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Titel: Ring frei zu Runde Dreizehn – Die Endlosschleife im Armen-Bashing

Datum: 1. August 2018 um 8:45 Uhr
Rubrik: Audio-Podcast, Hartz-Gesetze/Bürgergeld, Kampagnen/Tarnworte/Neusprech, Medienkritik, Strategien der Meinungsmache, Wertedebatte
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Regelmäßiges öffentliches Bashing gegenüber Hartz-IV-Empfängern gehört hierzulande ja inzwischen schon zum guten Ton. Ist das doch unverzichtbar, um dem seit Einführung der Agenda 2010 nicht verebbenden Widerstand in der Bevölkerung ein so dringend notwendiges Erregungspotential entgegenzusetzen. Denn ohne eine gezielte Stimmungsmache gegen die Ärmsten der Armen in unserem Land würde wohl immer mehr die Erkenntnis Raum greifen, dass etwas faul ist im Staate Deutschland. Von Lutz Hausstein[*].

Dieser Beitrag ist auch als Audio-Podcast verfügbar.

Wer erinnert sich nicht an die menschenverachtenden Worte aus dem Wirtschafts- und Arbeitsministerium Wolfgang Clements, das schon 2005 im Zusammenhang mit Arbeitslosen von „Parasiten“ und „parasitärem Verhalten“ geschrieben hatte. Sein ehemaliger Parteigenosse, der Berliner Finanzsenator und kurzzeitige Bundesbanker Thilo Sarrazin, meinte 2009 äußern zu müssen, dass es Hartz-IV-Empfänger „gern warm haben“ und viele von ihnen die Zimmertemperatur „mit dem Fenster regulieren“ würden. An anderer Stelle empfahl Sarrazin den Sozialleistungsempfängern, doch lieber kalt zu duschen, da „ein Warmduscher noch nie im Leben weit gekommen“ sei. Ganz abgesehen von seinem dubiosen Hartz-IV-Speiseplan. Glaubte der SPD-Arbeitsminister Franz Müntefering noch sinnverzerrend das Bibelzitat aus dem 2. Paulusbrief an die Thessalonicher „Wer nicht arbeitet, der soll auch nicht essen“ gegen die vermeintlich Arbeitsfaulen einsetzen zu können, belehrte der damalige SPD-Vorsitzende Kurt Beck einen Arbeitslosen mit den Worten „Wenn Sie sich waschen und rasieren, finden Sie auch einen Job.“ Auf dem Schirm behalten sollte man gleichfalls den auch heute noch sehr quirlig in diesem gesellschaftlichen Feld agierenden damaligen SPD-Bezirksbürgermeister von Berlin-Neukölln, Heinz Buschkowsky, der 2009 u.a. äußerte, dass das Betreuungsgeld „in der deutschen Unterschicht versoffen wird“.

Doch nicht nur Vertreter der einst so stolzen Arbeiterpartei SPD gefallen sich in der Rolle des „Endlich-hat-jemand-mal-die-Wahrheit-gesagt“-Aufklärers. Ebenfalls 2009 beschrieb der inzwischen verstorbene CDU-Bundestagsabgeordnete Philipp Mißfelder eine damalige Erhöhung des Regelsatzes für Kinder als einen „Anschub für die Tabak- und Spirituosenindustrie“. Hessens Ministerpräsident Roland Koch (CDU) bezeichnete Hartz-IV als angenehme Variante des Lebens und forderte 2010 eine Arbeitspflicht für Arbeitslose, welche – nebenbei bemerkt – allerdings gegen die Europäische Menschenrechtskonvention Art. 4 sowie das deutsche Grundgesetz Art. 12 verstoßen würde. Der hessische Justizminister Christean Wagner wollte 2005 mithilfe von Fußfesseln in einer höchst bemerkenswerten Kombination „Langzeitarbeitslosen und therapierten Suchtkranken“ die Chance bieten, „zu einem geregelten Tagesablauf zurückzukehren und in ein Arbeitsverhältnis vermittelt zu werden“.

