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Titel: Chile – Sebastián Piñera, die Ein-Prozent-Elite und die Militärs

Datum: 30. November 2019 um 11:45 Uhr
Rubrik: Audio-Podcast, Erosion der Demokratie, Innere Sicherheit, Länderberichte, Soziale Gerechtigkeit
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Teil 1: zwischen Absturz in den Abgrund und autoritärem Abenteuer. Seit 40 Tagen wird Chile von barbarischen Polizeieinsätzen gegen überwiegend friedliche Massenproteste geschüttelt. Indes liefert sich eine Minderheit vermummter Jugendlicher hinter Barrikaden – angebliche Anarchisten, die sich „Primera Línea“ („Vordere Reihe“) nennen, doch laut Mutmaßungen von Regierung und Teilen der Medien mit (sic!) „Kriminellen und Drogenhändlern gemeinsame Sache zur Zerstörung Chiles“ machen – kriegsähnliche Straßenschlachten mit Chiles Carabineros. Das Bombardement mit Tränengas, mit ätzenden Chemikalien versetztem Wasser und falschen, tödlichen Gummigeschossen mit 80 Prozent Bleischrot sowie die aus der Gegenrichtung fliegenden Pflastersteine und Molotov-Cocktails haben mehrere Innenstädte des Landes in rasende, krachende und rauchende Schlachtfelder verwandelt. Von Frederico Füllgraf.

Dieser Beitrag ist auch als Audio-Podcast verfügbar.

Die obendrein praktizierten Brandstiftungen und Plünderungen befeuern allerdings die Kriminalisierung und Austrocknung der Kundgebungen mehrerer Millionen Menschen, die quer durch oder fern sämtlicher Parteien seit dem 18. Oktober „Schluss!“ sagen zum seit 40 Jahren herrschenden, ultraliberalen Wirtschaftssystem mit der von seiner skrupellosen 1-Prozent-Elite errichteten katastrophalen sozialen Ungleichheit.

Aus der Sicht der Arbeiter und Angestellten bedeutet die Brandstiftung und Plünderung eines verhassten, hochversicherten Supermarktes einen Schuss in den Ofen. Juan Moreno, Vorsitzender der Angestellten-Gewerkschaft der Walmart-Handelskette in Chile, richtete daher einen Appell an die Gelegenheits-Kriminellen: „Wenn sie einen Supermarkt ausplündern, nehmen sie nicht nur die Waren, sondern auch unseren Arbeitsplatz mit“. Die Warnung Morenos wird jedoch von tausenden, nicht versicherten Kleinhändlern geteilt, deren Läden, wenn nicht ebenso von erbosten Feuerlegern oder opportunistischen Plünderern angegriffen, zumindest in Mitleidenschaft gezogen werden und bankrott gehen.

Dass die US-Handelskette Walmart Zielscheibe von Hassentladungen ist, wundert nicht, gehört sie doch in den Augen der meisten Chilenen zur Gruppe der abusadores, also der Kartellbetreiber und finanziellen Notzüchtiger, wie die privaten Krankenkassen, Papierhersteller und großen Apotheken. Ja, über Walmart – insbesondere über seinen nach Chile emigrierten Miterben Benjamin Walton, die Liaison dessen chilenischer Ehefrau mit der rechtsradikalen Szene, die milliardenschweren Steuerschulden und den Teilbankrott des Konzerns in Lateinamerika – ist allerdings eine Menge zu berichten, doch das wird Inhalt eines weiteren, zukünftigen Artikels auf den NachDenkSeiten sein.

Divide et impera: Piñeras Umformung der Forderungen und Spaltung der Opposition

Jedenfalls gelingt es Präsident Sebastian Piñera, krakeelende Rechte und Salonlinke gegen den gemeinsamen Feind zu vereinen: das „Lumpenproletariat“. Seit Ausbruch der Proteste macht der Marxsche Begriff mit abwertendem Unterton wieder die Runde. Bei den braven Linken als rhetorisches Schild zur Abgrenzung des gesitteten, edlen Proletariats, bei den rassistischen Bourgeois als Aufforderung, die rotos („Kaputten“, „Zerlumpten“) mögen sich, bitteschön!, wieder in ihre elenden Vorstädte zurückziehen; und sei es zum Preis von Polizeiknüppeln, Wasserwerfern und Tränengas.

Die Brandstiftungen und Plünderungen, ein mit genauen Zahlen noch nicht bemessener Rückgang der Wirtschaftsaktivität mit dem Einbruch der Landeswährung Peso gegenüber Dollar und Euro nimmt Piñera nun als Frontsignal zum Anlass, um das Militär – das nach Ausrufung des Notstands bereits Ende Oktober 10 Tage lang in Chiles Städten patrouillierte und sich schwerer Menschenrechtsverletzungen schuldig machte – ein zweites Mal auf den Plan zu rufen. Diesmal allerdings zum angeblichen Schutz der „kritischen Infrastruktur” des Landes, verbunden mit dem – Zitat – „Verzicht auf strafrechtliche Verantwortung der Streitkräfte“.

