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Titel: Die Antisemitismus-Falle: Wie ein Begriff manipuliert und entwertet wird

Datum: 25. Juni 2019 um 11:09 Uhr
Rubrik: Antisemitismus, Audio-Podcast, Kampagnen / Tarnworte / Neusprech, Kirchen/Religionen, Strategien der Meinungsmache
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Lanciert von der ZEIT-Stiftung und unterstützt unter anderem von der Bundeszentrale für politische Bildung ist am 12. Juni eine neue Webseite vorgestellt worden, auf der über Antisemitismus im Alltag aufgeklärt werden soll. Präsentiert werden dort Aussagen, die den Machern zufolge „offen oder versteckt antisemitisch“ sind, sowie Argumente, mit denen solchen Äußerungen begegnet werden kann. Der Ansatz erscheint löblich, doch schaut man genauer hin, stellen sich Fragen – die letztlich zum Kern des deutsch-israelischen Verhältnisses führen. Von Paul Schreyer.

Dieser Beitrag ist auch als Audio-Podcast verfügbar.

So findet sich auf der neuen Webseite „Stop Antisemitismus“ neben vielen klar rassistischen Formulierungen auch folgendes Zitat, zugeschrieben einer Lehrerin aus Frankfurt am Main: „Ich habe natürlich nichts gegen Juden, die sind für mich ganz normale Menschen wie alle anderen. Aber das, was in Israel passiert, kann ich als Menschenrechtlerin einfach nicht hinnehmen.“ Diese Aussage wird als antisemitisch eingeordnet. Dass sich die Lehrerin als Menschenrechtlerin bezeichne, sei zudem eine „Selbsterhöhung“, die „auf eine arrogante, selbstgerechte Haltung“ hinweise. Der Nahostkonflikt sei häufig eine „Projektionsfläche für judenfeindliche Gefühle“. Weiter heißt es auf der Webseite:

„Das, was sich viele Menschen nicht über Juden zu sagen trauen, ersetzen sie mit ‘die Israelis’ oder ‘Israel’ und wähnen sich damit auf der sicheren Seite. (…) Die Lehrerkraft stellt einen expliziten Zusammenhang her, indem sie zunächst von ‘den Juden’ spricht, gegen die sie nichts habe, und im weiteren dann von Israel, ganz so als seien ‘die Juden’ mit dem Staat Israel identisch. (…) Gleichzeitig betont der Sprecher hier, dass es sich bei Juden um ‘ganz normale Menschen wie alle anderen’ handelt. Wenn er oder sie das wirklich denken würde, müsste diese Aussage nicht noch extra hervorgehoben werden. Der Sprecher hier ist eine Lehrkraft. Bildung schützt leider nicht vor antisemitischen Denkmustern.“

Der Kommentar macht deutlich, wie problematisch der verfolgte Ansatz ist. Wenn schon die Aussage, „was in Israel passiert, kann ich nicht hinnehmen“, als antisemitisch eingestuft wird, wenn der Hinweis, man „habe nichts gegen Juden“, zum Beweis einer versteckten Judenfeindschaft mutiert, dann hat das notwendige Engagement gegen den realen und nicht bloß imaginierten Judenhass kaum eine Chance.
Das Beispiel ist kein Einzelfall. So wird auf der Webseite auch ein „links-politisch engagierter Akademiker aus Berlin“ mit den Worten wiedergegeben: „Israelkritik muss erlaubt sein“. Auch diese Feststellung gilt den Machern des Infoportals als versteckter Antisemitismus. Im einordnenden Kommentar heißt es, bereits der Begriff „Israelkritik“ sei anstößig:

„Der gesamte Staat Israel wird gleichgesetzt mit der Politik der Regierung, als ob alle Bürger die Politik der Regierung tragen würden. Dies ist genauso wenig der Fall, wie in Deutschland alle Bürger hinter der Politik der aktuellen Regierung stehen. Zugleich sagt der Sprecher ‘muss erlaubt’ sein, er geht also davon aus, dass es nicht erlaubt ist, an Israel Kritik zu üben, es also ein Sprechverbot geben würde. Dies ist nicht der Fall, es gibt kein Sprechverbot, Kritik zu üben. In Demokratien wie Deutschland, Österreich oder Israel ist Kritik an der Staatsregierung erlaubt und erwünscht. In Deutschland ist dies im Grundgesetz verankert. (…) Mit seiner Behauptung macht sich der Sprecher selbst zum Opfer: ‘Ich darf nichts über Israel sagen, mir wird der Mund verboten.’ Dieser Versuch, sich selbst als Opfer zu erklären, entbehrt jeder Grundlage und ist unangebracht.“

