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Titel: Die Grünen und S21 – von Hoffnungsträgern zu Tätern

Datum: 27. Januar 2020 um 8:41 Uhr
Rubrik: Audio-Podcast, Gedenktage/Jahrestage, Grüne, Stuttgart 21, Verkehrspolitik
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Am 2. Februar jährt sich der Baubeginn von „Stuttgart 21“ zum zehnten Mal. Gehörten die Grünen vor dem Baubeginn noch – wahlkampftaktisch – zu den Gegnern des Projekts, sind sie seit der Regierungsübernahme die Stützen des Projekts – Kostenexplosion und technischen Problemen zum Trotz. So kann S21 als Musterbeispiel für eine grüne „Realpolitik“ gelten, die zu den Wahlkampfslogans der Grünen im krassen Widerspruch steht. Arno Luik, langjähriger Stern-Autor, Buchautor und einer der profiliertesten Bahn-Kenner hierzulande, bringt das Desaster auf den Punkt.

Dieser Beitrag ist auch als Audio-Podcast verfügbar.

Ein Hinweis für alle Münchener: Arno Luik wird am 6. Februar 2020 sein Buch „Schaden in der Oberleitung – Das geplante Desaster der Deutschen Bahn“ bei Buch & Café Lentner, Balanstraße 14 in München, vorstellen. Beginn der Veranstaltung ist um 20.00 Uhr.

Am 2. Februar 2020 jährt sich zum zehnten Mal der symbolische Beginn eines der größten und unsinnigsten Bauprojekte in der Industriegeschichte Deutschlands: Stuttgart 21. Damals, vor zehn Jahren, drückten im Stuttgarter Hauptbahnhof der Ministerpräsident Günther Oettinger (CDU) und Bundesverkehrsminister Peter Ramsauer (CSU) einen roten Knopf und ein Bagger hob vor Hunderten geladenen Gästen einen Prellbock aus einem Gleis. Die Politiker versuchten, stolz zu lachen, es gelang ihnen nicht, merkwürdig verdruckst wirkten sie in jenem historischen Moment – denn gellende Pfiffe, lärmende Rasseln vermasselten den Festakt.

Zehn Jahre später ist statt Oettinger in Baden-Württemberg ein Grüner an der Macht: Winfried Kretschmann. In Stuttgart selbst regiert ein grüner Oberbürgermeister, Fritz Kuhn. Und der Verkehrsminister im Land ist ebenfalls ein Grüner, Winfried Hermann. Dieses grüne Trio kam an die Macht vor allem wegen des Widerstands gegen S21.
Um an die Macht zu kommen, sagten sie vor ihrer Wahl viel zu S21 und versprachen auch sehr viel: Kretschmann nannte die Finanzierung des Bahnhofs „einen Verfassungsbruch“. Wenn er mal Ministerpräsident sei, so versprach er im Wahlkampf 2011, werde dieser Verfassungsbruch mit ihm nicht weitergehen. Er ging aber weiter, dieser Verfassungsbruch, er geht noch immer weiter. Kretschmann, der Ministerpräsident, ist also in seinen eigenen Augen: ein Verfassungsbrecher. Erstaunlich, dass er damit leben kann. Aber erstaunlich ist es dann doch nicht. Kretschmann ist ein ganz Besonderer. Er ist ja – was ich, ich geb’s zu, überhaupt nicht verstehe – in Baden-Württemberg Kult.

In der Tat, der Kerl ist einzigartig – und zwar weltweit: In seiner Jugend war er in seiner oberschwäbischen Heimat stolzer Träger des Froschkuddelordens. Er war Schützenkönig und frommer Katholik, Oberministrant, er war aber auch ein harter Maoist. Er war im Kommunistischen Bund (KBW), Mitglied der katholischen Kirche – das alles gleichzeitig, das muss man mal hinkriegen! Er ist geschult in maoistisch-leninistischer Taktik, erzogen im katholischen Internat zu jesuitischer Schläue – vielleicht schafft er es deswegen so gut, mit dem Verrat, den er in Sachen S21 begangen hat, zu leben.

Ja, Verrat. Der Staatsrechtler Hans Meyer, ein in Juristenkreisen überaus angesehener Staatsrechtler, spricht von „schwäbischen Schweinereien“ und einem Verhalten des Landes Baden-Württemberg in Sachen S 21 „im Stile der Mafia-Filme“. Die Finanzierung von S21, so der Jurist, „verstößt gegen ein verfassungsrechtliches Verbot“. Und: „Die Rechtsordnung schreibt in einem solchen Fall die Nichtigkeit des Vertrags vor.“

Winfried Kretschmann hat einen Eid abgelegt. Er hat geschworen, „Verfassung und Recht zu wahren und zu verteidigen“. Und vor allem „Schaden“ abzuwenden von seinen Bürgern. Wäre es daher nicht schon längst seine Pflicht gewesen, die Rechtmäßigkeit der fragwürdigen Verträge überprüfen zu lassen? Das hat der Ministerpräsident nicht getan. Er hat einfach geschwiegen. Überhaupt: Seltsam wenig Worte kommen aus seinem Mund, egal was die Bahn während seiner Amtszeit bei S21 anstellt.

