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Titel: Lateinamerika – Corona-Pandemie im Lichte neoliberaler Gesundheitspolitik, brutaler Etatkürzungen und der autoritären Versuchungen der US-Regierung

Datum: 26. April 2020 um 11:45 Uhr
Rubrik: Außen- und Sicherheitspolitik, Audio-Podcast, Gesundheitspolitik, Kampagnen/Tarnworte/Neusprech, Länderberichte
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Teil 2: Die Mutation von Covid-19 zum geopolitischen Disput. Als erste Reaktion auf den Ausbruch von Covid-19 in den USA und anstelle sofortiger Sanitärmaßnahmen bedienen sich US-Ultrakonservative und Präsident Donald Trump seit Anfang März der politischen Denunziation: Covid-19 wird fortan als „China-Virus” gegen die Pekinger Regierung verwendet. Von Frederico Füllgraf.

Dieser Beitrag ist auch als Audio-Podcast verfügbar.

Lesen Sie auch den ersten Teil der kleinen Artikelreihe, der gestern erschienen ist.

Im Handumdrehen bricht der als Provokateur bekannte Parlamentarier und Sohn des brasilianischen Präsidenten, Eduardo Bolsonaro, Attacken gegen China vom Zaun. Der darin überhaupt nicht involvierte, jedoch peinlichst berührte Parlaments-Präsident Rodrigo Maia entschuldigt sich gegenüber China. Ende März platzieren von Bolsonaro kommandierte Rechtsradikale beleidigende Transparente gegen Präsident Xi Jinping und die Volksrepublik an den Toren der chinesischen Botschaft in Brasilia.

Szenenwechsel: die Bedrohung Venezuelas

Am 1. April ordnet Präsident Donald Trump die See-Belagerung Venezuelas durch die US-Marine an und die US-Justiz setzt ein millionenschweres Kopfgeld auf Präsident Nicolás Maduro aus. „Das Seltsamste war der Augenblick, den die USA gewählt haben, nämlich im Zusammenhang mit der Coronavirus-Pandemie, um diese Aktionen auszuführen. Während China medizinische Versorgung nach Lateinamerika und in die Karibik schickt, setzt die Trump-Regierung Marinezerstörer ein“, mahnte in der New York Times der konservative Kolumnist Michael Shifter, Geschäftsführer des in Washington angesiedelten und unter anderem von der Ford-Foundation und dem deutschen BMW-Konzern finanzierten Think Tanks Inter-American Dialogue.

Und er unterstellte der US-Regierung ein Ablenkungsmanöver von Trumps katastrophalem Covid-19-Management: „Dies ist höchstwahrscheinlich ein Säbelrasseln und eine kostspielige Ablenkung, sowohl für das inländische als auch für das ausländische Publikum, und seine Nützlichkeit wurde anscheinend sogar innerhalb des Pentagons infrage gestellt. Der Einsatz ist jedoch eine heikle und möglicherweise riskante Maßnahme: Ein Unfall oder ein Fehltritt kann zu einer gewaltsamen Eskalation führen“.

In Chile, dessen Präsident Sebastián Piñera sich im Februar 2019 am Versuch einer US- und Söldner-Invasion Venezuelas beteiligte, kündigt die Regierung in den ersten Apriltagen den Beschluss an, gealterte Militärs – die seit Jahren wegen schwersten Menschenrechts-Verbrechen in der Luxus-Haftanstalt Punta Peuco hinter Gittern sind und saftige Renten in Höhe tausender US-Dollars kassieren – aus „humanitären Gründen” zu begnadigen. Die demokratische Opposition im Parlament beschuldigt die Regierung des „politischen Missbrauchs” der Covid-19-Pandemie.

Während der Oberste Gerichtshof Chiles dem Begnadigungsversuch Piñeras einen Strich durch die Rechnung macht, wartet der Parteikollege des Präsidenten und Gouverneur der Provinz Santiago de Chile, Felipe Guevara, mit einem Orwellschen Plan auf. Der Statthalter möchte ein Kamera- und Drohnen-System installieren, um die 7-Millionen-Metropole vom Keller des Gouverneur-Gebäudes aus zu überwachen. Das Projekt zeichnet unter dem Codenamen CIRIM – Integriertes Zentrum der intelligenten Metropolregion – und soll angeblich der Kriminalitäts-Vorbeugung dienen. Kritiker vermuten nicht zu Unrecht, in Wahrheit nutze die Regierung Piñera die Gunst der Stunde und die Unaufmerksamkeit der Medien und bereite sich mit elektronischer Sozialkontrolle auf das erwartete Wiederaufflammen der von der Covid-19-Pandemie unterbrochenen Sozialproteste vor.

