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Titel: „Mein Junge kann Abitur machen, und er wird Abitur machen. Verlassen Sie sich drauf!“

Datum: 16. April 2020 um 10:21 Uhr
Rubrik: Audio-Podcast, Bildungspolitik, Chancengerechtigkeit, Interviews, Ungleichheit, Armut, Reichtum
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Kein Gymnasium in seiner Heimatstadt nahm ihn auf, „weil man dort befürchtete, ich Kind armer Leute würde den Leistungsanforderungen nicht gerecht werden“. Es sind Einblicke wie diese, die die Arbeit des Journalisten Christian Baron so wertvoll machen. Baron hat mit seinem aktuellen Buch „Ein Mann seiner Klasse“ einen Bestseller verfasst, der unbequem ist. Ungeschönt zeigt Baron unter anderem auf, dass die familiären Hintergründe, wenn es um Bildung, um Aufstieg, um Karriere geht, einen großen Einfluss haben. Den ersten Teil des Gesprächs finden sie unter diesem Link. Im zweiten Teil des Interviews wird deutlich: Glück oder Kontakte, die an einer entscheidenden Stelle weiterhelfen, darauf kommt es beim Bildungsaufstieg an. Von Marcus Klöckner.

Dieser Beitrag ist auch als Audio-Podcast verfügbar.

Wie sieht es aus, wenn man aus der „Unterschicht“ stammt und aufsteigen will?

Bei mir fing das schon nach der Grundschule an. Kein Gymnasium in Kaiserslautern nahm mich auf, weil man dort befürchtete, ich Kind armer Leute würde den Leistungsanforderungen nicht gerecht werden. Ich konnte dann auf einer Gesamtschule das Abitur machen. Als es um die Frage nach einem Studium ging, bremsten mich ökonomische Fragen. Mein Onkel schärfte mir damals ein: „Studier was Richtiges, zum Beispiel Jura! Da verdienste Geld und kannst was für den Kleinen Mann tun!“ Ich hatte aber das Glück, in der Schule einen pädagogisch und fachlich exzellenten Sozialkundelehrer zu haben, der mich für Politik und Soziologie begeisterte. Der Preis für ein Studium war aber hoch, das wusste ich damals schon. Für einen Menschen mit meiner sozialen Herkunft heißt das: am Ende mehr als zehntausend Euro Schulden, im Vergleich zu einer Berufsausbildung mehrere Jahre keine Rentenbeiträge zahlen, keinerlei materielle Planungssicherheit haben, sich jahrelang den Kommilitonen unterlegen fühlen.

Wie erklären Sie sich, dass Herkunft und die materiellen Bedingungen beim Zugang zum Gymnasium und zur Universität noch immer eine nicht unwesentliche Rolle spielen? Erkennen politische Entscheidungsträger einfach nicht, wie Armut sich auch auf Bildungswege auswirken kann?

In der Bildungspolitik zeigt sich für mich besonders deutlich, dass Kapitalismus und Demokratie auf Dauer nicht in Einklang zu bringen sind. Viele politische Entscheidungsträger wissen sehr genau Bescheid darüber, wie sich Armut auf Lebenschancen auswirkt. In einer Klassengesellschaft sind die Wohlhabenden aber immer mächtiger als die Armen. Ein Beispiel: Im Jahr 2010 gab es in Hamburg eine Volksabstimmung. Ein breites Bündnis von CDU bis Linkspartei wollte längeres gemeinsames Lernen durchsetzen. Also diese Perversion beenden, dass schon nach der Grundschule feststeht, ob ein Kind später Abitur machen kann oder nicht. In den reichen Stadtteilen schlossen sich die feinen Leute zusammen und gingen brutal gegen diese Idee vor. Sie mobilisierten mit ihrem Geld und ihrem privilegierten Zugang zu Medien und Wirtschaft eine Bewegung dagegen, dass die Bevorzugung ihrer Kinder in Gefahr gerät. Am Ende schien es, als stünde das Abendland vor dem Kollaps, wenn mehr soziale Gerechtigkeit ins Bildungssystem einzöge. Und so gewannen die Reichen diesen Volksentscheid, weil in den armen Stadtteilen zu wenige Menschen sich an der Wahl beteiligten. Das ist ja auch ein Merkmal der Klassengesellschaft: Die Armen werden so klein gehalten, dass sie resignieren und sich nicht einmal mehr an solchen Wahlen beteiligen, die ihre Lebenslage wirklich verbessern können.