Dass eine solche Aussage kaum haltbar ist, haben zuletzt die brisanten Erfahrungen des Kommunikationswissenschaftlers Prof. Michael Meyen gezeigt, der 2018 an der Universität München eine Veranstaltung mit dem Titel „Israel, Palästina und die Grenzen des Sagbaren“ organisierte. Er, und noch mehr der Referent Andreas Zumach, erlebten im Zusammenhang mit der Veranstaltung vielfältige Rufmordversuche. Anlass des Vortragsabends war der umstrittene Münchner Stadtratsbeschluss von 2017 gewesen, wonach Veranstaltungen, die sich mit der israelischen Besatzung Palästinas auch nur „befassen“, in städtisch finanzierten Räumen nicht mehr erlaubt sind – was das Verwaltungsgericht München nachträglich für rechtens erklärte.

„Das ‘Kritiktabu’ ist ein Phantasma“

Von solchen Fakten unberührt heißt es in der Argumentationshilfe der Webseite „Stop Antisemitismus“, die auch vom Beauftragten der Bundesregierung für den Kampf gegen Antisemitismus unterstützt wird (dieses Amt gibt es seit 2018):

„Studien haben sogar nachgewiesen, dass das Argument des ‘Kritiktabus’ ausschließlich von Antisemiten benutzt wird, um den Vorwurf von Antisemitismus abzuwehren: ‘Weder in der Politik noch in der seriösen Forschung wurde je eine solche Gleichsetzung (von Kritik an der israelischen Regierung und Antisemitismus; Anmerkung P.S.) vertreten. Das ‚Kritiktabu‘ ist ein Phantasma im Kopf von Antisemiten.’“

Dieses letzte Zitat wird ohne Quelle präsentiert. Eine Suche ergibt, dass es von Prof. Monika Schwarz-Friesel stammt, einer Sprachforscherin von der Technischen Universität Berlin, die eine zentrale Rolle in der Antisemitismus-Forschung in Deutschland spielt. Schwarz-Friesel, verheiratet mit dem langjährigen Leiter des israelischen Staatsarchivs, Evyatar Friesel, hat zahlreiche Publikationen zum Thema veröffentlicht und ist in den Medien ein gern gesehener Interviewpartner, wenn es um Antisemitismus geht. Immer wieder wurden sie und ihre Forschung in den vergangenen Jahren prominent erwähnt, von BILD und ZEIT über ARD und ZDF bis hin zur New York Times.

Wachsender Antisemitismus?

Im Juli 2018 veröffentlichte sie eine gut 70-seitige Studie unter dem Titel „Antisemitismus 2.0 und die Netzkultur des Hasses – Judenfeindschaft als kulturelle Konstante und kollektiver Gefühlswert im digitalen Zeitalter“, Ergebnis einer Untersuchung, die über vier Jahre von der Deutschen Forschungsgemeinschaft gefördert worden war. In überarbeiteter Form erschien der Text vor wenigen Wochen auch als Buch unter dem Titel „Judenhass im Internet“. Laut dieser Untersuchung haben antisemitische Äußerungen im Netz und insbesondere in den Leserforen der großen deutschen Medien in den vergangenen Jahren massiv zugenommen. Auf tagesschau.de hieß es dazu unter der Überschrift „Antisemitismus durchdringt das Netz“ dramatisch:

„Im Zehn-Jahres-Vergleich habe sich die Anzahl der antisemitischen online-Kommentare zwischen 2007 und 2018 zum Teil verdreifacht. Nutzer seien im Internet kaum noch vor judenfeindlichen Texten sicher.“

Tatsächlich heißt es in der Studie, man habe „einen starken Anstieg von antisemitischen Texten in den Kommentarbereichen der Online-Qualitätsmedien belegt“. Dazu wird eine Tabelle präsentiert, derzufolge der Anteil von antisemitischen Kommentaren in den Leserforen von WELT, Süddeutscher Zeitung, ZEIT, FAZ, taz, Tagesspiegel und Focus zwischen 2007 und 2017 von unter 10 auf über 30 Prozent zugenommen habe. Doch worauf stützen sich diese Zahlen? Was ist die Bezugsgröße?

