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Titel: „Lafontaine hat hingeschmissen“ – ein Musterbeispiel für die Möglichkeit totaler Manipulation

Datum: 11. März 2019 um 11:12 Uhr
Rubrik: Audio-Podcast, einzelne Politiker/Personen der Zeitgeschichte, Gedenktage/Jahrestage, Kampagnen/Tarnworte/Neusprech, SPD
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Heute vor 20 Jahren ist Oskar Lafontaine als Finanzminister und SPD-Vorsitzender zurückgetreten. Die Meinung der Medien und auch eines beachtlichen Teils der Öffentlichkeit zu diesem Vorgang ist ein wirklich eindrucksvolles Beispiel für die Möglichkeit, die öffentliche Meinung und vor allem die Meinung der Medien zu prägen – unabhängig von dem, was wirklich war und welches die Hintergründe für den Rückzug waren. Albrecht Müller.

Dieser Beitrag ist auch als Audio-Podcast verfügbar.

Man müsste über dieses Thema nicht mehr schreiben, wenn es nicht aktuelle Relevanz hätte

Lafontaines Äußerungen und Meinungen sind auch heute noch anstößig. Sie stören und bedrohen die in Gang befindliche Anpassung der Etablierten im linken Lager an den neoliberalen und militärisch geprägten Zeitgeist. Lafontaine wendet sich gegen militärische Interventionen. Lafontaine kritisiert eine europapolitische und wirtschaftspolitische Linie, die den Süden Europas abhängt. Er spießt die neoliberale Ideologie am konsequentesten auf. Das ist im letzten Teil eines Gespräches mit dem Saarländischen Rundfunk gegen Ende des Interviews ganz gut herausgeschält worden. Siehe hier: “20 Jahre nach dem Bruch mit der SPD“.

Lafontaine gilt als Störfaktor beim Versuch, auch der Linkspartei die kritischen Zähne zu ziehen, und er stört immer wieder auch als Kritiker des Anpassungskurses der SPD. Die Entwertung und Schmähung seiner Gründe für den Rückzug vor 20 Jahren sind ein wichtiges Instrument zur Entwertung seiner Haltung von heute. Deshalb hier wieder einmal der Versuch, die Schlüssigkeit seiner Entscheidung von vor 20 Jahren zu begründen.

Die Gründe für den Rückzug – gravierende Meinungsunterschiede zu Kanzler Schröder und die Erkenntnis, dass Schröder über Bande, weitgehend über die Medien, gegen den Parteivorsitzenden Lafontaine spielt.

Die drei großen Differenzen:

  1. Gerhard Schröder und Joschka Fischer, die designierten Kanzler und Vizekanzler, haben schon bei ihrem Besuch im Washington im Oktober 1998 der US-Administration zugesagt, in einem Krieg gegen das Rest-Jugoslawien, dem späteren Kosovo-Krieg, mitzumachen. Das war dann die erste militärische Intervention im Ausland außerhalb des NATO-Territoriums und ein wirklicher Bruch der deutschen Politik. Das war nicht abgesprochen mit dem Parteivorsitzenden Lafontaine und ein erster wirklicher Vertrauensbruch.
  2. Lafontaine wollte als Bundesfinanzminister eine Regulierung der Finanzmärkte durchsetzen und wandte sich insbesondere gegen die Erfindung und Nutzung immer neuer sogenannter Finanzprodukte. Das war nicht im Sinne Gerhard Schröders und seiner offensichtlich damals schon vorhandenen Verbindungen zur internationalen Finanzwirtschaft.
  3. Lafontaine war ein Hindernis gegen den Sozialabbau und die Steuersenkungen zugunsten großer Unternehmen und hoher Einkommen. – Ab Dezember 1998 gab es das Bündnis für Arbeit im Bundeskanzleramt. Diese wesentlich von der Bertelsmann-Stiftung gefütterte und beeinflusste Versammlung diente auch der Vorbereitung der Agenda 2010. Lafontaine musste im Winter und Frühjahr 1999 also schon wissen, was Schröder plant und von wem er getrieben ist.