Mit „kritischer Infrastruktur” meint die Regierung zum Beispiel Einrichtungen der Wasser- und Stromversorgung, doch die ungenaue Umschreibung kann plötzlich auf Fernstraßen, Rundfunksender und Einkaufszentren ausgedehnt werden. Die Ankündigung tönte wie die Beschwörung böser Geister, eines zwar nicht ausdrücklich genannten, real nicht existierenden, jedoch unterstellten „Terrorismus“, und stellt der staatlich verordneten Liquidierung potenzieller „Staatsfeinde“ einen Freibrief aus. Das Militarisierungs-Projekt muss jedoch vom Parlament bewilligt werden, wo sich allerdings im Gedanken an die Pinochet-Diktatur verständliche Widerstände auftun.

Das Tauziehen um die Militärs dauert seit dem 7. Februar an. Wie schon beschrieben verordnete Piñera einen Tag nach Ausbruch der sozialen Proteste am 19. Oktober den Ausnahmezustand mit dem Einsatz von Heerestruppen zur Sicherstellung der öffentlichen Ordnung; ein einmaliges Ereignis seit dem Ende der Diktatur Pinochets im Jahr 1990. Der Ausnahmezustand wurde nach massiven verfassungsrechtlichen Bedenken und anhaltenden Protesten mit der Rückkehr der Soldaten in die Kasernen am 27. Oktober wieder aufgehoben. Doch kaum zehn Tage später berief Piñera ebenso überstürzt eine Sitzung des Nationalen Sicherheitsrates (Cosena) ein – dem u.a. die zurzeit oppositionellen Vorsitzenden der beiden Parlamentskammern, des Obersten Gerichtshofs, aber auch die Kommandanten der Streitkräfte, der Polizei und der Geheimdienste angehören – und er versuchte den Ratsmitgliedern die Zustimmung für einen dauerhaften Einsatz des Militärs abzugewinnen. Nach anonymen Hinweisen aus dem harten Kern der Staatsleitung meldeten die Militärs jedoch als erste ihre Ablehnung des Plans – und die Sitzung platzte ergebnislos.

Doch der geheimdienstlich rundherum beratene Piñera kennt die Achillesferse der Mitte-Links-Opposition, die nicht als Schutzpatronin von Gewalttätern missverstanden werden will. Und siehe da: Nach neuen, gewaltsamen Zusammenstößen zwischen Demonstranten und der Polizei in Städten Nordchiles am 26. November beeilte sich selbst der oppositionelle Vorsitzende des Senats, Jaime Quintana, den Wiedereinsatz des Militärs zu befürworten. Wenn „diese Maßnahme mit bestimmten Protokollen ausgestattet wird, ist sie, ja, gerechtfertigt“, erklärte der Mitte-Links-Politiker.

Als unverdautes Ereignis mit Spätzündung reagierte Piñera am 12. November mit dem Aufruf zu einem „Friedensabkommen“, nachdem 1,2 Millionen Chilenen sich am 29. Oktober auf dem Plaza Italia in Santiago zur größten Protestkundgebung aller Zeiten mit der Forderung „Renuncia Piñera! – Piñera, trete zurück!“ versammelt hatten. „Die ernste Lage in unserem Land erfordert dringend, all die kleinen Dinge und Nebensächlichkeiten beiseitezulegen“, begründete der Präsident seinen neuen Umarmungsversuch der bis dahin noch standfesten, allerdings in den Protesten keineswegs verankerten parlamentarischen Opposition.

Die verfassungsgebende Versammlung

Am 14. November war es soweit: Piñera griff die oppositionelle Forderung nach einer neuen Verfassung auf und nötigte die Mitte-Links-Opposition zu einem „historischen Abkommen“. Der Grundriss des Abkommens bildet eine Agenda. So ist für April 2020 zunächst die Abhaltung eines Referendums geplant, bei dem die Chilenen entscheiden müssen, ob sie – Ja oder Nein – überhaupt ein neues Grundgesetz wünschen, das die immer noch in Kraft befindliche Pinochet-Verfassung von 1980, mit ihren zahlreichen Einschränkungen des genuinen Rechtsstaats, in vollem Wortlaut und definitiv auf die Müllkippe der Geschichte befördern würde.

