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Titel: Der Folterung von Julian Assange die Maske herunterreißen

Datum: 8. Juli 2019 um 9:57 Uhr
Rubrik: Aktuelles, Audio-Podcast, Erosion der Demokratie, Gestaltete PDF, Kampagnen/Tarnworte/Neusprech
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Anlässlich des Internationalen Tages zur Unterstützung von Folteropfern am 26. Juni 2019 schrieb Nils Melzer, der UN-Sonderberichterstatter für Folter, den Artikel „Demasking the Torture of Julian Assange“. Uns erschien dieser Text von Herrn Melzer so gut und wichtig, dass wir ihn mit seiner freundlichen Genehmigung unabhängig von ihm übersetzt haben und ihn nun hier auf Deutsch veröffentlichen.
Julian Assange sitzt weiterhin im Londoner Belmarsh-Gefängnis in Haft und er hat dort am 3. Juli auch seinen 48. Geburtstag „gefeiert“.
Dass die etablierten Medien, die am Ende des Textes erwähnt werden und denen der Text zur Veröffentlichung angeboten wurde, nicht positiv reagierten, ist sehr erstaunlich, wenn man bedenkt, worum es in dieser Sache mittlerweile offensichtlich geht, aber andererseits passt es zum bisherigen Verlauf dieser unsäglichen Geschichte. Ein Lichtblick ist, dass sich Widerstand formiert, und z.B. jeden Mittwoch vor der US-Botschaft in Berlin eine Mahnwache stattfinden soll, und auch dieser Beitrag der ARD lässt hoffen, dass das Thema weitere Verbreitung findet. Einleitung und Übersetzung von Moritz Müller.

Anm. Moritz Müller 25.Juli 2019: Um Missverständnisse auszuräumen hat Herr Prof. Melzer den zweiten Absatz seines englischen Textes etwas revidiert. Dabei hat er auch die ganze Übersetzung etwas eleganter gemacht, und wir freuen uns, Diese hier präsentieren zu können. Nochmals vielen Dank an Herrn Melzer!

Dieser Artikel ist auch als gestaltete, ausdruckbare PDF-Datei verfügbar. Zum Herunterladen klicken Sie bitte auf das rote PDF-Symbol links neben dem Text. Weitere Artikel in dieser Form finden Sie hier. Wir bitten Sie um Mithilfe bei der Weiterverbreitung.


Die Demaskierung der Folterung von Julian Assange
Von Nils Melzer, aus dem Englischen von Moritz Müller.

Ich weiß, Sie denken vielleicht, ich sei verrückt geworden. Wie kann man ein Leben in einer Botschaft mit einer Katze und einem Rollbrett auch nur als Folter bezeichnen? Genau denselben Gedanken machte auch ich mir, als Assange zum ersten Mal um den Schutz meines Mandates ersuchte. Wie die Mehrheit der Öffentlichkeit war auch ich unbewusst durch die unerbittliche Schmutzkampagne vergiftet worden, die jahrelang gegen ihn geführt worden war. Und so bedurfte es eines zweiten Gesuchs, um meine widerstrebende Aufmerksamkeit zu erlangen. Sobald ich jedoch begann, hinter die Fassaden dieses Falles zu schauen, eröffnete sich mir eine Wirklichkeit, welche mich mit Ungläubigkeit und Abscheu erfüllte.

Sicherlich, so dachte ich zunächst, Assange muss ein Vergewaltiger sein! Doch dann stellte ich fest, dass er bis heute noch nie wegen einer Sexualstraftat angeklagt worden ist. Zugegeben, kurz nachdem die Vereinigten Staaten ihre Verbündeten dazu ermutigt hatten, Gründe für die Strafverfolgung von Assange zu finden, informierte die schwedische Staatsanwaltschaft die Boulevardpresse, er werde der Vergewaltigung zweier Frauen verdächtigt. Seltsamerweise hatten die betroffenen Frauen selbst jedoch nie behauptet, vergewaltigt worden zu sein, und sie beabsichtigten offenbar auch gar nicht, Strafanzeige zu erstatten. Man staune! Auch liess sich auf dem Kondom, welches angeblich beim Geschlechtsverkehr mit Assange getragen und zerrissen worden war, keinerlei DNA feststellen – weder von ihm, noch von ihr, noch von irgendjemand anderem. Man staune – wiederum! Eine der Frauen textete sogar, sie wolle Assange doch nur dazu bringen, einen HIV-Test zu machen, doch die Polizei sei “scharf darauf, ihn in die Finger zu bekommen”. Man staune – abermals! Seither haben sowohl Schweden als auch Großbritannien alles getan, um zu verhindern, dass sich Assange diesen Anschuldigungen hätte stellen können, ohne sich gleichzeitig einer Auslieferung an die USA auszusetzen, und damit einem Schauprozess und lebenslänglicher Gefangenschaft. Seine letzte Zuflucht war die ecuadorianische Botschaft in London gewesen.

Na gut, dachte ich, aber sicherlich muss Assange ein Hacker sein! Doch was ich feststellte, war, dass ihm alle von ihm enthüllten Informationen von anderen Personen freiwillig übergeben worden waren, und dass ihm niemand vorwirft, hierfür einen einzigen Computer gehackt zu haben. Tatsächlich bezieht sich der einzige Hacking-verwandte Anklagepunkt gegen ihn auf einen angeblichen, erfolglosen Versuch der Beihilfe zur Entzifferung eines Passwortes, was, wenn es erfolgreich gewesen wäre, seiner Quelle hätte helfen können, ihre Spuren zu verwischen. Kurz: eine doch eher isolierte, spekulative und harmlose Kausalkette; ein bisschen wie wenn man einen Autofahrer bestrafen wollte, der versucht hat, die Höchstgeschwindigkeit zu überschreiten, obwohl ihm dies mangels Motorenkraft gar nicht gelungen ist.