Da explodieren die Kosten: Kretschmann schweigt.

Da wird bekannt, dass, anders als versprochen, S21 ein struktureller Rückbau der Bahnhofsleistung ist: Kretschmann schweigt.

Da wird bekannt, dass der Brandschutz voller Mängel ist: Kretschmann schweigt.
Da wird bekannt, dass die extreme Bahnsteigneigung gegen alle Normen verstößt, also ein immenses Sicherheitsrisiko ist: Kretschmann schweigt.

Da wird bekannt, dass sich die Inbetriebnahme von 2019 erst auf 2020, dann auf 2024, dann auf 2025, wohl auf 2026 verschiebt: Kretschmann schweigt.

Da wird bekannt, dass die Volksabstimmung, bei der die Baden-Württemberger sich für S21 aussprachen, mit völlig falschen Voraussetzungen, falschen Versprechungen und falschen Zahlen ablief, dass sie eine Farce war. Da, endlich, sagt Kretschmann etwas: Er fühle sich trotz allem an diese Volksabstimmung gebunden. Und er sagt auch dies: Er lehne eine Diskussion über einen Baustopp ab: „Wir eröffnen keine Ausstiegsdebatte.“

Im Klartext heißt das: Jungs, bohrt weiter! Ministerpräsident Kretschmann – der beste Mann des Tunnelbauers Herrenknecht.

Dass der grüne Ministerpräsident den sogenannten Volksentscheid über S21 für alle Zeiten als bindend erklärt – eine Frechheit. Auch wenn diese Abstimmung vom 27. November 2011 im kollektiven Gedächtnis der Bundesbürger als eine Abstimmung über S21 abgespeichert ist, es war keine Abstimmung über das Projekt an sich, die Frage an die Baden-Württemberger war damals nicht: „Sind Sie für oder gegen S21?“ Es war eine Abstimmung über den „Finanzierungsrahmen“ des Projekts (also die versprochene und bindende Kostenobergrenze von 4,5 Milliarden Euro). Die Bürger trauten den Angaben, dass alles gut wird. Und sagten: Ja – wenn es nicht teurer wird als versprochen.

Auch wenn es Ministerpräsident Kretschmann nicht gerne hört, daran gar nicht erinnert werden möchte: Bei S21 gibt es ein „außerordentliches Kündigungsrecht“, wenn die Kostenobergrenze von 4,5 Milliarden Euro durchbrochen ist. Und diese Grenze, eine weitere Frechheit, wurde schon ein paar Wochen nach dieser Volksabstimmung um weit über eine Milliarde Euro durchbrochen. Warum nahm Kretschmann, wie es seine selbstverständliche Aufgabe als fürsorgender Ministerpräsident gewesen wäre und immer noch ist, seine Pflichten nicht wahr und hat Gebrauch gemacht von diesem „außerordentlichen Kündigungsrecht“? Er hätte so Milliarden Euro Steuergelder seiner Bürgern gespart. Er hätte so – auf übrigens überaus staatstreue Art und Weise! – ihnen dieses geldverschlingende, den Bahnverkehr störende, dieses lebensgefährliche Projekt erspart.

Aber dieser Ministerpräsident: Er schweigt.

Dann explodieren 2018 die Kosten des Projekts um weitere Milliarden, also nun endgültig ins Astronomische, auf 8,2 Milliarden Euro, und schließlich sagt Kretschmann etwas, ganz vorsichtig, ganz verhalten, sagt er dies: Die Kritiker hätten ja mit allem Recht gehabt …

Und was für Schlüsse zieht der Herr Ministerpräsident aus dieser Erkenntnis? Diese: Da sei ja dieser Volksentscheid, so eine Abstimmung sei „schwer revidierbar“, er jedenfalls fühle sich seit diesem Volksentscheid verpflichtet, S21 „positiv zu begleiten“. Im Klartext heißt das: Jungs, bitte, buddelt weiter, bitte, Augen zu und durch, koste es, was es wolle.

Ministerpräsident Winfried Kretschmann – politisch-moralisch: ein erledigter Fall. Nein, natürlich nicht – er funktioniert nur so gut wie all seine Vorgänger, etwa: Oettinger, Mappus.

Im Sommer 2019 eröffnet Porsche ein E-Autowerk. Kretschmann lässt sich vor dem neuen Porsche-Modell „Taycan“ fotografieren, ein Hochgeschwindigkeitspanzer ohne Kanonenrohr: 761 PS, in 2,8 Sekunden auf 100, die Batterie wiegt 650 Kilo. Kretschmann (zur Erinnerung: ein Grüner) jubelt: „Toll, den Aufbruch in ein neues Zeitalter der Mobilität zu erleben!“ Und: Porsche zeige, dass genau hier in Baden-Württemberg die Mobilitätsrevolution stattfinde. Geht’s noch?

