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Titel: Abschaffung Hartz IV: Die Wächter über den neoliberalen ‚Sozialstaat‘ melden sich zu Wort

Datum: 21. November 2018 um 11:08 Uhr
Rubrik: Arbeitslosigkeit, Audio-Podcast, Hartz-Gesetze/Bürgergeld, Kampagnen/Tarnworte/Neusprech, Sozialstaat
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Wir erinnern uns: Als die SPD und Grünen die Agenda 2010 durchgesetzt haben, applaudierten weite Teile des Bürgertums und der Presse. Nun, 15 Jahre später, nachdem längst klar geworden ist, wie tief die gesellschaftliche Spaltung durch die rot-grünen „Reformen“ geworden ist, überlegen SPD, aber auch die Grünen, wie sie ihr Hartz-IV-Projekt abwickeln können. Irgendwie. Doch kaum kommt ein vernünftiger Vorstoß, wie der von Grünen-Chef Robert Habeck, formiert sich der Widerstand gegen die Armen erneut. Einige Aussagen, die sich gegen eine menschenwürdige Umgestaltung des Sozialstaates richten, verdienen Aufmerksamkeit. Von Marcus Klöckner.

Dieser Beitrag ist auch als Audio-Podcast verfügbar.

Hartz IV abschaffen, keine Arbeitszwang und keine Sanktionen mehr: So sollen laut Medienberichten die Weichenstellungen für ein neues sozialstaatliches Konzept aussehen, das dem Grünen-Chef Robert Habeck vorschwebt. Kaum waren am Mittwoch vergangener Woche die Vorstellungen von Habeck in den Medien verbreitet, sahen sich diejenigen auf den Plan gerufen, die für einen harten Kurs gegenüber den Armen sind.

So meldete sich der stellvertretende SPD-Chef Ralf Stegner mit folgender Aussage zu Wort: „Jeder, der arbeiten kann, der muss auch arbeiten.“ Stegners Aussage knüpft nahtlos an die Äußerungen von Franz Müntefering („Wer nicht arbeitet, soll auch nicht essen“) oder Gerhard Schröder (“Wer arbeiten kann, aber nicht will, der kann nicht mit Solidarität rechnen. Es gibt kein Recht auf Faulheit in unserer Gesellschaft!”) an – ganz so, als hätte die SPD seit Schröder nicht über 10 Millionen Wähler verloren. Ganz so, als müsste die SPD nicht ansatzweise fürchten, bald bei Wahlen im einstelligen Bereich zu liegen.

Stegner bedient mit seiner Aussage ein schlimmes Vorurteil und legt den Fokus auf angeblich arbeitsunwillige Arbeitslose. Das ist in etwa so, als würde er bei jeder Gelegenheit davon sprechen, dass es auch kriminelle Ausländer gibt. In Stegners Worten kommt jener Argwohn gegenüber den Arbeitslosen zum Ausdruck, der keinen Millimeter vom rassistischen Vorurteil entfernt ist. Man kann über Menschen reden, die keine Lust zum Arbeiten haben und die es geben mag. Aber wer bei einer menschenwürdigen Umgestaltung des Sozialstaates im Handumdrehen den Fokus auf eine kleine Minderheit richtet und diese zum Maßstab der Sozialpolitik macht, darf sich nicht wundern, wenn ihm das Schüren von Vorurteilen vorgeworfen wird. Stegners Äußerungen zeigen einmal mehr, in welchem desolaten Zustand die SPD ist.

Doch Stegner ist mit seinen Worten längst nicht allein. Johannes Vogel, der arbeitsmarktpolitische Sprecher der FDP-Bundestagsfraktion, sagte: „Die Grünen wollen offenbar vor allem mehr Geld ausgeben und sich vom Grundsatz ‘Fördern und Fordern’ verabschieden. Das ist der falsche Weg.“

Auch von der FDP also eine Haltung, die nicht im Ansatz ein Verständnis für die Realität der Armen aufweist. Im Motto „Fördern und Fordern“, so plausibel es auf den ersten Blick scheint, ist das Vorurteil angelegt, dass die Arbeitslosen nicht bereit wären, sich einzusetzen, um eine Arbeitsstelle zu finden. Auf eine schlimme Weise manipuliert es unterschwellig unsere Wahrnehmung der Menschen, die keine Arbeit haben. Das wäre so, als würde man unentwegt gegenüber Flüchtlingen sagen: Wir geben Dir etwas, aber Du musst uns auch etwas zurückgeben (nur damit das klar ist!). Sofort wird mit dieser Aussage ein negatives Bild installiert, das den Geflüchteten als jemanden zeigt, dem man etwas Selbstverständliches sagen muss. Er wird dargestellt als jemand, dem man unterstellen darf, dass er nur nehmen, aber nichts geben will. Wer im Zusammenhang von Arbeitslosigkeit von einem Fördern und Fordern spricht, bedient sich einer hintertückischen Manipulation.