Und auch die Vertreter der anderen Parteien stimmten fleißig in diesen Kanon ein. Da gab es den vom damaligen FDP-Vorsitzenden und Bundesaußenminister Guido Westerwelle behaupteten, inzwischen schon legendär zu nennenden „anstrengungslosen Wohlstand“ der Sozialleistungsempfänger. Der Bremer FDP-Landesvorsitzende Oliver Möllenstädt forderte 2009, Frauen von einer Erhöhung des Regelsatzes auszunehmen, da diese „das Geld eher in den nächsten Schnapsladen tragen, als es zur Vorsorge und selbstbestimmten Familienplanung investieren“ würden. Der damalige WELT-Kolumnist und spätere AfD-Bundesvorsitzende Konrad Adam forderte 2006 gar die Entziehung des Wahlrechts für – von ihm so bezeichnete – „Nettostaatsprofiteure“, das bedeutet in seinem Verständnis u.a. Beamte, Arbeitslose und Rentner.

Diese nur exemplarische Auflistung verdeutlicht eindrucksvoll, wie Spitzenpolitiker verschiedener Parteien seit Jahren permanent und auf allen Kanälen Stimmungsmache gegen Arme und Arbeitslose betreiben. Die so erzeugte Meinungshoheit über den Stammtischen erhält jedoch noch weiteren Auftrieb, da die unterschiedlichsten Medien nicht nur als Resonanzkörper für die Meinungsmache von Politikern herhalten, sondern sie sich auch ihrerseits aktiv an den Kampagnen beteiligen. Auch abseits der seit Jahren durchgängigen Stimmungsmache des Kampagnenblattes BILD, das regelmäßig Sozialleistungsempfänger auf seiner Titelseite in Großbuchstaben als „faule Drückeberger“, „faule Stützeempfänger“, „Hartz-IV-Schmarotzer“ oder „Sozialschmarotzer“ tituliert, zeichnen gern private TV-Sender in diversen Sendungen, aber noch häufiger in ganzen Sendeformaten ein abwertendes Bild „des“ (!) Hartz-IV-Empfängers, das diesen in den Augen der Zuschauer als gesellschaftlichen Paria erscheinen lässt.

Waren es vor Jahren noch öffentlichkeitswirksam inszenierte Einzelpersonen wie Arno Dübel, „Florida-Rolf“ und „Karibik-Klaus“, mithilfe derer eine gesamtgesellschaftliche Abgrenzungsstrategie gegenüber den „faulen, auf dem Sofa sitzenden, dauerqualmenden und saufenden Hartzern“ erfolgreich gestartet wurde, wurde dies inzwischen durch zwar nur mäßig erfolgreiche, aber nichtsdestotrotz beständig weitergeführte Formate im Privatfernsehen à la „Familien im Brennpunkt“, „Hartz und herzlich“, „Frauentausch“ oder „Sozialfahnder ermitteln“ perpetuiert. Allen Formaten gemein ist jedoch, dass es sich dabei um Scripted Reality, also von Laienschauspielern, i.d.R. real Betroffenen, nach Regieanweisungen gespielte, nur vermeintliche Realität, handelt. Ihr Verhalten ebenso wie ihr Umfeld soll auf den Zuschauer authentisch wirken, dabei ist es doch nur eine nach Regieanweisungen inszenierte „Wirklichkeit“. Insofern ist dem intimen TV-Kenner, aber gleichzeitig auch als TV-Outlaw bekannten Oliver Kalkofe nur zuzustimmen, wenn er die Entwicklung von Scripted Reality als „schlimmstes Sendeformat der letzten zehn Jahre“ brandmarkt. Das ist auch deswegen besonders bedeutungsvoll, da ein enormer Teil des Vormittags- und Nachmittagsprogramms der privaten Sender mit den kostengünstig produzierten inszenierte-Realität-Sendungen gefüllt wird – der Rest sind die 93-sten Wiederholungen amerikanischer Sitcoms samt ihrer eingespielten Lacher.

