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Titel: Michael Lüders zur Geostrategie: „Einem moralischen Diskurs wird alles Weitere untergeordnet“

Datum: 8. März 2019 um 9:40 Uhr
Rubrik: Aktuelles, Außen- und Sicherheitspolitik, Interviews, Militäreinsätze/Kriege, Strategien der Meinungsmache
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Wir haben es mit einer Feindbildbetrachtung zu tun, die „politisch verstärkt“ wird. Das sagt der Nahost-Experte Michael Lüders im NachDenkSeiten-Interview zum Krieg in Syrien. Menschen tendierten generell dazu, die Welt in “Gut” und “Böse” zu unterteilen, aber sowohl Politik als auch Medien reduzierten den Konflikt ebenfalls auf ein einfaches Feindbildschema. Eigene machtpolitische Interessen, die auch in der westlichen Politik zu finden seien, würden einer moralischen Erzählung untergeordnet, nach der alles, was der Westen tue, sich lediglich an hohen moralischen Maßstäben orientiere. Der Bestseller-Autor verweist auf einen Vorfall, der im Januar bekannt wurde, wonach der Nationale Sicherheitsberater der USA einen Angriff unter falscher Flagge auf die US-Botschaft in Bagdad vorschlug, um so einen Vorwand für einen Krieg gegen den Iran zu schaffen – ein Vorschlag, dem die Militärs aber nicht folgten. Ein Interview von Marcus Klöckner.

Herr Lüders, gleich zu Beginn Ihres Buches haben Sie ein Zitat von Willy Brandt angeführt: “Frieden ist nicht alles. Aber ohne Frieden ist alles nichts.” Diese Einsicht Willy Brandts gerät in der heutigen Politik zunehmend in Vergessenheit.
Was führt Sie zu dieser Beobachtung?

Mein Eindruck ist, dass vor allem die Supermächte nicht mehr auf Augenhöhe miteinander reden, sondern jede Partei versucht, der jeweils anderen den eigenen Willen aufzuzwingen.

Haben Sie ein Beispiel?

Da gibt es viele. Wir können das gerade sehr schön beobachten bei den Verhandlungen zwischen den USA und China um Importzölle. Oder denken Sie an die internationalen Konflikte.

Sie sprechen von Syrien?

Im Syrienkonflikt, der im Wesentlichen ein Stellvertreterkrieg ist…

…zwischen wem?

Den USA und Russland. In diesem Konflikt geht es längst nicht mehr darum, Interessen zu benennen und einen Interessensausgleich zwischen den Parteien herbeizuführen, sondern die Supermächte versuchen, ihren eigenen Willen der anderen Seite aufzuzwingen. Und das ist gefährlich, weil es an der Bereitschaft fehlt, sich auch einmal in die Perspektive des anderen zu versetzen und nach Kompromissen zu suchen. Die Devise ist eher “The winner takes it all”, und nicht so sehr die Suche nach dem Kompromiss.

Was meinen Sie, woher kommt denn diese Einstellung, diese Grundhaltung? Wir haben über das Zitat von Willy Brandt gesprochen, Stichwort: Ostpolitik. Damals hatte man eine ganz andere Grundhaltung. Politiker haben versucht, sich in ihr Gegenüber hineinzuversetzen und haben an Kompromissen gefeilt. Diese neue Grundhaltung, die jetzt offensichtlich die Weltpolitik dominiert, woher kommt die denn, was sind da die Antriebe? Was ist Ihre Einschätzung?

Die Welt hat sich natürlich sehr verändert, verglichen mit der Zeit der Ostpolitik, der Zeit des kalten Krieges. Im Jahr 1989 ist bekanntlich die Berliner Mauer gefallen und danach wurden die USA für lange Zeit die einzige global dominierende Weltmacht. Die USA konnten ihre politischen Vorstellungen nahezu ungestört weltweit durchsetzen. Denn Russland war geschwächt nach dem Zerfall der Sowjetunion. Und China noch nicht so weit, um die Politik des US-Regiments herauszufordern. Diese internationale Konstellation hat sich insoweit verändert, als in den 2000er Jahren Russland wie auch China immer selbstbewusster angefangen haben, ihre eigenen Interessen wahrzunehmen. Gleichzeitig haben die USA den wirtschaftlichen und politischen Niedergang zu verzeichnen, der ausgelöst wurde sowohl durch die enormen Kosten des Irak-Krieges 2003 wie auch durch die Finanz- und Bankenkrise 2008. Und die USA sind dann, aus der Vogelperspektive betrachtet, eine Weltmacht, die heute eben nicht mehr allein in der Lage ist, ihre Interessen weltweit durchzusetzen, sondern sie muss ihre Interessen abgleichen mit denen Russlands und Chinas.