Zwischenspiel: Lawfare gegen Rafael Correa

Am 7. April wird mitten im ecuadorianischen Covid-19-Massensterben der im belgischen Exil lebende ehemalige Präsident Rafael Correa zusammen mit 17 anderen Angeklagten wegen angeblicher „Bestechungs-Begünstigung” von der Justiz Ecuadors in Abwesenheit und ohne Anhörung seiner Verteidiger zu einer achtjährigen Haftstrafe verurteilt.

Der Fall begann, als das Nachrichtenportal La Fuente eine Untersuchung über Correas angebliche Beteiligung an der Bevorteilung des brasilianischen Odebrecht-Baukonzerns und Auftragnehmers in Ecuador veröffentlichte. Die vom Mil-Hojas-Portal reproduzierte Reportage verweist wiederum auf einen Bericht namens „Arroz Verde“ (grüner Reis), der angeblich 2014 von einer Correa-Beraterin, Pamela Martínez, erhalten wurde. Darin geht es um finanzielle Beiträge, die multinationale Unternehmen, darunter Odebrecht, zwischen 2013 und 2014 für die Präsidentschaftskampagne von Correas Partei Alianza País (AP) geleistet hätten. Martínez wurde jedoch unerwarteterweise im November 2019 vorzeitig aus der Haft entlassen, was – nach der bekannten und in Brasilien mehrfach durch den Richter Sergio Moro vom US Dept. of Justice übernommenen Methode – auf eine ideologisch motivierte Kronzeugen-Regelung hindeutet.

Auf Twitter erklärte Correa, das Ganze sei „eine Inszenierung“, und verglich den Fall mit dem Vorgehen der politischen Justiz gegen die ehemaligen Präsidenten Brasiliens, Boliviens und Argentiniens; Luiz Inácio Lula da Silva, Evo Morales und Cristina Kirchner. „Sie (von der Justiz) haben nichts dazugelernt … Natürlich richten sie bei dieser Verfolgungsjagd kurzfristig Schaden an. Aber auf lange Sicht machen sie uns einfach unbesiegbar. Sie werden den Lauf der Geschichte nicht ändern können. Wir werden widerstehen und gewinnen“, kommentierte der unerschrockene Ex-Präsident.

Zweiter Szenenwechsel: “Putin ist schuld”

Mitte April stieg ein Teil des medialen Mainstreams auf Donald Trumps Geisterzug und befeuerte eine weltweit intendierte Eskalierung. Zunächst mit der Verschwörungstheorie, China habe die Entdeckung von Covid-19 verheimlicht und sei der Sündenbock für die weltweite Pandemie. „Ja, macht China für das Virus verantwortlich“, hieß es in einem unverantwortlichen Titel der konservativen Zeitschrift Foreign Policy. „Eine verpfuschte Reaktion in westlichen Ländern ist kein Grund, China aus der Verantwortung zu entlassen. Hätte China eine andere Regierung, wäre die Welt von dieser schrecklichen Pandemie verschont geblieben”, täuschte Autor Paul D. Miller – Professor für internationale Angelegenheiten an der Georgetown University und Senior Fellow am Atlantic Council – seine Leser.

Es bestehen keine Zweifel, dass China bei den ersten Covid-19-Anzeichen nervös mit autoritären Sicherheitsmaßnahmen reagierte, doch ebenso wenig darüber, nach wenigen Tagen im Januar Alarm an die WHO ausgegeben zu haben, den die UN-Organisation weltweit weiterleitete. Was Miller behauptet, widerspricht den Fakten.

Dann war es soweit. Mitte April war auch der russische Präsident Wladimir Putin an der Reihe. Die New York Times hatte „herausgefunden”, Putin habe seit mehr als einem Jahrzehnt Desinformation zum US-Gesundheitssystem betrieben. Seine Agenten hätten wiederholt die Behauptung verbreitet, dass verschiedene Virus-Epidemien – von Influenza-Ausbrüchen über Ebola bis zum Coronavirus – von amerikanischen Wissenschaftlern verursacht worden seien. Mit anderen Worten, so der Titel der NYT, handele es sich „um den langandauernden Krieg Putins gegen die US-Wissenschaften”.

