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Titel: In Serbien hat der Präsident den Ausnahmezustand verhängt. Notwendige Maßnahmen oder Schritte in die Diktatur?

Datum: 11. April 2020 um 10:00 Uhr
Rubrik: Audio-Podcast, Erosion der Demokratie, Gesundheitspolitik, Länderberichte, Wirtschaftspolitik und Konjunktur
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Ein Bericht von Bernd Duschner[*]. Am 15. März hat Serbiens Präsident und Vorsitzender der regierenden Serbischen Fortschrittspartei (SNS) Aleksandar Vučić den Ausnahmezustand über das Land verhängt. Wie bei uns wurden in Serbien Schulen, Kindergärten und Universitäten, Lokale, Kinos, Theater und Einzelhandelsgeschäfte mit Ausnahme von Lebensmittelgeschäften und Apotheken geschlossen. Die Einschränkungen für die Bevölkerung gehen aber noch deutlich weiter.

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Für sie gilt unter der Woche jeden Tag von 17 Uhr bis 5 Uhr morgens, am Wochenende von Samstag, 13 Uhr, bis Montag, 5 Uhr, ein strenges Ausgehverbot. Bürger, die älter als 65 Jahre sind, dürfen ihre Wohnung nur einmal in der Woche, am Sonntag, zwischen 4 und 7 Uhr morgens zum Lebensmitteleinkauf verlassen. Es dürfen sich an einem Platz nicht mehr als 2 Personen gleichzeitig aufhalten und nur am Sonntag zwischen 23 Uhr und 1 Uhr nachts ist es erlaubt, mit Haustieren die Wohnung zu verlassen, wobei eine Entfernung von 100 Meter nicht überschritten werden darf. Verstöße werden mit empfindlichen Geldstrafen bis hin zu 3 Jahren Gefängnis geahndet [1].

Die Verhängung des Ausnahmezustandes und die strikten Ausgehverbote durch Präsident Aleksandar Vučić kamen für viele serbische Bürger überraschend. Die ersten beiden Fälle von Infektionen durch das Corona-Virus waren in Serbien bereits am 1. März und am 3. März bekannt geworden. Trotzdem setzten Aleksandar Vučić und Parlamentspräsidentin Maja Gojkovic noch am 4. März für den 26. Mai Parlaments- und Kommunalwahlen an [2]. Unbekümmert begannen die Regierungsparteien ihren Wahlkampf mit der Sammlung von Tausenden von Unterschriften für ihre Kandidaten, Versammlungen und Kundgebungen. Noch am 9. März sprach der Präsident selbst vor rund 1500 Arbeitern in den Krusikwerken in Valjevo [3].

Für Sasa Radulovic, Vorsitzender der oppositionellen Partei „Dosta je bilo“ und Abgeordneter des serbischen Parlaments, kommt die Ausrufung des Ausnahmezustandes durch Präsident Vucic einem Staatsstreich gleich. Laut der serbischen Verfassung fällt die Ausrufung des Ausnahmezustandes in den Zuständigkeitsbereich des Parlaments. Anschließend hat es in Permanenz zu tagen. Seine Forderung nach sofortiger Einberufung des Parlaments, die von weiteren 7 Abgeordneten unterschrieben wurde, hat Parlamentspräsidentin Maja Gojkovic nach 2 Wochen mit der Begründung zurückgewiesen, dies sei aufgrund der gegebenen Ansteckungsgefahr durch das Corona-Virus nicht möglich [4].

