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Titel: „Die Armen sind für Politiker nicht interessant“

Datum: 17. November 2018 um 11:30 Uhr
Rubrik: Audio-Podcast, Hartz-Gesetze/Bürgergeld, Interviews, Sozialstaat, Ungleichheit, Armut, Reichtum
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Seit Angela Merkel bekanntgegeben hat, dass sie ab 2020 nicht mehr als Kanzlerin zur Verfügung steht, sind zahlreiche Lobgesänge auf die Politik der Kanzlerin zu hören („Wenn das Land Angela Merkel eines schuldet, dann ist das Anstand am Schluss“). Was dabei keine Rolle spielt: Die Armutssituation in Deutschland. Barbara Eschen, die Sprecherin der Nationalen Armutskonferenz, zeigt im NachDenkSeiten-Interview auf, dass das Armutsrisiko im Land hoch ist und fordert von politischer Seite grundlegende Weichenstellungen, um Armut zu bekämpfen. Eschen spricht sich für eine „deutliche Anhebung“ des Mindestlohns aus, fordert eine Grundsicherung, die „auskömmlich“ ist und betont, dass Menschen, die Sozialleistungen beziehen, oft nicht einmal das Existenzminimum zur Verfügung haben. Von Marcus Klöckner.

Dieser Beitrag ist auch als Audio-Podcast verfügbar.

Frau Eschen, Sie sind die Sprecherin der Nationalen Armutskonferenz. Warum bedarf es überhaupt dieses Bündnisses? Deutschland ist doch ein reiches Land.

Leider profitieren viel zu viele Menschen nicht von diesem Reichtum in unserem Land. Zwar nimmt die Erwerbslosigkeit ab, aber die Zahl der Menschen, die mit einem hohen Armutsrisiko leben, bleibt hoch, nämlich bei ca. 16,5 Prozent.

Damit sind wir bei dem Schattenbericht, den Sie vor kurzem veröffentlicht haben. Was haben Sie festgestellt?

Es gibt viele Faktoren, die von Armut betroffene Menschen belasten. Erschreckend finden wir den hohen Anteil von Erwerbstätigen, die von ihrer Arbeit nicht leben können und ergänzende Grundsicherung beziehen. Viele Alleinerziehende sind betroffen, weil sie keinen für ihre Situation passenden Arbeitsplatz bekommen. Die Wohnungsfrage wird bedrückend, weil viele Menschen die Miete nicht mehr zahlen können. Weil Hartz IV die Kosten der Unterkunft oft nicht deckt, sparen sich Menschen dies dann vom Munde ab, also aus ihrem Regelsatz der Grundsicherung. Dieser ist aber, wie vergleichende Analysen der Diakonie festgestellt haben, ohnehin zu niedrig und liegt unter dem soziokulturellen Existenzminimum. Besonderen Handlungsbedarf sehen wir hinsichtlich der Kinder: Der Regelsatz ist keine gute Absicherung für Kinder. Wir fordern eine Kindergrundsicherung, die verschiedene familienfördernde Leistungen zusammenfasst und arme Kinder nicht benachteiligt.

Was noch?

Die Zuzahlungen bei Krankenkassenleistungen sind ein weiteres Problem und auch, dass es mehr Menschen ohne Krankenversicherung gibt, als man glauben möchte.

Im Vorwort zum Schattenbericht schreiben Sie: „Armut wird auch übersehen, übergangen, geleugnet, beschimpft und bestenfalls gelindert.“
Wer übersieht Armut? Auch die Politik?

Die Mehrheitsgesellschaft blendet das Problem der Armut aus. Sehen Sie sich die Infrastruktur der verschiedenen Stadtteile an. Da sieht man schnell, wer wo wohnt, wer wem begegnet oder nicht. Schuldzuschreibungen diskreditieren von Armut Betroffene als bildungsfern oder arbeitsunwillig. Oft wird missbräuchlicher Leistungsbezug unterstellt. Wie belastend das für Betroffene ist, merkt man in Gesprächen mit ihnen.

In den Medien hören wir immer wieder Stimmen, die sagen, dass es in Deutschland ein Existenzminimum gibt, also sei doch für die Armen ausreichend gesorgt. So einfach ist es aber nicht, oder?

Nein, so einfach ist es nicht. Alleine schon die Sanktionen, die gegenüber Leistungsbeziehern verhängt werden, führen dazu, dass Menschen oft weniger als das Existenzminimum zur Verfügung haben. Die Sanktionen sind teilweise extrem, können dazu führen, dass nur noch Gutscheine ausgegeben werden. Sanktionen sind – anders als oft behauptet – kein geeignetes Mittel, Menschen für den Arbeitsmarkt „fit“ zu machen.

Wie kann es sein, dass Menschen von dem Minimum, das sie zum Leben haben, noch Geld abgeben müssen?

Das kann eigentlich nicht sein. Deshalb treten wir für ein unkürzbares auskömmliches Existenzminimum ein. Und zu allererst für eine Kindergrundsicherung.

Warum tut sich die Politik so schwer damit, die Weichen zu einer sozialeren Armutspolitik zu stellen?

Armut bedeutet, nicht wirklich am gesellschaftlichen Leben teilhaben zu können. Deshalb fühlen sich viele von Armut Betroffene auch nicht zu demokratischer Mitwirkung aufgefordert. Sie gehen selten zur Wahl. Die Armen sind einfach für Politiker nicht interessant.

Aus Ihren Erkenntnissen heraus: Was müsste getan werden, um armen Menschen so zu helfen, dass sie menschenwürdig in unserer Gesellschaft leben können und ein Kampf gegen Armut nicht ein Kampf gegen die Armen wird?

Gute Arbeit ist einer der Schlüssel zur Armutsbekämpfung, also eine deutliche Anhebung des Mindestlohnes und die Umwandlung der Minijobs in sozialversicherungspflichtige Arbeitsverhältnisse. Die Grundsicherung muss auskömmlich sein. Maßnahmen der Familienförderung sollen zu einer Kindergrundsicherung zusammengeführt werden, so dass Kinder nicht mehr auf Hartz IV angewiesen sind. Sozialer Wohnungsbau muss massiv vorangetrieben werden und bezahlbare Mieten müssen für von Armut Betroffene gesichert werden. Und wir brauchen gute Kitas und Schulen und Freizeit- und Bildungsangebote in allen Quartieren.


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