Und der Verkehrsminister dieses Landes? Winfried Hermann, der Radfahrer. Das ist gut. Er fährt Fahrrad mit Sturzhelm. Das sieht putzig aus. Aber die Sicherheit …

Die Sicherheit? Wenn diesem Radfahrer die Sicherheit aller am Herzen läge, würde er sofort aus der Regierung austreten, die nichts gegen das größte Sicherheitsrisiko im Land tut: gegen S21. Die Stichworte sind: keine Betriebssicherheit im ultragefährlichen Schiefbahnhof, nicht zu leistender Brandschutz im Tiefbahnhof, nie funktionierender Brandschutz im aberwitzigen, im irre langen Tunnelwirrwarr unter Stuttgart.

Er muss wissen, und er weiß es, dass Zug- oder Lokbrände erschreckend häufig passieren – im Schnitt alle vier Tage in Deutschland. Selbst Züge, die als unbrennbar erklärt worden sind, brennen gelegentlich. Etwa ein ICE auf der Schnellstrecke Köln-Frankfurt, in Montabaur: Die vielbefahrene A3 musste wegen des Rauchs komplett gesperrt werden. Dieser eigentlich unbrennbare Zug hat einen Tag lang gebrannt – im Freien! Wenn so ein Zug in den zu engen Tunneln unter Stuttgart brennt, dann dauert die Löschung fünf Tage, sagt der Stuttgarter Brandschutzexperte Joachim Keim. Außerdem: ratzfatz entsteht dabei ein absolut tödlicher Cocktail, ein Gemisch aus Senfgas, Phosgen, Blausäure. Reisende, die plötzlich zu panisch Fliehenden werden, sind ohne Überlebenschancen.

Wenn man weiß, und der Verkehrsminister, Winne Hermann, muss genau wissen, was da konkret geplant ist, wie und was da menschenverachtend mit dem Geld seiner Wähler und Wählerinnen unter Stuttgart gebaut wird, wenn er um diese Gefahren weiß, und er weiß darum – und nichts dagegen unternimmt, was ist er dann, dieser Verkehrsminister, dieser Radfahrer mit Sturzhelm: ein Zyniker? Wenn er an diesem Projekt festhält – was ist er dann? Ein moralisch erledigter Fall.

Vor einem Jahr hat dieser Minister wahrhaft dramatische Worte zu S21 gefunden: „Eine grandiose Fehlentscheidung“ sei dieser Bau. Da hat er aber mal Recht, der Verkehrsminister, nur: Er gibt sich keine Mühe, diese grandiose Fehlentscheidung zu korrigieren. Im Gegenteil, jetzt, ganz plötzlich, auch gegen sein früheres besseres Wissen, findet er S21 ziemlich in Ordnung, und er glaubt nun, was sonst nur Oettinger, Mappus, Grube, also all die Pro-S21-Junkies, glauben: dass S21 in Ordnung ist, dass S21, worüber alle bahnunabhängigen Verkehrsexperten nur verbittert auflachen können, sogar gut für den angestrebten Taktverkehr ist.

Hermann: Auch er kam an die Macht wegen S21. Mehr noch: Er kam auch an die Macht, das ist fast vergessen, weil er sich nicht nur gegen S21, sondern auch gegen die genauso unsinnige Neubaustrecke nach Ulm eingesetzt hat, das ist lange her: „Eine aberwitzige Trasse“ sei das, sagte der Verkehrsminister, als er noch kein Verkehrsminister war, sondern ein klar denkender Mitbürger: „Ein Schwabenstreich, für den ich mich als Schwabe schäme.“

Eigentlich müsste dieser Mann irre an sich werden, wenn er über sein faktisches Handeln als Minister nachdenkt. Ich weiß nicht, was er sieht, was er fühlt, was er empfindet, wenn er abends in den Spiegel guckt. Vielleicht übt er ja schon daran, wie er die Einweihungsfeier von S21 genießt, ohne rot zu werden. Hermann – auch er: ein sehr guter Mann für die Bahn bei diesem Horrorprojekt.

Ein grüner Ministerpräsident, ein grüner Verkehrsminister, ein grüner Oberbürgermeister: Fritz Kuhn, dem auch nichts anderes einfällt, als alles brav durchzuwinken. Kretschmann, Hermann, Kuhn – früher mal Hoffnungsträger, jetzt: S21-Täter.

Machterhaltungspolitiker sind sie geworden, die heute etwas durchsetzen, von dem sie seit Jahrzehnten genau wissen, dass es grottenfalsch ist – aber sie tun es dennoch. Das ist unverzeihlich.

Titelbild: Christian Wiediger/shutterstock.com

Arno Luik: „Schaden in der Oberleitung. Das geplante Desaster der Deutschen Bahn“, 296 Seiten, 20 Euro, Westend Verlag, 2.9.2019


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