Bis einschließlich dem 6. April waren in Serbien nach offiziellen Angaben 58 Tote zu beklagen, die durch oder mit dem Corona-Virus verstorben sind [5]. Die bei weitem größte Hilfe bei der Bekämpfung der Pandemie leisten dem Land China und Russland. Nachdem die EU den Export von Schutzausrüstung verboten und diesbezügliche Bitten des serbischen Präsidenten abgelehnt hatte, hatte Vučić den chinesischen Präsidenten in persönlichen Schreiben und auf einer außerordentlichen Pressekonferenz um Schutzmasken, Handschuhe, Beatmungsgeräte gebeten. „Ich vertraue auf den Freund und Bruder Xi Jingping und die chinesische Hilfe. Das einzige Land, das uns während der Coronavirus-Epidemie helfen kann, ist China“, hieß es in seinem Schreiben. Teile seiner Pressekonferenz wurden vom chinesischen Fernsehen ausgestrahlt und verbreiteten sich über soziale Medien. Unmittelbar darauf begann China mit der Entsendung von Ärzten und großer Mengen der gewünschten Hilfsgüter. „Danke unserem chinesischen Bruder und Präsidenten Xi Jingping, dem Bruder und Freund Serbiens“, schrieb Aleksandar Vučić auf „Instagram“[6]. Auch Russland hat bereits 11 Flugzeuge mit Ärzten, Fachpersonal, medizinischer Ausrüstung und Material geschickt. [7]. Beide Länder sind wirtschaftlich stark präsent in Serbien: Gazprom ist Hauptaktionär des serbischen Öl- und Gaskonzerns N.I.S., chinesische Unternehmen haben das größte Stahlwerk des Landes in Smederevo sowie die Kupferwerke in Bor übernommen, errichten ein großes Reifenwerk in Zrenjanin, bauen Autobahnen, Brücken, die Hochgeschwindigkeitsbahn zwischen Belgrad und Budapest und einen Kraftwerksblock in Kostolac. Der politische Einfluss beiden Staaten in Serbien dürfte jetzt noch deutlich wachsen [8].

Sind die drastischen Maßnahmen von Präsident Vucic zur Eindämmung der Pandemie berechtigt oder gehen sie über das medizinisch Erforderliche weit hinaus? Saša Radulović weist darauf hin, dass üblicherweise während der Grippesaison täglich 100 Menschen mehr als im Sommer sterben [9]. Soll mit den Maßnahmen die Bevölkerung bereits jetzt auf die kommende schwere Wirtschaftskrise eingestimmt, auf Unterordnung getrimmt und jegliche Gedanken an Protest und Widerstand im Keim erstickt werden? Steht Serbien gar vor der Einführung einer Diktatur, wie der Oppositionspolitiker befürchtet?

Nach dem Sturz des früheren Präsidenten Milosevic im Herbst 2000 war die serbische Wirtschaft einer Schocktherapie ausgesetzt worden: Die Zölle wurden drastisch gesenkt, jegliche Einfuhrbeschränkung für ausländische Waren aufgehoben. Der Warenflut aus den westlichen Industrieländern hatte die einheimische serbische Industrie, geschwächt durch die Folgen des Zerfalls Jugoslawiens, einem Jahrzehnt Sanktionen und den schweren Zerstörungen durch die Bomben der Nato, nichts entgegenzusetzen. Millionen Menschen verloren damals ihren Arbeitsplatz und internationale Konzerne konnten sich die lukrativsten Teile der serbischen Wirtschaft zu Spottpreisen einverleiben. Um Platz für ausländische Finanzkonzerne zu schaffen, wurden auch die größten einheimischen Geschäftsbanken bereits 2002 geschlossen [10]. Die serbische Industrie hat sich davon bis heute nicht erholt. Die ständig defizitäre Handelsbilanz zeigt dies: Weniger als 75% seiner Importe kann Serbien mit dem Erlös aus eigenen Exporten finanzieren [11].

Seit 2012 ist Aleksandar Vucic der „starke Mann“ in Serbien, zunächst als Ministerpräsident, mittlerweile als Staatspräsident. Er ist fest entschlossen, das Land in die EU zu führen. In der Wirtschaftspolitik setzt er ganz auf ausländische Investoren. Damit sie in Serbien investieren, ist er bemüht, ihnen jeden Wunsch zu erfüllen und dabei jeden der Nachbarstaaten zu unterbieten. Geboten werden von seiner Regierung qualifizierte und „leistungsbereite“ Arbeitskräfte zu niedrigsten Kosten (Durchschnittliches Bruttogehalt 2019: 638 EUR), ein Steuersatz auf Unternehmensgewinne von 15%, Zuschüsse, die für jeden geschaffenen Arbeitsplatz 10.000 EUR und bei Großinvestitionen 20 % der Gesamtkosten ausmachen können [12]. Verständlich, dass mittlerweile auch über 400 deutsche Unternehmen, darunter Namen wie Bosch, Continental, Linde und Siemens sowie viele Zulieferer der Automobilindustrie wie Dräxelmaier Group, Grammer AG oder Baugerätehersteller Wacker-Neuson diesem Angebot nicht widerstehen konnten.