Betrachtet man die Studie genauer, wird eine fragwürdige Methodik sichtbar. Denn die Professorin und ihr Team haben in den einzelnen Jahren des Untersuchungszeitraums keine vergleichbaren Datensätze erhoben, sondern in jedem Jahr die analysierten Texte unterschiedlich ausgewählt. So wurden nicht etwa fortlaufend Leserkommentare mit allgemeinem Bezug zu Israel und Juden untersucht, sondern Schwarz-Friesel wählte für jedes Jahr ein jeweils anderes, ganz spezielles Medienthema aus und wertete die Leserkommentare dazu dann als stellvertretend für den Antisemitismus im Gesamtjahr. So wurden etwa für das Jahr 2007 Leserkommentare zur Oettinger-Filbinger-Affäre analysiert, 2009 zur Gaza-Krise, 2012 zur Beschneidungsdebatte, 2014 wiederum zur Gaza-Krise und 2017 zum Israel-Besuch des damaligen Außenministers Sigmar Gabriel.

Ich fragte bei Frau Prof. Schwarz-Friesel nach, inwiefern eine solche eher willkürliche Auswahl beanspruchen könne, die Entwicklung antisemitischer Äußerungen im gesamten Bereich der Online-Leserforen großer Tageszeitungen über 10 Jahre vergleichbar abzubilden, erhielt aber keine Antwort. Aus wissenschaftlicher Perspektive sind die Ergebnisse mit Vorsicht zu genießen, insbesondere, wenn daraus eine allgemeine gesellschaftliche Zunahme der Judenfeindschaft abgeleitet wird.
Eine Studie von Michael Kohlstruck und Peter Ullrich, die vom Berliner Senat beauftragt wurde und einen ähnlichen Untersuchungszeitraum umfasst, konnte keinen dramatischen Anstieg des Antisemitismus feststellen, sondern zeigt, dass zumindest die verfügbaren Zahlen aus Polizeistatistiken und anderen systematischen Datensammlungen sehr uneinheitlich sind und keinen klaren Trend erkennen lassen.

„Vorgegebene Deutungsmuster“

Auch der Sprachwissenschaftler Wolfgang Krischke, der Schwarz-Friesels Studie in der FAZ als „beeindruckende Forschungsleistung“ lobte, bemängelte gravierende methodische Schwächen. (Der FAZ-Artikel steht hinter einer Bezahlschranke, eine frei verfügbare Version findet sich hier.) Die Forscherin betone die Objektivität der Ergebnisse, doch eben dies stünde in Frage. Krischke weist darauf hin, dass es zur Wahrung eines Mindestmaßes an Objektivität bei wissenschaftlichen Sprachanalysen üblich sei, mehrere unabhängig voneinander arbeitende Personen – sogenannte Kodierer – einzusetzen, die die Texte deuten:

„Stimmen ihre Ergebnisse überein, gilt das als Beleg für die empirische Stichhaltigkeit. Oft werden dafür Laien engagiert, um so zu gewährleisten, dass die Kodierung von Wörtern und Sätzen das allgemeine Sprachverständnis spiegelt. Das allerdings war im Berliner Projekt anders. Hier wurden die Kodierungen von zwei Mitarbeitern des Projekts vorgenommen, die sich an seinem theoretischen Rahmen orientierten. Das hatte den Vorteil, dass sie über einen geschärften Blick für die sprachlichen Nuancen und Abgründe ihrer Untersuchungsobjekte verfügten. Es bedeutete aber auch, dass sie sich in vorgegebenen Deutungsmustern bewegten.“

Dadurch sei die Objektivität der Ergebnisse begrenzt. Krischke bemängelt zudem, dass „nicht recht klar“ werde, „wie sich antisemitische von nichtantisemitischer Israel-Kritik zuverlässig abgrenzen lässt“. Tatsächlich taucht in der Studie – und auch sonst bei vielen Aktionen gegen Antisemitismus, wie etwa auf der eingangs beschriebenen Webseite – immer wieder das Argument auf, dass Judenfeinde sich als Israelkritiker bloß tarnen würden. Damit werden Kritik an israelischer Politik und Antisemitismus unentwirrbar miteinander vermischt.