Zwischen Schröder, dem Bundeskanzler, und Lafontaine, dem SPD-Parteivorsitzenden, gab es wohl eine Abrede, dass Änderungen der großen Linie einvernehmlich geklärt werden sollten. Daran hielt sich Gerhard Schröder von Anfang an nicht.

Nach Aussagen von Lafontaine – siehe auch das oben verlinkte Gespräch mit dem Saarländischen Rundfunk – war dann eine von der Bild-Zeitung veröffentlichte Äußerung Schröders, er wolle Lafontaines Wirtschaftspolitik nicht mittragen. Das war dann wohl der Tropfen, der das Fass zum Überlaufen brachte.

Gab es eine Chance, im Amt zu bleiben und dort politisch zu überleben? Als Finanzminister? Als Parteivorsitzender? Aus meiner Sicht bei beidem: Nein!

Lafontaine musste spätestens im März 1999 klar sein, dass der Meinungsunterschied mit dem Bundeskanzler Schröder kein punktueller sein würde, es war klar, dass er mit allen Mitteln gemobbt werden sollte. – Für mich war das damals keine neue Erfahrung, ich hatte das gleiche Spiel im April und Mai 1974 beim Rücktritt Willy Brandts als Bundeskanzler erlebt. Ich war damals Leiter der Planungsabteilung im Bundeskanzleramt und nahe dran am Geschehen. Damals gab es das gleiche Zusammenspiel von politischen Gegnern in den anderen Parteien mit Leuten aus den eigenen Reihen, und das Ganze war getragen von einschlägigen Medien. Willy Brandt wurden zum Beispiel Weibergeschichten angedichtet. Damit wurde zugleich seine angebliche Abhängigkeit vom DDR-Spion Guillaume, dem eine Vermittlerrolle zugeschrieben wurde, unterfüttert. Gefügige Medien und sogenannte Parteifreunde gab es damals wie 1999 dann auch im Falle Lafontaine.

Die Medienkampagne lief bei Lafontaine sogar über ausländische Medien. So erschien im britischen Boulevardblatt Sun ein Artikel mit der Behauptung, Lafontaine sei der gefährlichste Mann Europas. Im Innern musste dem damaligen SPD-Vorsitzenden Lafontaine klar sein, dass er gegen die Medienstärke der Umgebung von Gerhard Schröder nicht ankommen würde. Schröder hatte mit Bodo Hombach, Wolfgang Clement und Uwe Karsten Heye Personen an Bord, die das Spiel mit den Medien äußerst professionell betreiben konnten. Dagegen anzukommen, war ausgesprochen schwierig, noch dazu deshalb, weil die Position des Bundeskanzlers medial um Vieles interessanter und stärker ist, als die eines Finanzministers und SPD-Vorsitzenden.

Oskar Lafontaine deutet neuerdings an, dass es vielleicht besser gewesen wäre, wenigstens als Parteivorsitzender im Amt zu bleiben. Das halte ich für eine Fehleinschätzung. Die Muster der Kampagne gegen einen Parteivorsitzenden, der parallel zum Bundeskanzler der gleichen Partei im Amt ist, kannten wir ebenfalls aus der Vergangenheit: als Willy Brandt vom Amt des Bundeskanzlers zurückgetreten war, blieb er Parteivorsitzender und spielte eine ausgesprochen positive Rolle in der Politik und insbesondere bei Wahlkämpfen. Das begreift man sofort, wenn man einmal begriffen hat, dass eine Volkspartei wie die SPD (und die CDU/CSU) nur stark ist, wenn sie vielfältig auftritt. Deshalb war die damalige Kampagne schon rundum falsch. Die Trennung der Ämter in Helmut Schmidt als Bundeskanzler und Willy Brandt als Parteivorsitzender hat dem Ansehen der SPD und ihren Wahlchancen keineswegs geschadet, sondern immer genutzt, selbst bei Differenzen im Detail. Nur bei jenen vielen Parteistrategen und Medien, die die Geschlossenheit wie eine Monstranz vor sich hertragen, ist noch nicht angekommen, dass programmatische und personelle Pluralität bei den Volksparteien wie CDU/CSU und (damals) SPD eine der wichtigen Voraussetzungen für gute Wahlergebnisse darstellt.