Wie beschreiben Sie das Agieren der USA?

Anstatt den Kompromiss zu suchen oder nach Verhandlungen zu streben, betreiben die USA eher eine Politik der imperativen, ultimativen Ansage. Sie wollen den anderen Akteuren auf dem politischen Feld sagen, was sie zu tun und zu lassen haben.

Womit wir wieder bei den Importzöllen wären?

Absolut, aber man kann das auch sehen mit Blick auf die Art und Weise, wie man Russland Interventionen in der Ukraine und Syrien vorwirft. Die eigenen militärischen Interventionen, die ja vor allem die USA seit 2001 in verschiedenen Ländern des Nahen und Mittleren Ostens durchgeführt haben, werden natürlich überhaupt nicht thematisiert, geschweige denn selbstkritisch betrachtet.

Russland und China waren bisher aber eher defensiv, oder?

Und genau das macht mir Sorgen. Hier liegt eine Gefahr, der sich viele Menschen vielleicht gar nicht so bewusst sind.

Warum das?

Was ist, wenn sich diese Haltung ändert, wenn die Russen, wenn die Chinesen anfangen, mit demselben Selbstbewusstsein, mit derselben fast schon aggressiv anmutenden Selbstbehauptung ihre politischen Interessen durchzusetzen wie die USA? Ich denke daran, dass die Chinesen im Südchinesischen Meer, wo sie ganz klar ihre Duftmarken setzen und nicht akzeptieren, dass andere Mächte ebenfalls dort an Kraft, an Einfluss gewinnen.
Kurzum, die Welt ist unübersichtlicher geworden, weil wir mehrere miteinander rivalisierende Machtzentren haben. Das können Staaten sein, aber auch supranationale wirtschaftliche Akteure, transnationale Unternehmungen, wie zum Beispiel Google oder Amazon, die mehr Umsatz erzielen als das Bruttosozialprodukt so mancher europäischer Mittelmacht beträgt.

Der Begriff “Machtpolitik” kommt in Ihrem Buch fast ein Dutzend Mal vor. In den Medien scheint mir diese Ebene der Machtpolitik ganz oft ausgeblendet oder zumindest sehr einseitig dargestellt – wenn sie überhaupt thematisiert wird. Wie sehen Sie das: Beleuchten Medien in ihrer Berichterstattung diese Macht-Ebenen nicht intensiv genug?

In der Politik wie auch in den Medien gibt es die Neigung, weniger über Interessen und über machtpolitische Konstellationen zu reden als vielmehr zu betonen, dass das eigene Handeln werteorientiert sei, dass insbesondere westliche Politik in erster Linie bestrebt sei, weltweit Demokratie, Freiheit und Menschenrechte durchzusetzen. Es ist also ein moralisch hoch angesetzter Anspruch, ein hoher moralischer Maßstab, den man an sich selbst anlegt. Einem moralischen Diskurs wird eigentlich alles Weitere untergeordnet.

Was heißt das? Wenn man selbst zu den „Guten“ gehört, muss man nicht über Macht reden?

So kann man es sagen. Ein gutes Beispiel dafür ist der Konflikt in der Ukraine, aber auch in Syrien.

Sie sprachen bereits von Stellvertreterkriegen.