Die neuesten „Familienmitglieder“ dieser Pseudo-Doku-Soaps sind beim Fernsehsender RTL2 das vierteilige „Promis auf Hartz IV“ und auf seinem dazugehörigen Muttersender RTL „Zahltag – Ein Koffer voller Chancen“. In „Promis auf Hartz IV“ wechselt das Millionärs-Ehepaar von Sayn-Wittgenstein für 4 Wochen mal kurz aus ihrer 25-Millionen-Villa auf Mallorca in eine kleine 50-qm-Wohnung nach Köln – und spielt anschließend für diese 4 Wochen Hartz IV. Dabei bleiben nicht nur die faktischen Lebensumstände der real Betroffenen fast komplett auf der Strecke, sondern es wird auch vollständig ausgeblendet, dass das vierwöchige So-Tun-als-ob und die anschließende Rückkehr in den mondänen Millionärsalltag lediglich einen kurzen Besuch bei der Armut bedeutet. Dass zum Abschluss des Sendeformats der gnäd‘ge Herr gleichmal die meisten der Hartz-IV-Empfänger als „Sozialschmarotzer“ tituliert, rundet das Bild eher sogar noch ab. Denn ein wirklich realistisches Bild vom deprimierenden Alltag der Betroffenen zu zeichnen, war ohnehin nicht das Ziel der Sendereihe, sondern vielmehr die kontinuierliche Fortsetzung des Armen-Bashings.

Demgegenüber begibt sich „Zahltag – Ein Koffer voller Chancen“ auf die andere Seite der Gesellschaft – allerdings mit vergleichbarer Zielsetzung. Dass hierbei – neben der als Cindy aus Marzahn bekannten Ilka Bessin und dem Gründungsberater Felix Thönnessen – auch der schon zuvor erwähnte Heinz Buschkowsky zum Zuge kommt, ist wohl kaum als Zufall zu bezeichnen. Gilt er doch in manchen Kreisen als ein „Mann der offenen Worte“, als einer, der ausspricht, was andere sich nicht trauen, als „Mann der unbequemen Wahrheit“. Seine hemdsärmelige Art, sich volkstümlich auszudrücken, mag zwar von einigen als bürgernah betrachtet werden. Letzten Endes ist es aber nichts anderes als seine tiefsitzende Verachtung gegenüber den Armen, ohne den Ansatz irgendwelcher empathischen Gedanken. Und so nimmt es auch nicht Wunder, wenn die Sendereihe von Beginn an dem Zuschauer das Gefühl vermittelt, als Spanner bei ein paar Exoten in absurden Situationen zu fungieren. So ähnlich wie Dschungelcamp – nur ohne dem Essen von Känguruhhoden und dem Übergießen mit Schaben. Aber immerhin auch hier ebenfalls mit den höhnischen Kommentaren aus dem Off. Am Ende geht es auch in diesem Sendeformat wieder darum, die Arbeitslosen vorzuführen, indem diese beweisen müssen, nicht dem gängigen Klischee des „faulen Arbeitslosen“ zu entsprechen, wie dies auch die Vice-Autorin Lisa Ludwig festhält. Denn dies schwingt zu jeder Zeit – offen oder latent – in allen Darstellungen mit.

Doch es ist weniger das gezeichnete Bild der Arbeitslosen, welches aus einer einzelnen oder aus zwei Sendungen resultiert, das die öffentliche Wahrnehmung der Betroffenen so nachhaltig prägt, sondern die seit mehr als 10 Jahren durchgängige Permanenz dieser immergleichen, schablonenhaften Darstellung. Diese Permanenz trägt bei einem Teil der Bevölkerung trotz des häufigen Widerspruchs zu ihrer eigenen Lebenswirklichkeit immer noch üppige Früchte und verfestigt so das Bild vom arbeitsscheuen, phlegmatischen und „bildungsfernen“ (als Surrogat für dummen), ja regelrecht verwahrlosten Arbeitslosen.

Hier muss allerdings angemerkt werden, dass diese Sendeformate ausschließlich durch die privaten TV-Kanäle ausgestrahlt werden. Insbesondere gerade aufgrund der seit Jahren anhaltenden Diskussionen um die Gebühr für die öffentlich-rechtlichen Sender und des kürzlich ergangenen Urteils des Bundesverfassungsgerichts dazu muss man – trotz aller berechtigten Kritik an Teilen der Berichterstattung der Öffentlich-Rechtlichen – festhalten, dass sie sich an einer solchen kampagnenartigen Verhetzung von Arbeitslosen generell nicht beteiligen. Auf der anderen Seite ist darauf hinzuweisen, dass hinter dem privaten Fernsehsender RTL sowie der Vielzahl seiner RTL-Tochtersender als auch hinter dem Sender Vox der Bertelsmann-Konzern steckt, der mehr als nur maßgeblich die Gesetze der Agenda 2010 mitgeschrieben hat, wie auch in der „Anstalt“ vom April 2018 anschaulich dargestellt wurde. Der Konzern hat so auch einen Teil des Feldes für seine zukünftigen Tätigkeiten selbst bestellt. Dies sollte auch berücksichtigt werden, wenn wieder einmal eine Studie aus dem Hause Bertelsmann Kinderarmut in Deutschland, die zwangsläufig immer auch mit der Armut der Eltern verbunden ist, feststellt und tränenreich beklagt. An dieser Stelle nur einmal exemplarisch drei Studien-Beispiele aus den letzten drei Jahren 2016, 2017 und 2018.