Markus Blume, CSU-Generalsekretär, zeigte sich über den Umbau des Sozialstaates ebenfalls wenig begeistert. „Wer Hartz IV abschaffen will, fördert Arbeitslosigkeit und legt die Axt an den jahrelangen Aufschwung am Arbeitsmarkt.“ Außerdem: Der Arbeitszwang dürfe nicht abgeschafft werden, dass sei „völlig falsch“. Da glaubt der CSU-Mann offensichtlich tatsächlich daran, dass Hartz IV für einen Aufschwung am Arbeitsmarkt gesorgt hat – über die vielen prekären Beschäftigungsverhältnisse, die seit der rot-grünen Agenda entstanden sind, hüllt er das Schweigen.

Gegenwind kommt auch vom Deutschen Gewerkschaftsbund. Kein Geringerer als der DGB-Chef selbst, übt sich in Realitätsverklärung. Reiner Hoffmann sagte gegenüber der WAZ, er könne die „Schnappatmung, die viele bei dem Begriff Hartz IV bekommen, nicht nachvollziehen. Außerdem merkte der Top-Gewerkschafter an, es sei keine gute Idee, wenn man Arbeitslose nicht mehr zur Aufnahme von Arbeit zwinge, schließlich sei Arbeit doch „Teilhabe“. Dass Arbeit „Teilhabe“ bedeuten kann (bei anständiger Entlohnung), ist unbestritten, aber auch hier wird, sozusagen im Vorbeigehen, das Vorurteil vom faulen Arbeitslosen bedient (siehe zu den Einlassungen Hoffmanns auch die Anmerkungen in den NachDenkSeiten-Hinweisen des Tages).

Noch klarere Worte kommen von journalistischer Seite. Ulrich Reitz, ehemaliger Focus-Chefredakteur, hat sich mit den Äußerungen von Andrea Nahles auseinandergesetzt, die ebenfalls zu einem Kurswechsel in Sachen Hartz IV plädiert (siehe dazu auch: Nahles hinter der Bezahlschranke der FAZ). Reitz schreibt, dass der Verzicht auf Sanktionen im Sozialsystem falsch sei und fragt dann rhetorisch relativierend: „Wobei – was heißt das schon: Sanktionen?“ „Heute treffen sie vor allem jene, die Termine in der Arbeitsagentur versäumen oder Weiterbildungen gar nicht erst antreten“, führt der Journalist aus. Diese Gruppe entziehe sich ihrer „Mitwirkungspflicht“. „Weshalb sollte man ihnen das durchgehen lassen?“, so Reitz weiter und findet: „Hat die steuerzahlende Allgemeinheit, die Hartz IV für annähernd sechs Millionen Menschen in Deutschland bezahlen muss, nicht ein Anrecht darauf, dass für dieses Geld eine Gegenleistung erbracht wird?“

So sieht Klassenkampf von oben aus. Für Mitgefühl und Verständnis gegenüber den oft brutalen Lebenslagen in den armen Schichten ist da kein Platz. Wer Geld vom Staat bekommt, soll auch arbeiten. Aber zack, zack, so der Tenor. Die Tatsache, dass manche – auch und gerade junge – Arbeitslose aufgrund schwerwiegender persönlicher Hintergründe nicht so funktionieren können, wie ehemalige Chefredakteure es erwarten, spielt bei dieser Positionierung keine Rolle (zur Frage, was Sanktionen für die Betroffenen bedeuten, sei dieser Artikel empfohlen). Wer Zwang als rechtmäßiges Mittel im Umgang mit Arbeitslosen befürwortet, zeigt, so darf man es sehen, ein pädagogisches Verständnis, das dem „Konzept“ der Prügelstrafe in nichts nachsteht.

Aussagen wie die hier angeführten sind sicherlich nicht neu und waren zu erwarten. Aber sie lassen erahnen, dass diejenigen in der Gesellschaft, die Probleme mit einem Sozialstaat haben, in dem die Menschenwürde im Vordergrund steht, mit Argusaugen über ihre neoliberale Vorstellung von „Sozialstaat“ wachen. Sollten Pläne einer Abschaffung von Hartz IV weiter Gestalt annehmen, ist zu erwarten, dass es einen massiven Widerstand geben wird – vermutlich auch wieder unter Schützenhilfe großer Medien. Die rhetorischen Scharfmacher, Sozialstaatshasser, Rechtsausleger, Vorurteilsschürer und Klassenkämpfer von oben werden zur Stelle sein.


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