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Titel: Die Sprachlosigkeit der Intellektuellen zum Sozialen

Datum: 30. Januar 2019 um 15:15 Uhr
Rubrik: Audio-Podcast, Europapolitik, Rechte Gefahr, Soziale Gerechtigkeit, Strategien der Meinungsmache
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Mit einem aktuellen „Manifest europäischer Patrioten“ ruft der französische Intellektuelle Bernard-Henri Lévy zur „Verteidigung der europäischen Idee“ auf. Es ist – gerade angesichts der Rebellion der Gelbwesten – ein Dokument der Sprachlosigkeit: Wie bereits die „Erklärung der Vielen“ des deutschen Kulturbetriebs und andere Appelle verschweigt auch dieser Aufruf die soziale Grundlage der EU-Skepsis. Von Tobias Riegel.

Dieser Beitrag ist auch als Audio-Podcast verfügbar.

Zur „Verteidigung der europäischen Idee“ ruft der französische Publizist Bernard-Henri Lévy in einem „Manifest europäischer Patrioten“ auf, das kürzlich in der französischen Zeitung „Libération“ erschienen ist und das unter anderem die „Welt“ dokumentiert hat. Zahlreiche prominente Intellektuelle haben unterzeichnet, etwa Salman Rushdie und Orhan Pamuk. Mit donnernder Sprache und einer gehörigen Portion Pathos fordern die Unterzeichner, „die Fackel eines vereinten Europas brennend zu halten“. Andernfalls würde das Projekt zwischen populistischen „Propheten des Untergangs“ und den „immer weniger verhüllten Manövern des Kremlmeisters“ zerrieben werden. Einmal mehr werden in dem Aufruf die Symptome Rechtsruck, Spaltung und EU-Skepsis unredlich zur Ursache erklärt, während die sozialen Wurzeln der Phänomene verschwiegen werden.

Die bekannten Sündenböcke: Populisten und Putin

Interessanter als die Angriffe des Aufrufs auf die bekannten Sündenböcke „Populist“ und „Putin“ sind darum die Aspekte, die im „Manifest“ nicht angesprochen werden: Es fällt kein Wort zur sozialen Ungleichheit als Vorbedingung der gesellschaftlichen Spaltung und zum Beitrag der EU-Politik daran. Gerade angesichts der aktuellen Rebellion der Gelbwesten beweisen die Unterzeichner durch diesen emotionalen und verzerrenden Charakter des Appells ihre eigene Irrelevanz. Und sie schüren mit der Veröffentlichung möglicherweise das, was in dem Aufruf kritisiert wird: Die Dominanz der Rechten in zahlreichen gesellschaftlichen Debatten. Denn wer, wie die Unterzeichner, die sozialen Nöte der Bürger und das von der EU gestützte wirtschaftsliberale System ignoriert, der muss sich über die Übernahme dieser Felder durch die Rechten nicht wundern.

Der Aufruf findet zusätzlich keine angemessene Sprache, die jene EU-skeptischen Bürger noch erreichen könnte, die man angeblich umwerben möchte. Selbst wenn das „Manifest“ als Gegenentwurf zum Aktionismus der Gelbwesten gedacht ist, und die Bürger damit ins Lager der EU-Verteidiger zurückgelockt werden sollen, versagt es: Es trifft weder die Herzen noch die Hirne dieser Demonstranten, da es die Dringlichkeit der Sorgen der Menschen bestreitet, indem es sie verschweigt. Es ist darum ein Dokument der Selbstvergewisserung, das mutmaßlich nur in den Kreisen der Unterzeichner Wirkung entfalten wird. Diese Wirkung richtet sich als sichtbares Bekenntnis auch nach außen – das aktuelle Modewort für diese Haltung ist wohl „Virtue Signaling“.

Keine Forderung nach einer anderen Politik

Eine Abkehr von der staats- und bürgerfeindlichen Kürzungspolitik fordert der Aufruf als Reaktion auf Extremismus nicht – statt dessen wird beklagt, dass die Feinde der „liberalen Demokratie“ jenes politische Konstrukt zerstören wollten, „dem wir unseren Wohlstand verdanken“. So wird im Appell die problematische Wirtschaftspolitik der EU gegen Kritik abgeschirmt und es werden höchst unterschiedliche soziale Gruppen unter dem Wort „wir“ summiert.

Der Text schürt Ängste: Wenn „wir“ uns nicht „auf dem ganzen Kontinent mit neuem Elan zu Widerstand aufraffen“, dann drohe ein „Sieg der zerstörerischen Kräfte, Niederlage all derer, die sich dem Erbe des Erasmus, Goethe und Comenius verpflichtet fühlen, Verachtung von Intelligenz und Kultur; Eruptionen von Fremdenfeindlichkeit und Antisemitismus. Ein Horror“. Vor dieser düsteren Entwicklung möchte man sich gerne schützen – aber wie sollte er aussehen, dieser „Widerstand“, wenn die Sozialpolitik nicht als Ursache, ja nicht einmal als Problem thematisiert wird? Und wenn zusätzlich diffamiert wird, dass „Regierungen sich immer mehr auf ihre staatliche Souveränität versteifen“ würden?

Bernard-Henri Lévy wurde auch kürzlich vom DGB eine Plattform geboten für einen Artikel, der die Gelbwesten „im Zwielicht“ verortet.

Was die „Erklärung der Vielen“ nicht erklärt

Eine ähnliche Wirkung wie Lévys aktueller Appell zur EU erzielte Ende des Jahres die von Berliner Kulturschaffenden angestoßene „Erklärung der Vielen“. Zwar stehen in der Erklärung viele Forderungen, die man sofort unterschreiben kann: Etwa, dass die Unterzeichner in ihren Kulturinstitutionen den Austausch über rechte Strategien fördern wollen. Oder, dass die beteiligten Häuser „den Auftrag haben, unsere Gesellschaft als eine demokratische fortzuentwickeln“ und „kein Podium für völkisch-nationalistische Propaganda“ bieten dürften. Interessanter und problematischer sind aber auch hier jene Aspekte, die nicht thematisiert werden: Die soziale Kürzungspolitik als eine wichtige Ursache des Rechtsrucks wird nicht skandalisiert und damit indirekt beschützt.

Das Problem an dem regional variierenden Aufruf sind die dort festgemachten Grenzen des kritischen Dialogs. Wer die Sozialpolitik als Ursache und Vorbedingung des bedrohlichen Rechtsrucks nicht thematisiert, raubt der ganzen Debatte um den neuen furchtbaren Nationalismus die Basis. Ohne eine Abkehr von sozialen Kürzungen und anderen Schwächungen des Staates wird die Rechtsentwicklung aber kaum zu stoppen sein. Eine Vorbedingung dieser Abkehr ist die Markierung der wirtschaftsliberalen Kürzungspolitik als eine der Ursachen. Diese Positionierung wird von den Kulturschaffenden weitgehend verweigert und auch von dem aktuellen Appell aus Frankreich.

Dadurch stützen deutsche und europäische Intellektuelle die Strategie der etablierten Parteien, die hinter den Nazis die eigene Verantwortung für deren Erstarken verstecken wollen.


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