Mit diesem Referendum sollen die Bürger zwei fundamentale Fragen beantworten, die ihre eigene basisdemokratische Beteiligung an der Ausarbeitung der Verfassung sicherstellen könnten. Mit anderen Worten, ob sie einen gemischten Verfassungskonvent – der sich zu je 50 Prozent aus Parlamentariern und Bürgern zusammensetzt – oder eine reine Bürgerversammlung, ohne Parlamentarier, bevorzugen. Ist die neue Verfassung endgültig ausgearbeitet, muss sie mit einem zweiten Referendum nach dem allgemeinen Wahlrecht ratifiziert werden. Piñera köderte die Opposition mit dem Angebot einer „leeren Seite“, also die Pinochet-Verfassung zu vergessen und bei Null zu starten. Die Opposition biss an.

Folgt die Ausarbeitung der neuen Verfassung wirklich einer basisdemokratischen Vorgehensweise, mit breiter Beteiligung von rund 360 Kommunen, ist nicht vor Ende 2021 – nicht zufällig Zeitpunkt des Mandatsendes Piñeras – mit der neuen Charta zu rechnen. Doch was wird aus den zahlreichen Forderungen der Proteste, wie der Erhöhung des Mindestlohns und der Pensionen, der progressiven Besteuerung der Milliardäre und Millionäre, der Zurücknahme der hohen Tarife für Wasser, Strom und Gas, gegen die Preistreiberei der Apotheken, für die Abschaffung der Grund- und Hochschul-Monatszahlungen, ergo gegen die weitere Verschuldung der Chilenen, von denen 17 Prozent unter Depressionen leiden? Noch dringender: Was wird aus Sebastian Piñera, dessen Popularität auf 12, gar 9 Prozent abgesackt ist und dessen umgehender Rücktritt gefordert wird?

Nach systematischen Menschenrechtsverletzungen: die Justiz gegen Piñera

Im Schatten der offiziellen Agenda passieren merkwürdige Dinge. Richter-Telefone werden angezapft, Gespräche mitgehört und eine Fotografin – die angeblich Polizeiübergriffe dokumentierte – in ihrer Wohnung erschlagen und erstochen.

Ende November reichte eine Gruppe oppositioneller Politiker aus dem linken Lager in der Abgeordnetenkammer eine Verfassungsklage gegen den Staatschef ein. Die Initiative scheiterte jedoch an der niedrigen Motivation selbst kommunistischer Parlamentarier, den Rücktritt energisch einzufordern. Die Begründung bilden massive Vorwürfe gegen Piñera als obersten Verantwortlichen für die systematische Verletzung der Menschenrechte während der anhaltenden Sozialproteste.

Scheiterte die Verfassungsklage auch, so heftete sich doch die Justiz dem Präsidenten an die Fersen. Ein Santiagoer Gericht erhob bereits Mitte November wegen den gleichen Verstößen gegen die Menschenrechte Klage gegen Piñera. Zu den Anklagepunkten gehören illegale Festnahmen von Demonstranten, Folter, sexueller Missbrauch durch Polizeikräfte und Tötung. Mindestens drei renommierte internationale Organisationen und selbst chilenische Behörden bestätigen die katastrophalen Tatbestände.

Nach Angaben des Gesundheitsministeriums behandelten chilenische Krankenhäuser zwischen dem 18. Oktober und dem 24. November mehr als 11.564 (!!) Verletzte der Proteste. Da Carabineros 1.600 Verletzte, darunter 105 Schwerverwundete, jedoch keine toten Polizisten meldeten, gehen mindestens 10.000 Gewaltopfer auf das Konto von Sebastian Piñeras Polizei.

Neben dem Gesichts-Beschuss mit der Zerstörung der Augen von insgesamt 223 Menschen seit Beginn der sozialen Proteste konfrontierte Sergio Micco – Geschäftsführer des staatlich kontrollierten Instituts für Menschenrechte (INDH) – die Regierung mit einer haarsträubenden und skandalösen Einzelbilanz: Allein zwischen dem 18. Oktober und dem 23. November „gab es in einem einzigen Monat 74 Beschwerden wegen sexueller Gewaltausübung, das Vierfache der Beschwerden von insgesamt neun Jahren und fast das Doppelte im Vergleich mit anderen Foltermethoden”.

„Angaben über sehr viele Opfer, eine hohe Anzahl von Inhaftierten und ein alarmierendes Register von Verletzten, insbesondere von Menschen mit Augenverletzungen, liegen uns vor. All dies erregte die Aufmerksamkeit der internationalen Gemeinschaft“, erklärte Paulo Abrao, Leiter der bereits Anfang November angereisten Untersuchungs-Delegation der Interamerikanischen Menschenrechts-Kommission (CIDH) – eine Einrichtung der konservativen Organisation der Amerikanischen Staaten (OEA/OAS) – in einem Bericht vom 20. November.

