ihre Reihen der Trutzburg. “Der Westen will uns seine Normen aufzwingen.” Die westliche Medien-Hetze – auch und gerade im Fall Pussy Riot – ist nicht an den Menschen Russlands interessiert. Sie soll Russland und die Menschen dort isolieren.

Der so breit gezeigte und gelobte Film ist tatsächlich erschütternd – weil propagandistisch verlogen und hetzerisch. Wer Russland nicht kennt, mag sich aufhetzen lassen … er ist aber so wenig bei der Realität, wie es Filme wären, mit Titeln wie:

  • “Nackte Angst – US-Amerikanische Jagd auf Schwarze”
  • “Nackte Angst – Deutsche Jagd auf Flüchtlinge”

[«*] Michael Steinke ist Diplom-Kaufmann und arbeitet als Projektmanager (Kunst) im Internet. Er lebt seit 2012 zeitweise, seit 2016 überwiegend in Russland.


Hauptadresse: http://www.nachdenkseiten.de/

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