Die Mutation von Covid-19 zum Virus der Geopolitik und der Kriegsszenarien

Doch die Taktik von State Department und assoziierten Medien, die Krise auf die außenpolitische Bühne zu verlagern, wollte nicht so recht gelingen. Auf Donald Trumps Virusbekämpfungs-Management hagelte es von allen Seiten scharfe Kritik. Seine mittlerweile fast täglichen Corona-Pressekonferenzen sollten Vertrauen und Entscheidungsbefugnisse demonstrieren. Doch waren und bleiben sie unerträglich für Menschen, die Orientierung suchen und Fakten benötigen. Während seiner Auftritte verbreitet der US-Präsident oft Halbwahrheiten, scheut nicht vor Lügen zurück und greift Reporter an, die Sondierungsfragen stellen, beschwerte sich selbst die Deutsche Welle Ende März. Die britische Financial Times bescheinigte Trump eine chaotische Administration.

Obwohl die USA nach optimistischen offiziellen Schätzungen in Kürze auf eine Million Covid-19-Infizierte mit nahezu 50.000 Toten zusteuern, drängt der Präsident ununterbrochen auf die Wiederaufnahme der lahmgelegten Wirtschaftsaktivität im Lande; eine Entscheidung, die er mit seit Wochen anhaltendem Zickzack-Kurs angeblich offiziell nun den Gouverneuren der Bundesstaaten überlässt, aber inoffiziell mit dem Aufruf an seine Anhänger zu Protestaufmärschen wieder aushöhlt.

Vom 19. auf den 20. April besetzten folgerichtig schwerbewaffnete US-Milizen aus dem rechtsextremen Lager Eingänge öffentlicher Gebäude in Pittsburgh und forderten die „Wiedereröffnung der Wirtschaft“. Sie werden prompt in Brasilia von Jair Bolsonaros rechtsradikalen Anhängern nachgeahmt, die jedoch vor dem Sitz des Heeres-Oberkommandos gar einen Militärputsch „gegen die diktatorischen Maßnahmen der Corona-Quarantäne“ fordern. Und sie werden obendrein vom hemdsärmeligen, erschöpft wirkenden, jedoch ohne Mundschutz ununterbrochen vor sich hin hustenden Staatschef in persona angefeuert.

Als einmaliger, unerhörter Vorgang in der Geschichte der USA drohte Trump am 16. April, den Kongress in Washington auszuschalten. Als Begründung gab der Staatschef an, ohne Zustimmung des Senats könne er keine der geplanten Nominierungen – zum Beispiel von politisch verbündeten Richtern – vornehmen. Der rebellierende Präsident beschuldigte das Parlament, eine „Blockade“ verhängt zu haben, weil es nicht wie üblich physisch, sondern aufgrund der wegen der Coronavirus-Pandemie verhängten sozialen Distanzierungsmaßnahmen nur elektronisch tagt.

Und prompt setzte der Präsident zwei Verschwörungstheorien in die Welt, die weltweit, vor allem aber in den USA selbst, als Ablenkungsmanöver von seiner Inkompetenz interpretiert werden. Zum einen ist da das Wiederauftischen des Narrativs, Covid-19 stammt aus geheimen Labortests in China oder ist kalkuliert in die Welt gesetzt worden. Diesmal warf der US-Mainstream dem Präsidenten vor, keine Beweise zu besitzen. Zum anderen, so Trump, stecke „die Weltgesundheits-Organisation (WHO) mit China unter einer Decke“. Er beschuldigte die WHO des Missmanagements und der Vertuschung der Virus-Ausbreitung.

Letztere Unterstellung nutzte der US-Präsident Mitte April, um die US-Finanzierung der WHO einzustellen, die für den Zeitraum 2018-2019 rund 900 Millionen US-Dollar, circa ein Fünftel des Agentur-Gesamthaushalts von 4,4 Milliarden US-Dollar, betrug.