Die Europäische Union ist hier eher in der Rolle des Juniorpartners der USA unterwegs. Im Falle Syriens haben wir eine sehr schlechte Erzählung gehabt mit Blick auf den dortigen Krieg: böse ist das Assad-Regime, böse sind alle, die das Assad-Regime unterstützen, insbesondere Russland und der Iran. Gut hingegen sind diejenigen, die dem Freiheitsbegehren der syrischen Bevölkerung zum Ausdruck verhelfen – das sind die westlichen Staaten, die gewissermaßen der Zivilgesellschaft zum Durchbruch zu verhelfen suchen und bemüht sind, demokratische Verhältnisse dort zu schaffen.

Das klingt doch gut.

Ja, das hört sich sehr edelmütig an, hat aber mit der Realität doch sehr wenig zu tun.
Die Kriegsakteure in Syrien wurden und werden sehr stark von außen gelenkt. Die meisten Aufständischen oder „Rebellen“ sind dschihadistischen Gruppen zuzuordnen, allen voran Al-Qaida und dem „Islamischen Staat“, die zunächst vom Irak aus den Krieg nach Syrien hineingetragen haben – mit Wissen, Billigung und aktiver militärischer wie finanzieller Unterstützung des Westens, der Golfstaaten und der Türkei.

Und der Stellvertreterkrieg …

…hat stattgefunden zwischen verschiedenen Staaten, also den USA und Russland, aber auch Israel und Iran, Saudi-Arabien und Iran. Und diese Konstellationen wurden in der Regel von den Medien nicht benannt. Man hat mit Blick auf das Assad-Regime betont, dass es Unterstützung aus Russland und dem Iran erhält, aber dass zum Beispiel die aufständischen Dschihadisten Waffen und Geld aus den genannten Ländern beziehen, das war nur am Rande ein Thema.

Es geht doch schon in der Sprache los. Man spricht von „Rebellen“, von einer „Opposition“, von einer „freien syrischen Armee“. Hier wird schon Realität geformt, die nicht unbedingt der realen Wirklichkeit entspricht.

Wirklichkeit ist natürlich immer ein komplexes Gebilde. Und natürlich neigen Menschen dazu, Komplexitäten vereinfachen zu wollen. Man ist geneigt als Mensch, die Welt in Gut und Böse zu unterteilen oder Konflikte zu personalisieren, um sich Figuren zu schaffen, mit denen man sich entweder identifiziert oder die man grundsätzlich ablehnt. Das ist Teil der menschlichen Natur, aber diese Feindbildbetrachtung wird natürlich zusätzlich politisch verstärkt. Das Problem ist, dass dieses nicht dazu beiträgt, analytische Zusammenhänge herzustellen, sondern eher auf einer emotionalen Ebene das Gefühl zu vermitteln: “Wir stehen auf dieser richtigen Seite der Guten”.

Welche Gefahren ergeben sich Ihrer Meinung nach aus der Situation, die sich gerade im Nahen Osten darstellt?

Wir haben eine ganz klar antiiranische Front in der Weltpolitik: Die USA, Israel und Saudi-Arabien wollen einen Sturz des Regimes im Iran herbeiführen. Die Frage ist: Wie kann man dieses Ziel erreichen? Im Augenblick setzen die Amerikaner darauf, dass man das Regime destabilisieren kann mithilfe von Wirtschaftssanktionen und mithilfe von Aufstandsförderung, indem Anschläge durchgeführt werden vor allem in Gebieten, in denen religiöse Minderheiten stark sind. So hatten wir unlängst einen Anschlag auf iranische Revolutionsgardisten mit 24 Toten. Das war das Ergebnis einer Infiltration von sunnitischen Extremisten aus Pakistan, die diesen Anschlag im Osten Irans durchgeführt haben. Und die Iraner werfen den USA und insbesondere den Saudis vor, dass sie von Pakistan aus Anschläge vorbereiten. Die Gefahr besteht darin, dass diese Konfrontationspolitik irgendwann einmal dazu führen könnte, dass es zu einer militärischen Auseinandersetzung mit dem Iran kommt.