In einem 2016 geführten Interview betonte Schwarz-Friesel zwar, Kritik an Israel sei kein Antisemitismus, schränkte aber gleich ein, der potenzielle Kritiker sei eigentlich doch ein Antisemit, sofern er seine Kritik an Israel „nur vorschiebt“. Doch wer so argumentiert, der verlässt unvermeidlich das Feld überprüfbarer Wissenschaft und läuft Gefahr, eigenen Unterstellungen und Projektionen auf den Leim zu gehen. Denn wer will entscheiden, ob das Argument des Gegenübers von diesem „nur vorgeschoben“ oder aber ehrliche Überzeugung ist?

„Impliziter Antisemitismus“ durch „Codewörter“

Der Leitfaden, nach dem die Mitarbeiter Schwarz-Friesels die Leserkommentare deuteten, unterscheidet zwischen „explizit“ und „implizit verbal-antisemitischen“ Aussagen. Wie aber ist „implizit antisemitisch“ definiert? Auch das gehörte zu den Fragen, die ich Frau Prof. Schwarz-Friesel stellte – und die unbeantwortet blieben.
Es handelt sich um einen Graubereich, dessen Existenz allerdings rundweg geleugnet wird. Der Sprachwissenschaftler Krischke schildert, wie die Professorin im Gespräch mit der FAZ „nachdrücklich verneint“ habe, dass es neben vielen klaren Befunden für Antisemitismus „auch Grauzonen der Interpretation gibt, die eine eindeutige Zuordnung verhindern“.
Dieses Schwarz-Weiß-Denken ist nützlich für eine politische Agenda, die harte Kritik an israelischer Politik aus dem akzeptierten Meinungsspektrum möglichst heraushalten möchte. Denn der Antisemitismus-Vorwurf wird dann zu einer besonders effektiven politischen Waffe, wenn er sich auf Ansichten ausweiten lässt, die dem Anderen lediglich unterstellt, von diesem aber gar nicht direkt geäußert werden. Mit einer solchen Methode lassen sich nicht mehr nur einzelne Formulierungen tabuisieren, sondern ganze Diskussionsfelder willkürlich verminen.

An dieser Stelle kommen die so genannten „Sprachcodes“ und „Camouflagetechniken“ – also „Tarnmethoden“ – ins Spiel. Demnach würden viele Antisemiten, besonders aus dem linken politischen Spektrum, „Substitutionen“ verwenden, Ersatzworte, die aber eigentlich ganz Anderes meinten. Dies gelte es zu enthüllen. So heißt es in der Studie:

„Entsprechend werden Antisemitismen vielfach camoufliert kodiert: Nicht die Lexeme ‘Juden’ und ‘Judentum’, sondern Substitutionen wie ‘Israelis’, ‘Zionismus’, Chiffren wie ‘Rothschild’, vage Paraphrasen wie ‘jene einflussreichen Kreise’ oder rhetorische Fragen wie ‘Warum sind Zionisten böse?’ werden benutzt, um judenfeindliche Semantik zu verbreiten.“

In der Langfassung der Studie (die inzwischen von Schwarz-Friesels Webseite an der TU Berlin entfernt wurde, im Internet-Archiv aber noch verfügbar ist) heißt es weiter:

„Linke Antisemiten benutzen im Unterschied zu Rechtsextremen und Muslimen wesentlich mehr Camouflagetechniken, um ihre judenfeindlichen Posts zu legitimieren: Sie treten mit Moralappellen (‘zum Guten der Menschheit’, im ‘Kampf für Gerechtigkeit’ und ‘gegen Rassismus’) und oft unter der Selbstbezeichnung ‘Friedensaktivisten’ auf. (…) Insbesondere linke Aktivisten in den USA und in Großbritannien weisen in ihren Texten alle Merkmale eines obsessiven Judenhasses auf, kodieren entsprechende Stereotype, camouflieren ihren Antisemitismus aber nach außen stets als ‘Kritik’. Siehe z.B. www.occupywallst.org.“

Der Verweis auf „Codewörter“ und „Camouflagetechniken“ ist in hohem Maße unwissenschaftlich, da wiederum rein auf der Ebene von Unterstellungen gearbeitet wird, die man nicht beweisen und damit natürlich auch nicht entkräften kann. Das Ganze wird so zu einer Glaubensfrage und damit nutzlos und sogar schädlich für Bildung und Aufklärung.