„Körperverletzungen von Demonstranten lassen die absichtliche Politik der Polizei-Leitung erkennen”, warnte nur einen Tag später der Ermittlungsbericht einer ebenfalls seit Wochen in Chile tätigen Beobachter-Gruppe von Amnesty International. Als „schwere, vorsätzliche und generelle Verstöße gegen das Völkerrecht” beschrieb die Organisation erwiesene Menschenrechtsverletzungen durch unnötigen und übermäßigen Einsatz von Gewalt. Außer der direkten Anhörung Dutzender von Opfern legte Amnesty Beweise für die brutalen Übergriffe mit Auswertung von mehr als 130 digital verifizierten und von ihren Waffen- und Munitionsexperten validierten Fotos und Videoaufnehmen vor.

Doch die Ermittlungen seien behindert worden. „Während des Krisenmonats in Chile haben sich unzählige Initiativen und Menschenrechtsorganisationen um Verletzte gekümmert, die Achtung der Inhaftierten gewährleistet und Fälle vor Gericht verfolgt. Mehrfach haben die Behörden jedoch die Arbeit von Anwälten, Menschenrechtsverteidigern und medizinischem Personal behindert und ihnen den Zugang zu Polizeirevieren oder Krankenhauszentren verwehrt, wie dies im öffentlichen Notfallkrankenhaus Posta Central … geschehen ist.“ Obwohl Dutzende von Staatsbeamten verletzt worden waren, wurde selbst Beamten des INDH am 22. Oktober der Zutritt verwehrt.

„Die Absicht der chilenischen Sicherheitskräfte ist klar: bis hin zum Einsatz von Folter und sexueller Gewalt Demonstranten zu verletzen, um die Proteste zu entmutigen”, erklärte Erika Guevara Rosas, Amerika-Beauftragte von Amnesty International, und forderte eine tiefgreifende und seriöse Neuformulierung des Carabineros-de-Chile-Polizeikorps.

Die Regierung Piñera reagierte mit einer „kategorischen” Ablehnung des Berichts, dem sich die Streitkräfte mit einer Erklärung anschlossen, die Amnesty-Vorwürfe enthielten „keine Beweise”.

Doch der Amnesty-Bericht wurde durch ein vergleichbar mindestens ebenso vernichtendes Urteil von Human Rights Watch (HRW) vom 26. November bestätigt. Wahrscheinlich in Erinnerung an die äußerst kritischen HRW-Berichte über Menschenrechtsverletzungen in Venezuela und als Geste, die Sebastian Piñera trotz zweifacher Anfrage Amnesty International nicht einmal als diplomatische Pflicht zugestand und verweigerte, hatte das Staatsoberhaupt von den mehrfachen Empfängen des HRW-Direktors und chilenischem Landsmanns José Miguel Vivanco offenbar einen „Freispruch“ seiner Polizei erwartet. Doch die Rechnung ging nicht auf.

Mit einer halbstündigen Pressekonferenz, erhärtet durch ein Video mit der Warnung vor „gewaltvollen und verstörenden Bildern“, rechnete Vivanco mit den barbarischen Übergriffen von Piñeras Polizei ab, die seine Mitarbeiter in mehrwöchigen Besuchen und Zeugen-Anhörungen von Nord- bis Südchile ermittelt haben. In keinem Fall habe es sich um „Einzelfälle” oder „Zufälle” gehandelt. Es gebe überzeugende Beweise für exzessive Gewaltanwendung und Misshandlungen gegen Demonstranten und Unbeteiligte. Vivancos Alarm nach den Protesten ist ein dringender Ruf nach Bestrafung der Verantwortlichen und nach einer Polizeireform!

Ob der Präsident und seine Polizei die mehr als 400 Kriminalprozesse allein des staatlichen Instituts für Menschenrechte politisch überleben werden, wird stark bezweifelt. Währenddessen markiert Sebastian Piñera weiter den Operador, wie im portugiesisch-spanischen Jargon der Auftritt jener schillernden Figuren bezeichnet wird, die die Politik als Fortsetzung oder als verlängerten Arm des Marktes zur Perpetuierung des neoliberalen Systems verstehen und dirigieren.

Davon verstehen der Multimilliardär und die chilenische Ein-Prozent-Elite eine Menge. Mit welch fragwürdigen, erwiesenermaßen illegalen Mitteln Piñera und ein Dutzend Familien es zu atemberaubendem Reichtum und Rängen in der planetarischen Forbes-Weltkaste brachten, erzählt der anschließende zweite Teil des chilenischen Aufstands mit dem Titel Chile – Sebastián Piñera, die Ein-Prozent-Elite und die Militärs – Teil 2: Die „Plünderungen des Establishments“.

Titelbild: erlucho/shutterstock.com


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