Lafontaine hat auch Fehler gemacht

Vor allem nach dem Rücktritt, zweifellos. Er hätte Medienarbeit machen sollen. Er hätte sogar auf Parteiversammlungen auftreten sollen. Er hätte seinen Schritt erklären sollen. Gut, das sagt man heute so leicht. Es gibt ja auch noch die Psyche eines Menschen. Aber in der Politik muss man wahrscheinlich einkalkulieren, dass man unter die Räder kommt, wenn man schweigt und wichtige eigene Entscheidungen nicht ausreichend umfangreich und ausreichend inhaltsreich erklärt.

Hier noch ein paar Produkte unserer Medien zur Erinnerung an die Zeit vor 20 Jahren:

  1. So war’s: Rücktritt Finanzminister Oskar Lafontaine aus der SPD

    Aktuelle Stunde | 09.03.2019 | 05:33 Min. | Verfügbar bis 09.03.2020 | WDR | Von Henry Bischoff

    Vor 20 Jahren geht eine politische Schockwelle durch das Land. Der Auslöser: Oskar Lafontaine – zu der Zeit SPD-Vorsitzender und Bundesfinanzminister der rot-grünen Bundesregierung. Am 11.3.1999 geht im Kanzleramt ein Schreiben von ihm ein: “Sehr geehrter Herr Bundeskanzler, ich trete hiermit als Bundesminister der Finanzen zurück. Mit freundlichen Grüßen, Oskar Lafontaine”.

  2. Eine Lange Nacht über die Zukunft der Volksparteien

    Seht, was aus uns geworden ist!

    Die Volksparteien CDU/CSU und SPD konnten bei den Landtagswahlen im Herbst letzten Jahres gemeinsam nicht einmal mehr als die Hälfte aller Wählerinnen und Wähler für sich gewinnen. Doch was bedeutet diese Fragmentierung für die Republik im 70. Jahr des Grundgesetzes?

    Moderation: Birgit Wentzien

    Oskar Lafontaine schmeißt im März 1999 als Bundesfinanzminister und als Parteichef der SPD hin. Lafontaine hatte seine Partei begeistert wie kaum ein anderer und dann verletzt wie kein Zweiter. Seine Geschichte ist das extreme Beispiel für Aufstieg und Fall eines SPD-Vorsitzenden. Neun Vorsitzende hat die SPD in knapp drei Jahrzehnten verschlissen, mehr als jede andere Partei. Fast alle erlebten eine politische Achterbahnfahrt mit Jubel zu Beginn, keimenden Zweifeln und tiefen Abstürzen danach. Mancher startete als Messias, wie zuletzt Martin Schulz. Viele scheiterten auch aufgrund vollkommen überzogener Erwartungen.

    Die Koordinaten des deutschen Parteiensystems insgesamt verschieben sich. Seit Jahren schmelzen in fast allen Ländern Europas die traditionellen Lager zugunsten rechter Randparteien und neuer Gruppierungen zusammen. Die bundesrepublikanische Parteienlandschaft – so betrachtet – wird europäisch.

    Was bedeutet diese Fragmentierung für die Republik im 70. Jahr des Grundgesetzes? In welcher Verfassung sind die Parteien und was heißt das für das Land? Wohin geht die Reise zwei Jahrzehnte nach der Flucht Oskar Lafontaines?

    Darüber diskutieren in dieser Langen Nacht: Marieluise Beck, Günter Bannas, Günther Beckstein, Rudolf Dressler, Albrecht von Lucke, Sergej Lochthofen.

    Anmerkung dazu: Diese Sendung vom vergangenen Samstag Nacht enthielt eine Erklärung von Rudolf Dressler, die weitgehend mit dem übereinstimmt, was ich oben formuliert hatte. Sie enthielt darüber hinaus einige gravierende Geschichtsklitterungen, Fehlinterpretationen und falsche Analysen – an herausragender Stelle von Seiten des als progressiv dargestellten Albrecht von Lucke, Redakteur bei den „Blättern“. Lucke machte den Niedergang der SPD an Oskar Lafontaines Rücktritt von vor 20 Jahren fest. Das ist eine bemerkenswerte Leistung, die ablenkt sowohl von der Rolle der Agenda 2010 als auch der Enttäuschung über die Umorientierung der SPD von der Friedenspartei zur militärischen Interventionspartei, die mit dem Kosovo-Krieg begonnen wurde.