Dass diese perpetuierten Negativ-Kampagnen über Arbeitslose im Speziellen, aber auch über Arme und weitere Minderheitengruppen im Allgemeinen nicht allein im Medienraum, sondern auch in der Gesellschaft selbst ihre Wirkung entfalten, sollte eigentlich eine Binse sein. Schon Prof. Wilhelm Heitmeyer hat in seiner zehnjährigen Langzeitstudie „Deutsche Zustände“ von 2002 bis 2011 u.a. eine Zunahme von Fremdenfeindlichkeit und Diskriminierung von Arbeitslosen und Obdachlosen festgestellt, die er unter dem Begriff der „gruppenbezogenen Menschenfeindlichkeit“ zusammengefasst hat. An diesen Erkenntnissen hat sich seither bis zum heutigen Tag auch nichts geändert. Eher im Gegenteil. Die Ressentiments haben sich aufgrund der stetigen Fortsetzung aller Arten öffentlicher Stimmungsmache noch weiter verstärkt. Dass dies nicht nur in die Köpfe der Menschen eingedrungen ist, sondern zunehmend auch in ihr Handeln übergreift, ist bittere Realität. Denn wer andere Menschen als minderwertig, als ökonomisch wertlos und als Belastung für die Gesellschaft begreift, empfindet es irgendwann auch nicht mehr als verwerflich, an diesen „unwerten Menschen“ sein persönliches Mütchen zu kühlen. Jüngstes diesbezügliches, schreckliches Beispiel war das Anzünden zweier Obdachloser am S-Bahnhof Berlin-Schöneweide.

Diese Zunahme der „rohen Bürgerlichkeit“, wie Wilhelm Heitmeyer es bezeichnete, speist sich unter anderem auch aus der permanenten, abwertenden Verunglimpfung von Armen und Arbeitslosen, wie sie auch durch die oben kritisierten Fernsehformate „Promis auf Hartz IV“ und „Zahltag – Ein Koffer voller Chancen“ öffentlichkeitswirksam gezeichnet wird. Die Verrohung der Gesellschaft wird zwar von vielen heftig kritisiert, aber noch viel zu wenige begreifen, dass wir alle knietief in den Ursachen für diese Verrohung stehen. Es ist an uns allen, diesen Formaten der „Tittytainment“-Unterhaltung, wie sie Ulrich Gellermann im Rückgriff auf den früheren US-Sicherheitsberater Zbigniew Brzezinski bezeichnete, endlich die Rote Karte zu zeigen und auch anderen begreiflich zu machen, dass die Abwertung anderer Menschen dem friedlichen Zusammenleben von uns allen diametral entgegensteht. Es ist an der Zeit, diese wiederholten Tiefschläge mit Disqualifikation zu ahnden, um den bisherigen dreizehn Runden des Armen-Bashings keine weiteren folgen zu lassen. Das wäre ein erster kleiner Schritt, der zunehmenden Verrohung unserer Gesellschaft Einhalt zu gebieten.


[«*] Lutz Hausstein, Wirtschaftswissenschaftler, ist als Arbeits- und Sozialforscher tätig. Seit der Einführung der Agenda 2010 beteiligt er sich aktiv am Kampf gegen Armut, Ungleichheit und für soziale Gerechtigkeit. In seinen 2010, 2011 und 2015 erschienenen Untersuchungen „Was der Mensch braucht“ ermittelte er einen alternativen Regelsatzbetrag für die soziale Mindestsicherung. Er ist u.a. Ko-Autor des Buches „Wir sind empört“ der Georg-Elser-Initiative Bremen (2012), Verfasser des Buches „Ein Plädoyer für Gerechtigkeit“ (2012) sowie Mitautor des NGfP-Sammelbandes „Gesellschaftliche Spaltungen“ (2018).


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