Der scheidende israelische Generalstabchef Eizenkot sagte in einem Interview, dass die Israelis in den letzten Jahren tausende Angriffe – wohlgemerkt tausende! – geführt hätten auf iranische Stellung in Syrien. Nun stellen Sie sich einmal vor, die Iraner hätten jedes Mal zurückgeschossen. Dann hätten wir längst ein massives militärisches Engagement, eine Kriegssituation in der Region. Bislang haben sich die Iraner zurückgehalten, aber die iranische Führung hat klar gesagt: “Wir schießen künftig zurück”.

Sie sprachen gerade von „Aufstandsförderung“ und von Anschlägen.

Ende Januar berichtete das „Wall Street Journal“, dass der nationale Sicherheitsberater John Bolton im September vorigen Jahres das Pentagon beauftragt habe, einen Vorwand zu schaffen für einen Angriff auf den Iran. Er schlug vor, einen Granatenbeschuss der US-Botschaft in Bagdad im vorigen September, deren Urheber unbekannt sind, zum Vorwand zu nehmen für einen Angriff auf den Iran.

Eine altbekannte Taktik: False flag bzw. ein Angriff unter falscher Flagge.

Diese Anschläge wären dem Iran zugeschrieben worden, obwohl die Hintergründe des Beschusses, der keinen Schaden angerichtet hat, unbekannt sind. Doch das Pentagon hat sich diesem Ansinnen verweigert. Die Militärs sind erstaunlicherweise häufig viel rationaler und besser informiert. Und sie wissen, dass ein Krieg mit dem Iran kein Honigschlecken wäre und die gesamte Region in Brand setzten würde, und sie haben also sich dieser Weisung nicht gebeugt.

Das Fabrizieren von Kriegsgründen scheint zum Standardrepertoire einer, um etwas Neusprech zu gebrauchen, „robusteren Außenpolitik“ zu gehören.

So jedenfalls hat es John Bolton versucht und es ist auch bezeichnend, dass ihm dies nicht die Karriere gekostet hat. Nach wie vor ist er in Amt und Würden und hochangesehen. Aber auch wenn der Vorschlag nicht umgesetzt wurde, noch immer betreiben die USA die Politik des Regime Change in Sachen Iran – mit allen Folgen, die sich daraus ergeben.

Welche Folgen sind das?

Die Wirtschaftssanktionen führen zu einer Verarmung der iranischen Bevölkerung und vor allem zu einer Zerstörung der Mittelschicht, des sozialen Trägers gesellschaftlichen Wandels. Die Schicht, die ohnehin am meisten westlich orientiert ist und einen Wandel weg von der Islamischen Revolution wünscht – ausgerechnet sie wird ins Visier genommen und geschwächt. Das stärkt perspektivisch nicht die Pragmatiker.

Was müsste von deutscher Seite getan werden? Wie ordnen Sie denn das Verhalten von politischer Seite in Deutschland ein?

Berlin, Paris, London sowie die EU wollen das Abkommen beibehalten. Dazu ist es aber erforderlich, dass die Handelsbeziehungen mit dem Iran beibehalten werden – auch gegen die scharfe Kritik der USA. Nun haben sich Deutschland, Frankreich und Großbritannien darauf verständigt, eine Institution einzurichten, mit Sitz in Paris, die den Handel mit dem Iran abwickeln soll. Aber es ist ausdrücklich festgehalten worden, dass es dabei um humanitäre Maßnahmen geht. Es sollen also Produkte aus dem humanitären Bereich, insbesondere Lebensmittel und medizinische Versorgung weiterhin gewährt werden. Darüber hinaus ist nicht die Rede davon, den Handel mit dem Iran zu intensivieren oder etwa Exportbürgschaften zu geben. Es ist ein Beispiel dafür, dass die Europäer große Schwierigkeiten damit haben, sich von den USA abzugrenzen und selbst dort, wo ureigene Interessen betroffen sind, sie aufgrund der anmaßenden Haltung der USA nicht bereit sind, klar zu sagen: „Das ist die rote Linie, bis hierher und nicht weiter!“ Man passt sich letztlich an und folgt nach wie vor den Regieanweisungen aus Washington.

Lesetipp: Lüders, Michael: Armageddon im Orient: Wie die Saudi-Connection den Iran ins Visier nimmt. C.H. Beck. 265 Seiten. 14,95 Euro.

Titelbild: HR


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