3,6 Mrd. EUR betrugen die ausländischen Direktinvestitionen netto 2019. Sie waren in den letzten Jahren ständig gestiegen [11]. Auf sie ist Serbien für die Finanzierung des Defizits seiner Handelsbilanz angewiesen. Dieser Zufluss dürfte jetzt jäh zum Erliegen kommen.

Mit einem Rettungspaket in Höhe von 5,1 Mrd. EUR (entspricht 11% des BIP) hat die serbische Regierung beschlossen, die Wirtschaft zu stützen und einen rapiden Anstieg der bereits vorher hohen Arbeitslosigkeit zu verhindern. Um die Liquidität der privaten Unternehmen zu sichern, werden ihnen fällige Steuern und Abgaben erst im kommenden Jahr in Rechnung gestellt. Um Entlassungen als Folge vorübergehend notwendiger Betriebsschließungen möglichst zu verhindern, zahlt der Staat kleineren und mittleren Unternehmen für ihre Mitarbeiter für 3 Monate Geld in Höhe des gesetzlichen Mindestlohns (250 EUR), bei Großunternehmen in Höhe von 50% des Mindestlohns. Dazu kommen vergünstigte Kredite und Garantien, sowie für jeden volljährigen Bürger einmalig 100 EUR [13]. Bereits vorher hatte die serbische Zentralbank ein Moratorium von 3 Monaten ab Beginn des Ausnahmezustandes für die Tilgung und Zins von Bank- und Leasingkrediten bekanntgegeben, das für Firmen und Privatpersonen gilt [14].

Aber werden diese Maßnahmen genügen, einen völligen Absturz der serbischen Wirtschaft zu verhindern?

Viele Serben haben in den letzten Jahren im Ausland gearbeitet und die Einkommen ihrer Familien aufgebessert. 400.000 von ihnen, so Präsident Vučić, sind wegen der Krise in den letzten Tagen in ihr Heimatland zurückgekehrt [15]. Dort betrug 2018 die auf der Grundlage von Befragungen ermittelte Arbeitslosenquote 10,4%. Bei Jugendlichen im Alter zwischen 15 und 24 Jahren lag sie bei erschreckenden 27,5% [16]. Die Realität ist noch bedrückender, denn bei dieser Berechnungsmethode gilt bereits jeder als Beschäftigter, der in der Woche der Befragung zumindest eine Stunde gegen Bezahlung gearbeitet hat. Ihre Zahl wird jetzt mit Ausbruch der Wirtschaftskrise jäh ansteigen. Nur noch 8 Tage beträgt seit 2018 die gesetzliche Mindestkündigungsfrist in Serbien [17]. Wer ein ganzes Jahr durchgängig versicherungspflichtig beschäftigt war und seinen Arbeitsplatz verliert, hat für 3 Monate Anspruch auf Arbeitslosengeld. Erst nach einer versicherungspflichtigen Tätigkeit von mehr als 5 Jahren erhöht sich dieser Zeitraum auf 6 Monate. Das erklärt, weshalb weniger als 10% der gemeldeten Arbeitslosen in Serbien Arbeitslosengeld beziehen [18].

Sorgen muss auch die in den letzten Jahren stark gestiegene Verschuldung der Firmen und privaten Haushalten bei den Banken bereiten. Bei niedrigen Zinsen und „lockerer“ Kreditvergabe stieg die Verschuldung der privaten Haushalte seit 2009 um 140% [19].

Die Banken sind fast ausschließlich Töchter ausländischer Finanzkonzerne. Kredite für Unternehmen und speziell Baudarlehen zahlen sie zwar in Dinar aus, legen den Verträgen aber nahezu immer eine Klausel bei, die besagt, dass dem Kredit eine bestimmte Summe an EUR bzw. Schweizer Franken zugrunde liegt, die zurückgezahlt werden muss [20]. Damit tragen die Kreditnehmer das volle Wechselkursrisiko. Sollte der Dinar infolge einer Kapitalflucht in den kommenden Monaten gegenüber dem EUR abstürzen, werden weitere zahllose Familien ins Elend getrieben.