Wer Politikern zuhört, wenn es um das Thema Armut geht, hört oft: Bildung, Bildung, Bildung. Das heißt: Arme müssten sich nur genügend Bildung aneignen, dann würden sie zumindest tendenziell später besser dastehen. Greift diese Perspektive zu kurz?
Anders gefragt: Wo müsste eine Politik, die Menschen aus armen Verhältnissen tatsächlich Chancen geben möchte, ansetzen?

Natürlich ist es naiv zu glauben, Bildung könne alles lösen. Zumal da wieder die Frage in den Vordergrund rückt: Welche Bildung meint ihr denn überhaupt? Krankenschwestern mögen meist kein Abitur haben, aber sie sind hochgebildet, weil ihre Arbeit jenseits wirtschaftlicher Verwertbarkeit für diese Gesellschaft unschätzbar wertvoll ist. In einem marktwirtschaftlich organisierten Gesundheitssystem wie unserem wird ihre Arbeit aber entwertet, also erhält sie wenig Lohn, während viele Immobilienmakler und Investmentbanker mit abgeschlossenem BWL-Studium so reich sind, dass sie sich mit Geldscheinen den Hintern abwischen könnten. Außerdem leben und arbeiten immer mehr Akademiker inzwischen prekär. Die meisten von ihnen rettet nur der Umstand, dass ihre Eltern in besseren Zeiten studiert und den Kindern etwas zu vererben haben. Eine wirklich demokratische Gesellschaft müsste sich am Ende drastisch umbauen: massiver Ausbau der Infrastruktur, Wohnen als Menschenrecht verankern, ein Ende des mehrgliedrigen Schulsystems, keine staatliche Gängelung mehr bei Sozialleistungen, ein massiv höherer Mindestlohn, Wieder-Vergesellschaftung von Bahn und Post, mehr Wirtschaftsdemokratie in den Betrieben wagen, keine Privatisierung öffentlichen Eigentums, keine Kriege und Waffenexporte, damit Menschen in anderen Weltregionen nicht mehr massenhaft heimatlos gemacht werden. Das Geld für all das wäre vor allem über eine Reichensteuer leicht zu beschaffen, wenn man bedenkt, dass 32 Billionen US-Dollar unter Duldung der EU-Staaten unversteuert in Offshore-Paradiesen herumliegen. Und dass es möglich ist, sehr kurzfristig viel Geld bereitzustellen, haben wir 2008 in der Finanzkrise gesehen, und wir sehen es jetzt in der Coronakrise erneut.

Haben Sie konkrete Beispiele, anhand derer Sie verdeutlichen können, dass die besten Bildungsangebote nichts nutzen, wenn Arme diese aufgrund vielfacher (materieller) Probleme nicht aufgreifen können?

Mein Bruder hatte ausreichend gute Noten, um den Übergang von der neunten in die zehnte Klasse zu gehen. Ein Lehrer überredete ihn dann aber, nach dem Hauptschulabschluss abzugehen, weil er die Zehnte angeblich eh nicht schaffen würde. Hätte mein Bruder studierte Eltern gehabt, dann wären die mit ihrem akademischen Selbstvertrauen zu diesem Lehrer gegangen und hätten ihm eine verdiente Standpauke gehalten. Bei uns war es anders: Der Lehrer galt als Autorität, also muckten wir nicht auf. Dieses devote Verhalten wird armen Menschen im Alltag einprogrammiert. Es ist also keine selbstverschuldete Unmündigkeit. Sehen Sie sich nur mal an, wie man mit den Leuten beim Jobcenter umgeht. Da wird man zum Bittsteller degradiert, so als lebten wir noch im Mittelalter. Da darf man sich nicht wundern, wenn arme Menschen den Antrieb verlieren, nicht mehr zur Wahl gehen, sich zurückziehen. Anstatt Bildung als einfachen Ausweg aus der Armut zu verkaufen, sollte die Politik lieber dafür sorgen, dass kein Mensch mehr in Armut leben muss.

Zurück zu Ihrem Werdegang. Im ersten Teil des Interviews haben Sie es angeführt: Es gab Menschen, die Ihnen die Tür geöffnet haben, zum Beispiel Ihre Tante. Was hat sie getan?