Jemandem zu unterstellen, er sei ein Antisemit, weil er den Namen „Rothschild“ in den Mund nimmt, von „einflussreichen Kreisen“ oder „der Israellobby“ spricht, ist Rufmord. Manche, wie der Handelsblatt-Autor Norbert Häring, kontern solche Angriffe mit Humor, doch sind die Attacken in ihrer Böswilligkeit und ausgrenzenden Wirkung nicht zu unterschätzen.

Ebenso wichtig: Der Begriff des Antisemitismus selbst wird durch solch inflationäre Verwendung zunehmend entwertet. Diejenigen, die das Wort politisch nutzen und für ihre Zwecke maximal auszureizen versuchen, leisten damit dem eigentlichen Anliegen keinen guten Dienst. Ganz im Gegenteil: Die politische Instrumentalisierung eines ursprünglich rein humanistischen Anliegens (Antirassismus) dürfte den realen und weiter gefährlichen Antisemitismus eher noch anheizen, da sie als unehrlich und unfair wahrgenommen wird.

Hinzu kommt, dass sich auch der reale Antisemitismus, wie er sich in offen rassistischen Aussagen zeigt, nicht allein durch Aufklärung verringern lässt, denn er steht, so erklärt es zumindest die bereits erwähnte Antisemitismus-Studie von Michael Kohlstruck und Peter Ullrich, „in empirisch nachweisbaren Zusammenhängen mit sozialen Benachteiligungen, erfahrener Diskriminierung und Abwertung der sozialen Identität.“ Das rechtfertigt selbstverständlich keinen Judenhass, zeigt aber, dass Menschen, die den Antisemitismus ernsthaft verringern möchten, sich auch mit diesen Ursachen beschäftigen müssten. Wo Menschen, die selbst Diskriminierung erfahren, andere hassen oder ablehnen, reicht Belehrung allein nicht aus.

Sind Antizionisten auch Antisemiten?

Die politische Manipulation des Begriffes Antisemitismus beruht häufig auf einer sachlich falschen Vermischung der Worte Judentum, Israel und Zionismus. Diese lassen sich nicht einfach austauschen, sondern bezeichnen Unterschiedliches. Der Zionismus ist eine nationalistische Ideologie mit dem Leitbild eines jüdischen Nationalstaats. Man kann sich als Jude durchaus mit vollem Herzen zur eigenen Religion bekennen, zugleich aber Antizionist sein. Der israelische Soziologe und Geschichtsprofessor Moshe Zuckermann betont, es sei ein grundlegender Fehler vieler Aktivisten gegen Antisemitismus, „dass sie nicht verstanden haben, dass nicht alle Juden Zionisten sind, nicht alle Zionisten Israelis sind, und nicht alle Israelis Juden sind“. Tatsächlich sind beispielsweise orthodoxe Juden antizionistisch und lehnen einen weltlichen Staat Israel aus theologischer Sicht ab. In einem 2018 gesendeten Deutschlandfunk-Bericht kommt ein orthodoxer Rabbiner mit folgender Einschätzung zu Wort:

„Israel inszeniert sich selbst als Nationalstaat des jüdischen Volkes. Das ist einfach falsch. 1948 kommen ein paar Leute zusammen, gründen einen Staat im Nahen Osten und behaupten dann, das sei der Staat von Millionen Menschen in Polen, England, Amerika und Frankreich. Das ist mehr als Betrug, das ist verrückt! (…) Der Begriff ‘jüdischer Nationalismus’ ist ein Widerspruch in sich. Es ist eine Neudefinition jüdischer Identität, indem man Judentum von einer Religion in eine Nationalität umdefiniert. Judentum ist keine Nationalität im modernen Wortsinn. Juden sind nur deshalb Juden, weil sie Gottes Gesetze akzeptieren, nicht weil sie ein gemeinsames Land oder eine gemeinsame Sprache haben. Die Idee des Zionismus ist ein Angriff auf unsere Religion und aus jüdischer Sicht eine Art Götzenanbetung.“