Nun denn, dachte ich, zumindest sind wir uns sicher, dass Assange ein russischer Spion ist, sich in die US-Wahlen eingemischt hat und fahrlässig den Tod anderer Menschen verursacht hat! Doch alles, was ich feststellen konnte, war, dass er durchwegs wahre Informationen von öffentlichem Interesse publiziert hat, und zwar ohne jeden Vertrauens-, Pflicht- oder Treuebruch. Zugegeben, er hat Kriegsverbrechen, Korruption und Missbrauch aufgdeckt, aber verwechseln wir hier doch bitte nicht nationale Sicherheit mit staatlicher Straflosigkeit. Zugegeben, die von ihm offenbarten Tatsachen befähigten die US-Wähler, sachkundigere Entscheidungen zu treffen, aber ist das nicht gerade das Wesen der Demokratie? Zugegeben, es gibt ethische Fragen zu klären im Zusammenhang mit der Legitimität von unzensierten Enthüllungen. Aber wenn dadurch tatsächlich Schaden entstanden sein soll, warum sahen sich weder Assange noch Wikileaks jemals mit entsprechenden Strafanzeigen oder zivilen Entschädigungsklagen konfrontiert?

Aber sicherlich, so flehte ich innerlich, Assange muss doch wenigstens ein egoistischer Narzisst sein, der mit seiem Rollbrett durch die ecuadorianische Botschaft skatet und Fäkalien an die Wände schmiert? Nun, alles, was ich von den Botschaftsmitarbeitern gehört habe, ist, dass die unvermeidlichen Unannehmlichkeiten seiner Unterbringung in ihren Büros jeweils mit gegenseitigem Respekt und Rücksicht gemeistert wurden. Das änderte sich erst nach der Wahl von Präsident Moreno, als sie plötzlich angewiesen wurden, allerlei Unvorteilhaftes über Assange zu berichten, und als dies nicht geschah, wurden sie bald durch anderes Personal ersetzt. Der ecuadorianische Präsident hat es offenbar sogar für notwendig befunden, die Welt mit seinem Klatsch zu segnen und Assange höchstpersönlich und ohne jedes Gerichtsverfahren sowohl sein Asylrecht als auch seine Staatsbürgerschaft zu entziehen.

Zu guter Letzt wurde mir endlich klar, dass ich durch Propaganda geblendet worden war, und dass Assange systematisch verleumdet worden war, um die Öffentlichkeit von den Verbrechen abzulenken, die er aufgedeckt hatte. Nachdem er durch Isolation, Spott und Schande entmenschlicht worden war, so wie die Hexen, die wir auf Scheiterhaufen zu verbrennen pflegten, war es ein Leichtes, ihm seine grundlegendsten Rechte zu entziehen, ohne weltweiten Protest zu provozieren. Und so wird ein rechtlicher Präzedenzfall geschaffen, durch die Hintertür unserer eigenen Bequemlichkeit, der in Zukunft ebenso gut auf Enthüllungen von The Guardian, der New York Times und ABC News angewendet werden kann und wird.

Nun gut, mag man sagen, aber was hat Verleumdung schon mit Folter zu tun? Nun, dies ist eine heikle Frage. Denn was in einer öffentlichen Debatte noch als bloße „Schlammschlacht“ durchgeht , wird schnell zum „Mobbing“, wenn es gegen einen Wehrlosen eingesetzt wird, und sogar zu regelrechter „Verfolgung“, sobald sich der Staat daran beteiligt. Man füge jetzt nur noch Zweckgerichtetheit und schweres Leiden hinzu, und schon hat man psychologische Folter.

Zugegeben, in einer Botschaft zu leben, mit Katze und Rollbrett, mag attraktiv erscheinen, solange man das ganze Lügengebäude glaubt. Aber wenn sich keiner mehr an den Grund erinnert, für den Hass, dem man ausgesetzt ist, wenn keiner mehr die Wahrheit hören will, wenn weder die Gerichte noch die Medien die Mächtigen zur Rechenschaft ziehen, dann ist so ein Refugium wirklich nur noch ein Gummiboot in einem Haifischbecken, und weder die Katze noch das Rollbrett können einem das Leben retten.

Dennoch, so mag man fragen, warum so viele Worte auf Assange verwenden, wenn doch unzählige andere weltweit gefoltert werden? Weil es hier nicht nur darum geht, Assange zu schützen, sondern einen Präzedenzfall zu verhindern, der durchaus das Schicksal westlicher Demokratie besiegeln könnte. Denn, wenn es einmal zu einem Verbrechen geworden ist, die Wahrheit zu sagen, während die Mächtigen Straflosigkeit genießen, dann wird es zu spät sein, den Kurs zu korrigieren. Dann werden wir unsere Stimme der Zensur unterworfen haben und unser Schicksal der ungezügelten Tyrannei.

Dieser Artikel wurde dem The Guardian, der The Times, der Financial Times, dem Sydney Morning Herald, dem Australian, der Canberra Times, dem Telegraph, der New York Times, der Washington Post, der Thomson Reuters Foundation und Newsweek zur Veröffentlichung angeboten. Ohne jeden Erfolg.

Titelbild: medium.com


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