Als ich zehn Jahre alt war, lag meine Mutter im Sterben. Ihre jüngere Schwester, meine Tante Juli, versprach ihr auf dem Sterbebett, dass sie mich und meine drei Geschwister bei sich aufnehmen würde, damit wir nicht bei unserem Vater landen oder auf verschiedene Kinderheime verteilt werden. Das war meine Rettung. Meine Tante gab damals ihren Putzjob auf, sie war 29 Jahre alt und schwanger mit ihrem ersten eigenen Kind. Mir sind nachher beim Jugendamt, in der Schule, an der Uni und im Job einige Leute begegnet, die mir geholfen haben, aber dieser Frau verdanke ich letztlich alles. Uns haben zwar die materiellen Ressourcen gefehlt, um mit den anderen Kindern mitzuhalten, aber Tante Juli war beeindruckend couragiert. Einmal war ich mit ihr beim Jugendamt. Der Beamte traute mir nicht zu, dass ich einmal Abitur machen könne. Da brüllte sie den Mann an und sagte: „Mein Junge kann Abitur machen, und er wird Abitur machen. Verlassen Sie sich drauf!“ Später, als ich Fußballberichte fürs Privatarchiv schrieb, da rief sie mal eben in der Sportredaktion der Lokalzeitung „Rheinpfalz“ an und überredete irgendwie einen Redakteur, mich mit einem Text zu beauftragen. Ohne diesen Mut meiner Tante würde ich heute ganz sicher nicht als Journalist arbeiten.

Ist es Teil einer großen Lüge, zu behaupten, jeder kann den Aufstieg schaffen, er muss sich einfach nur genügend ins Zeug legen?

Nicht in dem Sinne, dass irgendwelche grauen Herren in dunklen Hinterzimmern beschlossen haben, das Volk zu belügen. Ideologie funktioniert anders, sie ist systemisch. Das Reden vom für jedermann möglichen Aufstieg ist eher ein sozialer Kitt, ein Versprechen, auf dem das System fußt. Die Klassengesellschaft funktioniert deshalb so gut, weil so viele Menschen ernsthaft glauben, sie würden nicht in einer Klassengesellschaft leben. Zur Zeit des sogenannten Wirtschaftswunders galt die Devise: Meinem Kind wird es mal besser gehen als mir, weil ich selbst dafür sorgen kann. Dieses Versprechen ist seit längerer Zeit nicht mehr einlösbar. Wir sind von einer Gesellschaft der Versprechen zu einer Gesellschaft der Drohungen geworden. Heute heißt es nicht mehr: Strengt euch an, dann habt ihr es auch gut, sondern: Strengt euch an, sonst steigt ihr sozial ab und wir stellen euch an den Pranger!

Sie haben später studiert. Wie lief es auf der Universität?

Es hat lange gedauert, bis ich mich zu dem Schritt entschließen konnte, an eine Uni zu gehen. Ich hatte keine Eltern mehr, dem Jugendamt oder dem Staat wollte ich nicht mehr „auf der Tasche liegen“. Warum sollte ich das Recht haben, zu studieren? Was passiert, wenn ich überfordert bin und nach einem Abbruch des Studiums große Lücken im Lebenslauf habe? Wie geht das überhaupt: studieren? Wie finanziere ich mich? Am Ende habe ich den Rat meines Onkels für ein prestigeträchtiges Fach nicht befolgt, denn ich dachte: Wenn ich schon all das auf mich nehme, dann will ich zumindest Fächer studieren, denen ich mich mit Leidenschaft widmen kann. Also entschied ich mich für Politik, Soziologe und Germanistik. Ich hatte dann großen Stress im Studium, weil ich mir kulturelles Kapital aneignen musste, das meine Kommilitonen bereits mitgebracht hatten – und das unter einem ökonomischen Druck, den die anderen ebenfalls nicht nachvollziehen konnten. Deshalb galt ich manchem aus meinem Umfeld damals als anstrengend, streberhaft, verkrampft. Da hörte ich oft den Spruch: „Mach dich mal locker!“ Das tat damals sehr weh, aber ich würde es heute niemandem mehr vorwerfen, denn diese Leute wussten es ja nicht besser. Niemand kann etwas für seine soziale Herkunft. Die anderen haben sich die „legitime Kultur“ von klein auf unbewusst angeeignet und diesen Aneignungsprozess später vergessen. So wie es einen Unterschied macht, ob man eine Fremdsprache als Kind lernt oder als Erwachsener – letzterem wird man immer anmerken, dass es nicht die Muttersprache ist, während das Kind vergisst, wie schwer das Lernen dieser Sprache eigentlich ist.

„Mach dich mal locker“. Dieser Spruch erinnert mich an die Studien des französischen Soziologen Pierre Bourdieu, der umfangreiche Studien zur sozialen Herkunft durchgeführt hat. In seinen Werken beschreibt er, dass den Aufsteigern aus den unteren Klassen oft die Leichtigkeit fehlt, die beispielsweise Vertreter des Bürgertums an den Tag legen können. Bourdieu sagte sinngemäß, dass sich Menschen aus den unteren Klassen klein machen müssen, um durch die enge Pforte, die zum Bürgertum führt, durchzukommen. Und wenn sie oben angekommen sind, merkt man ihnen die Strapazen des Aufstiegs an. Können Sie das bestätigen?