Moshe Zuckermann, geboren 1949 in Israel und in seiner Jugend selbst Zionist, sieht die radikale und kriegerische Ausprägung dieser Ideologie heute kritisch, versteht aber zugleich ihre historische Notwendigkeit zur Schaffung eines jüdischen Staates. Er mahnt zum Differenzieren und weist darauf hin, dass es neben israelkritischen Judenfeinden auch viele Antisemiten gebe, die prozionistisch sind, „weil sie am allerliebsten haben wollen, dass die Juden in ihren Ländern nach Israel verschwinden“.
Von solchen Einsichten und Zwischentönen, zuletzt formuliert von mehr als 30 israelischen Gelehrten in einem offenen Brief („Zu Europa sagen wir: Vermischt Kritik an Israel nicht mit Antisemitismus“), kommt in Politik und Medienmainstream kaum etwas an. Dort werden die Begriffe Zionismus, Judentum und Israel weiter sachlich falsch miteinander verwoben, was eine ernsthafte Diskussion – und eine Verständigung – unmöglich macht.

Christlicher Zionismus, Glaube und Geopolitik

Um den Nahostkonflikt zu verstehen, hilft es, die Geschichte zu kennen. Dass die britische Regierung 1917 mit der Balfour-Deklaration den Zionismus und damit das Ziel eines jüdischen Staates unterstützte und damit den Grundstein für die internationale Akzeptanz eines Judenstaates legte, hatte einerseits viel mit Geopolitik zu tun, zum anderen aber auch eine religiöse Komponente, die weniger bekannt ist. Die amerikanische Geschichtsprofessorin Maryanne Rhett hat ein Buch über die Geschichte der Balfour-Deklaration verfasst und erklärt darin unter anderem, welche Rolle christliche und insbesondere protestantische Zionisten in der Vorgeschichte der Staatsgründung Israels spielten:

„Der christliche Zionismus ist fast so alt wie der jüdische und ähnlich in seinem Ausmaß. Anstelle des jüdischen Glaubens, wonach Gott unmittelbar vor dem Jüngsten Gericht die Juden nach Palästina zurückführen werde, sind Teile der christlichen Welt der Ansicht, dass eine jüdische Rückkehr nach Palästina die Wiederkunft Christi beschleunige.“

Mit anderen Worten: Christliche Zionisten unterstützen die Juden bei ihrer Ansiedlung in Israel, weil sie sich dadurch eine baldigere erlösende Rückkehr von Jesus Christus erhoffen. Die Geschichtsprofessorin erklärt weiter, dass es kein Zufall sei, dass gerade das protestantische England die Juden unterstützt habe, und kein katholisches Land, da im Katholizismus der jüdische Aspekt der Rolle des Messias nicht akzeptiert werde. Zugleich habe die Motivation Englands weit über die Religion hinausgereicht, so Rhett:

„Das Anliegen der christlichen Zionisten ergänzte sich im 19. Jahrhundert mit imperialen Bestrebungen und dem Wunsch, einen britischen Vorposten in Palästina zu schaffen. Somit hoffte man, einerseits zum Beschützer der Juden der Welt zu werden und zugleich entscheidende imperiale Interessen in der Region nahe Suez zu sichern.“