Die Ankündigung löste scharfen Protest in der US-Gesundheits-Gemeinschaft aus. Die American Medical Association (AMA) erklärte, die Mittelkürzung inmitten der schlimmsten Krise der öffentlichen Gesundheit seit einem Jahrhundert bedeute einen „gefährlichen Schritt in die falsche Richtung”. Antonio Guterres, Generalsekretär der Vereinten Nationen, räumte ein, es sei wohl möglich, dass Institutionen und Regierungen die Fakten unterschiedlich interpretieren, doch sei es „jetzt nicht der richtige Zeitpunkt” für eine Mittelkürzung. Leslie Dach, Vorsitzender der Interessengruppe Protect Our Care, erklärte: „Dies ist nichts weiter als ein durchschaubarer Versuch von Präsident Trump, von seinem (Scheitern) abzulenken, indem er die Schwere der Coronavirus-Krise und das Versäumnis seiner Regierung, unsere Nation vorzubereiten, herunterspielt”.

Jeremy Konyndyk, ehemaliger Leiter des Amtes für Katastrophenhilfe im Ausland bei USAID, ging den Präsidenten noch schärfer an. Nämlich mit dem Nachweis der Daten-Vertuschung. Konyndyk erinnerte daran, dass die WHO mit dem Versand technischer Leitlinien bereits am 10. Januar die USA und ihre Mitgliedsländer vor dem Risiko einer Covid-19-Mensch-zu-Mensch-Übertragung gewarnt hatte. Zwar habe ein WHO-Tweet vom 14. Januar 2020 eingeräumt, „vorläufige Untersuchungen der chinesischen Behörden hätten keine eindeutigen Beweise für eine Übertragung von Mensch zu Mensch ergeben“, jedoch habe schließlich der offizielle WHO-Bericht vom 23. Januar eindeutig vor einer Übertragung von Mensch zu Mensch und einer höheren Übertragbarkeit als bei der saisonbedingten Grippe gewarnt.

Konyndyk, jetzt Senior Fellow am Center for Global Development, schrieb auf Twitter: „Um die WHO dafür verantwortlich zu machen, muss man glauben, dass diese 9 Tage zwischen dem 14. und 23. Januar irgendwie entscheidend für die mangelnde Bereitschaft der USA waren. Es ist Wahnsinn. Die Regierung hat den ganzen Monat Februar nichts unternommen, um das Heimatland sinnvoll vorzubereiten.“

Epilog: Vergeltung gegen Lula

In einer regelrechten Nacht-und-Nebel-Entscheidung vom 22. April um 1 Uhr morgens beschloss das Oberste Berufungsgericht (STJ) in Brasilia eine virtuelle, elektronische Sitzung zur letztinstanzlichen Prüfung des Anklagevorwurfs, Lula habe als Bestechung ein Penthouse am Strandort Guarujá erhalten. Der von den NachDenkSeiten mehrfach berichtete Fall führte zur zweitinstanzlichen Verurteilung und 18-monatigen Haftzeit des Altpräsidenten durch den ehemaligen Bundesrichter Sérgio Moro, der den Ehrenvorsitzenden der Arbeiterpartei (PT) 2018 am Rennen um die Präsidentschaftswahlen hinderte, damit die Wahl Jair Bolsonaros begünstigte und dafür mit dem Amt des Justizministers belohnt wurde.

Lulas Anwälte protestierten energisch, dass sie kurzfristig von Gerichtstagungen überrascht werden, die erst im Morgengrauen für denselben Tag einberufen werden. Noch gravierender: Sie hätten dem STJ im September 2019 das einleuchtende Argument vorgelegt, bitte die Entscheidung des Obersten Gerichtshofs (STF) abzuwarten, der mehrfache Rechtsklagen gegen die politische Befangenheit Moros prüfen müsse, und den gesamten Prozess gegen Lula für null und nichtig zu erklären. Parlamentarier der PT bezeichneten die STJ-Sitzung als absurde Machenschaft „mitten in einer Coronavirus-Pandemie“.

Verantwortlich für die Einberufung ist STJ-Berichterstatter Richter Felix Fischer. Die kuriose Pointe: Der in Hamburg geborene, eingebürgerte deutsche Jurist und mehr als zwanzigjährige Sergio-Moro-Duzfreund machte sich bereits in den vorangegangenen Instanzen als unnachgiebiger Hardliner gegen Lula einen Namen. Zweite Pointe: Die Nacht-und-Nebel-Verhandlung im Home-Office-Modus passierte weniger als 48 Stunden, nachdem sich der Parteivorstand der PT zur Kampfdevise #ForaBolsonaro („Bolsonaro raus!) durchgerungen und eine bundesweite Kampagne zum Rücktritt oder zur Amtsenthebung des mehr als nur umstrittenen Staatschefs eingeleitet hatte.

Titelbild: Robi Jaffrey/shutterstock.com


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