Für meinen Job kann ich das bestätigen. Es gibt zahlreiche Studien, die belegen, dass es in Deutschland kaum Journalisten gibt, deren Eltern nicht studiert haben. Was Bourdieu beschreibt, macht sich in einem solchen Umfeld für jemand wie mich besonders bemerkbar. In Redaktionskonferenzen habe ich oft das Gefühl, fehl am Platze zu sein und dass den anderen der Raum mehr gehört als mir. Wo sie doch immer so klug und selbstbewusst über Politik und Wirtschaft und Kultur sprechen. Es kommt mir manchmal so vor, als hätten die Kollegen ein letztes Geheimnis, zu dem mir der Zugang fehlt. Und ich Idiot hab keine Ahnung, welches Geheimnis das ist, was dazu führt, dass ich mich in solchen Konferenzen erst recht nur selten zu Wort melde, denn ich warte immer nur darauf, dass jemand entdeckt, wie blöd und unfähig ich in Wahrheit bin. Das ist dieses Hochstapler-Syndrom, das nur Menschen kennen, die in sogenannten bildungsfernen Verhältnissen aufgewachsen sind.

Können Sie es nachvollziehen, dass Menschen, wenn Sie sehen, wie viel Kraft notwendig ist, um diesen Weg, den Sie beschritten haben, zu gehen, kapitulieren, sich sozusagen ihrem „Schicksal“ fügen?

Bei mir selbst war es an mehreren Stellen im Leben sehr knapp. Als ich während meines Studiums den sich anhäufenden Schuldenberg sah, mir das Lernen schwer fiel und dann auch noch die unverkrampften Überflieger aus den MINT-Fächern, den Rechts- oder Wirtschaftswissenschaften sah, da wollte ich nach Kaiserslautern zurückkehren und mich meinem Schicksal als Arbeiterkind fügen. Dabei ertappe ich mich manchmal noch heute, wenn mir die Arbeitslosigkeit droht in diesem ja doch sehr prekären Feld des Journalismus. Ich habe keine Rücklagen und kein zu erwartendes Erbe, da hadert man automatisch immer wieder mit seinen Lebensentscheidungen. Auf meine ersten Bewerbungsversuche für journalistische Volontariate erhielt ich nach meinem Studienabschluss nur Absagen. In meinem Lebenslauf fehlten teure Auslandsaufenthalte und unbezahlte Praktika, was in diesem Job unverzichtbar ist. Es hat einen zweiten Anlauf in meinen späten Zwanzigern gebraucht.

Was würden Sie einem jungen Menschen sagen, der aus der Armut ausbrechen will, bereit ist, sich Bildungskapital anzueignen, sich an den „Aufstieg“ ranzumachen? Wie sollte er es angehen, worauf muss er achten? Was sind Fallstricke?

Da gibt es keinen ratgeberliteraturtauglichen Weg. In einem politischen System, in dem Menschen wie ich die Ausnahme bleiben sollen, wird der Zufall immer die entscheidende Rolle spielen müssen. Aber es gibt natürlich trotzdem Wege, durchzukommen. Vor allem muss man mit offenen Augen durch die Türsteher-Institutionen gehen: Wo gibt es Lehrer, denen ich mich anvertrauen kann? Welcher Sozialarbeiter kann mir helfen? Gibt es in der Verwandtschaft irgendwo Leute, mit denen ich ins Theater gehen oder über Politik und Literatur diskutieren kann? Habe ich gerade zufällig für einige Monate einen guten Sachbearbeiter beim Jobcenter? Im System tummeln sich viele Menschen, die ihre Ermessensspielräume stark ausreizen, weil sie wirklich was bewegen wollen. Was noch fehlt, sind ausreichend Initiativen, in denen sich Arbeiterkinder zusammenschließen. Manches gibt es aber, zum Beispiel „arbeiterkind.de“, die Unterstützung bieten für Menschen, die als Erste in ihrer Familie ein Gymnasium besuchen oder studieren. Auch Gewerkschaften sind wichtig, weil sie einem das Gefühl vermitteln, nicht allein zu sein mit seinen existenziellen Sorgen und im besten Fall echte Interessenvertreter sein können. Es geht also nur über den zwischenmenschlichen Weg, denn da gilt noch immer der alte Slogan von „Ton Steine Scherben“: „Allein machen sie dich ein.“

Lesetipp: Baron, Christian: Ein Mann seiner Klasse. Claassen. Hardcover. 288 Seiten. 20 Euro. Erschienen: 31.Januar 2020.

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