Bereits vor dem Ausbruch der Krise war die Unzufriedenheit mit der wirtschaftlichen Lage im Land und den politischen Verhältnissen unter der Jugend und in den Mittelschichten sehr groß. Eine Reihe von Oppositionsparteien hatten angekündigt, die geplanten Wahlen zu boykottieren. Die Zahl junger und gut ausgebildeter Menschen, die das Land Richtung Mitteleuropa verlassen, ist in den letzten Jahren ständig angestiegen. Über 4.000 waren es jeden Monat im vergangenen Jahr [21]. Dieser Weg ist jetzt ihnen durch die weltweite Krise verbaut. Dem lange angestauten Unmut fehlt damit ein wichtiges Ventil.

Eine Diktatur lässt sich leicht einführen, aber nur schwer beseitigen. Dazu müsse man nur Angst und Panik in der Bevölkerung verbreiten, warnt Saša Radulović.

Titelbild: SkyStudioRS / Shutterstock


[«*] Bernd Duschner lebt in Pfaffenhofen an der Ilm. Er kennt sich in Serbien aus, übrigens auch in Syrien. Er ist zusammen mit seinen Mitstreitern von „freundschaft-mit-valjevo in beiden Ländern engagiert. NachDenkSeiten-Leserinnen und -Leser haben diese Initiativen gelegentlich schon finanziell unterstützt. Dafür möchte ich mich auch in seinem Namen anlässlich dieses seines Berichtes aus Serbien herzlich bedanken. Albrecht Müller.

[«1] „Potpuna zabrana kretanja tokom vikenda“, Politika, 2.4.2020

[«2] „Vučić : Parlamentar želim svima uspeh“, Danas, 4.3.2020

[«3] „Valjevo, grad cije se ime ne izgovora dok ga Vučić ne izgovori“, kolubarske.rs, 27.3.2020

[«4] Interview von Saša Radulović in der Wochenzeitung „NIN“, 2.4.2020, dostajebilo.rs/blog/2020/04/02/sasa-radulovic-za-nin-prava-opasnost-je-diktatura/

[«5] U Srbiji još 292 obolela i sedam umrlih, ukupno 2.200 zaraženih i 58 smrtnih slučajeva, Danas, 6.4.2020

[«6] „Ruska pomoc dopremljena Srbiji u 11 aviona: Lekarski timovi, oprema,“ Nedeljnik.rs, 4.4.2020;

[«7] „Na muci se poznaje prijatelj kad je tesko, tu su braca kinezi“, Informer, 17.3.2020

[«8] „Serbien: Schritt für Schritt zum Brückenkopf Chinas“, Die Zeit, 18.3.2020; Vučić: Napravili smo dobar „prolaz” u Kini, Politika, 27.4.2019; Chinas Firmen errichten in Serbien neue Infrastruktur, GTAI Germany Trad & Invest, 9.8.2019

[«9] „Radulović, „Serbia is ruled by a hysterical man who abuses people`s fear of the virus“, Serbian monitor, 31.3.2010

[«10] „Srbija Danas“, Milorad Stamenkovic, Branislav Gulan, Branko Dragas, Seite 235-238

[«11] mfin.gov.rs Osnovni indikatori makroekonomskih kretanja, 6.3.2020 godine

[«12] Development Agency of Serbia: „Why invest in Serbia“; siehe auch:„Made in Serbia: Immer mehr deutsche Firmen zieht es auf den Balkan“, RT Deutsch, 12.4.2019;

[«13] „šta je u paketu mera drzave za oporavak srpske privrede?“, Politika, 31.3.2020

[«14] „Ekskluzivno Ovo su detalje mere NBS o odlaganju otplate kredita“, Blic, 17.3.2020

[«15] „Vučić: Vratilo se 400.000 naših građana i tamo su sad žarišta koronavirusa,“ B92, 29.3.2020

[«16] Stanovništva prema aktivnosti, 2018, Statisticki kalendar 2020, Seite 37

[«17] „Preoblikovanje Neoliberalizma“, Danilo Vukovic, Seite 268

[«18] Nacionalna služba za zapošljavanje: Trajanje prava na novčanu naknadu

[«19] Ihre Verschuldung stieg von 462 971 Mio. Dinar (2009) auf 1.112.000 Mio. Dinar (2019), Narodna Banka Srbije: Consolidated Balance Sheet oft he Banking System, Table 1.1.4, nbs.rs/internet/english/80/index.html#i1

[«20] „Izvestaj o dinarizaciji finansijskog sistema Srbije“, Septembar 2018, Narodna Banka Serbije

[«21] „Evropski statistički zavod: Srbiju mesečno napusti više od 4.000 ljudi


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