    Interessant ist auch eine Sendung im Deutschlandfunk von vor zehn Jahren. Dort werden die Differenzen bei der Frage der Regulierung der Finanzmärkte recht gut herausgeschält:

  3. Hatte Oskar Lafontaine recht?

    Ja, zumindest in einem Punkt. Im Hinblick auf die Entwicklung der internationalen Finanzmärkte lautet das Lafontainesche Credo seit Jahren: Der Staat muss die Spielregeln festlegen und viel stärker regulieren, als er es gegenwärtig tut. Dafür ließ er sich schelten.

    Von Tonia Koch

    Lafontaine: “Damals habe ich schon gesagt, wir dürfen diese Spekulationswirtschaft nicht zulassen. Wir brauchen eine Kontrolle des Kapitals und wir brauchen eine Stabilisierung der Wechselkurse. Die englische „Sun“, das ist so etwas wie die Bild-Zeitung, sie hetzte, ich sei der gefährlichste Mann Europas. Umgekehrt wird ein Schuh draus: Diejenigen, die gedankenlos und verantwortungslos spekulieren, ruinieren die Weltwirtschaft, wir müssen endlich wieder Schranken setzen und Regulierungen durchführen.“

    Der von vielen als selbsternannter Weltökonom verspottete Lafontaine beschreibt bereits 1998 die Folgen eines ungezügelten Kapitalismus. In seinem Buch mit dem Titel: Keine Angst vor der Globalisierung, Wohlstand und Arbeit für alle, heißt es.

    Die Risiken der aufgeblähten Geld- und Kapitalmärkte sind groß, ihre Kosten erheblich. Immer häufiger kommt es zum Zusammenbruch von Banken, wodurch das gesamte System bedroht wird. Da täglich neue Finanzierungsinstrumente geschaffen werden, für die keine Regeln bestehen, werden sich Bankenkrisen in Zukunft häufen.

    Bis vor wenigen Monaten wussten die meisten Menschen nicht, was sich unter dem verharmlosenden Begriff Finanzprodukte verbirgt. Hinter den meisten Finanzprodukten stehen eben keine Produkte sondern Wetten. Wetten darauf, dass sich Weltmarktpreise für Rohstoffe, Zinsen oder Währungen nach oben oder nach unten bewegen. Von Briten und Amerikanern einmal abgesehen, begegneten die Europäer diesen Finanzprodukten zunächst skeptisch. Sie willigten dennoch ein, dass sich die europäischen Geldhäuser an den Transaktionen der Investmentfirmen beteiligten. Die Kontrolle überließen sie dabei privaten Agenturen, diese sollten die Risiken einschätzen. Ein Fehler – so Lafontaine – in seinem 1999 erschienen Buch: Das Herz schlägt links.

    Ein weltweites Spielcasino war eröffnet. In diesem Spielcasino verspielten die Leute aber nicht wie im normalen Spielcasino ihr eigenes Geld, vielmehr hatten sich insbesondere die Hedge-Fonds Geld von den Banken geliehen und setzten es international zu Zwecken der Spekulation ein.

    Ob die aktuelle Krise hätte verhindert werden können, hätte es eine staatliche Regulierung gegeben, lässt sich im Nachhinein nicht sagen. Ebenso fraglich ist, ob sie hätte wirksam organisiert werden können. Das Kapital agiert international bis hin zur letzten Insel, die Politik hingegen tut dies nur selten. Aber selbst Hans Werner Sinn, Präsident des Ifo-Institutes – in der Regel sicher nicht auf Lafontaine-Linie – kommt in einem Interview der FAZ zu dem Ergebnis.

    Die Finanzkrise ist das Ergebnis einer volkswirtschaftlichen Ineffizienz der Regulierungssysteme, die den Banken viel zu viele Freiheiten gegeben haben.

    Lafontaine darf sich als Mahner im Nachhinein bestätigt fühlen. Nur er selbst ist freilich an der Umsetzung der Forderung nach Regulierung gescheitert, das sollte nicht unerwähnt bleiben.

Titelbild: 360b / Shutterstock


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