Um diese Interessen und überhaupt die Vorherrschaft im Nahen Osten ging es auch im Ersten Weltkrieg. Die Briten kämpften in Palästina gegen das in Auflösung befindliche Osmanische Reich, das damals vom kaiserlichen Deutschland massiv unterstützt wurde. Im Herbst 1917 befanden sich in Palästina deutsche Soldaten unter Befehl von Erich von Falkenhayn, dem vormaligen Kriegsminister Preußens und Chef des deutschen Generalstabes. Im „Heiligen Land“ kämpfte von Falkenhayn als Anführer zweier osmanischer Armeen und des deutschen Levante-Korps gegen die Briten. Die Deutschen zogen dabei den Kürzeren. Im Dezember 1917 eroberten britische Truppen Jerusalem. Nur wenige Wochen zuvor hatte die britische Regierung die bereits erwähnte Balfour-Deklaration unterzeichnet und sich damit als Schutzmacht der Juden in Stellung gebracht.
Seither geht es beim Kampf um diese Region und bei der Unterstützung Israels durch die USA und Deutschland vor allem um strategische ökonomische Interessen, teilweise verknüpft mit religiösen Vorstellungen, sowie zusätzlich verkompliziert durch die deutsche Schuld gegenüber den Juden nach dem Holocaust.

Es kann nicht sein, was nicht sein darf

Wenn Kritiker empört betonen, dass Israel sich zunehmend in einen Apartheidsstaat verwandle, mit zweierlei Bürgerrechten für Juden und Araber, dann wird das, gerade im Kontext der deutschen Geschichte, häufig als unanständig und „implizit antisemitisch“ wahrgenommen. Dabei hatte 2017 sogar ein UN-Bericht festgestellt, dass Apartheid in Israel inzwischen eine nicht zu leugnende Realität sei. Israels Politik schaffe „ein System rassischer Diskriminierung, die den regionalen Frieden und die Sicherheit der Region bedrohen“.

Symptomatisch waren die Folgen dieser Veröffentlichung: Unter Druck Israels und der USA forderte der UN-Generalsekretär die verantwortliche UN-Direktorin auf, den Bericht umgehend zurückzuziehen, was diese verweigerte und stattdessen von ihrem Amt zurücktrat. Ein weiterer Beleg dafür, dass das Kritiktabu leider keine Phantasie ist, sondern höchst real durchgesetzt wird.

Insbesondere die Situation in Deutschland ist dabei kompliziert. Denn der hochpotenzierte und tödliche Judenhass aus der Nazizeit wurde, über Lippenbekenntnisse hinaus, nach dem Krieg nicht ehrlich aufgearbeitet und aufgelöst. Stattdessen schlossen die westdeutsche und die israelische Regierung schon Anfang der 1950er Jahre einen Deal: Israel erhielt massive deutsche Unterstützung und akzeptierte im Gegenzug die Adenauer-Regierung sowie deren ebenso skandalöse wie reibungslose Übernahme tausender Altnazis in hohe Staatsämter.

Die deutsche Schuld wurde von Anfang an eben nicht offen durchleuchtet und mit praktischen Konsequenzen (Entlassung aller führenden Nazis) bereut, sondern mit Israels Billigung einfach und bequem unter den Teppich gekehrt. Man erhielt oberflächlich Absolution und erklärte im Gegenzug seine bedingungslose Solidarität.

Das Erbe dieses „faulen Deals“ wirkt bis heute nach, vergiftet die Debatte und hat in Deutschland zu einem regierungsoffiziellen Kampf gegen den Antisemitismus geführt, der gegenwärtige Realitäten wie eben die reale Rassendiskriminierung und die reaktionär-nationalistische Agenda der israelischen Regierung weitgehend ausblendet.

So wie Deutschland bis 1945 seine dunkle Seite bis zum Exzess auslebte, so maßlos unsouverän und unehrlich agiert es heute. Die Antisemitismus-Falle ist eine doppelte: Zum einen verhilft die manipulative Ausweitung des Begriffes dem echten Judenhass zu weiterem Auftrieb, schwächt also das ursprüngliche Anliegen. Zum anderen werden Kritiker israelischer Politik eingeschüchtert, was den für eine Verständigung nötigen offenen Dialog behindert und zunehmend unmöglich macht.

Um dieser Falle zu entkommen, wären Ehrlichkeit und Courage gefragt – keinesfalls aber Ängstlichkeit, Scheu vor Konflikten oder der Versuch, „problematische“ Diskussionen auszugrenzen. Solches Verhalten, wie es immer mehr um sich greift, ist einer aufgeklärten, offenen Gesellschaft unwürdig – und es hilft auch nicht, Vorurteile abzubauen.

Titelbild: Lightspring/shutterstock.com


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