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Titel: Armutsforscher Butterwegge: „Nötig wäre ein Corona-Soli“

Datum: 7. Mai 2020 um 9:00 Uhr
Rubrik: Audio-Podcast, Chancengerechtigkeit, Hartz-Gesetze/Bürgergeld, Interviews, Steuern und Abgaben, Ungleichheit, Armut, Reichtum
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„Man muss kein Prophet sein, um voraussagen zu können, dass die gesellschaftlichen Verteilungskämpfe sehr viel härter als zuvor werden.“ Das sagt der Armutsforscher Christoph Butterwegge im Interview mit den NachDenkSeiten. Der Politikwissenschaftler betont, dass demnächst darüber zu entscheiden sein wird, „wer die Kosten der Pandemie und des wochenlangen Shutdowns zu tragen hat.“ Er sieht nur zwei Alternativen: Entweder legt man Hand an den Sozialstaat an oder aber die Politik „bittet die Wohlhabenden, Reichen und Hyperreichen durch Steuererhöhungen zur Kasse.“ Von Marcus Klöckner.

Dieser Beitrag ist auch als Audio-Podcast verfügbar.

Es ist kein Geheimnis: Krisen treffen die Armen meistens am härtesten. In der Coronakrise müssen die Hartz-IV-Empfänger nach wie vor mit ihrem gleichgebliebenen Regelsatz auskommen. Sie sind Ungleichheitsforscher und setzen sich seit langem intensiv mit den Lebensverhältnissen der Armen auseinander. Was bedeutet die gegenwärtige Situation für die Menschen, die auf Transferleistungen angewiesen sind?

Einem alleinstehenden Hartz-IV-Bezieher werden für Nahrung und alkoholfreie Getränke gerade einmal 150 Euro im Monat zugebilligt. Davon kann niemand gesund leben, erst recht nicht, wenn das Immunsystem aufgrund der Infektionsgefahr durch den Verzehr von Obst und Gemüse gestärkt werden soll, die Lebensmittelpreise steigen und der Tafelladen im Ort geschlossen hat. Selbst wenn Hamsterkäufer dem Arbeitslosengeld-II-Bezieher die preiswerten Lebensmittel wie Nudeln und Mehl nicht weggeschnappt haben, fehlen ihm der Platz und das Geld, um größere und im Endeffekt billigere Packungen zu nehmen – von der Möglichkeit, mit dem Auto im günstigeren Supermarkt auf der grünen Wiese einzukaufen, ganz zu schweigen.

Woran mangelt es konkret?

Familien im Transferleistungsbezug leiden unter den wochenlangen Schließungen von Kitas und Schulen nicht zuletzt deshalb besonders, weil die Kinder nicht mehr kostenlos in den öffentlichen Betreuungseinrichtungen verpflegt werden. Frauen, denen es ohnehin schwerfällt, Erwerbs- und Erziehungsarbeit miteinander zu vereinbaren, werden zurück an Heim und Herd gedrängt. Ich weiß nicht, wie Alleinerziehende mit diesem Problem, das sie physisch und psychisch über alle Maße belastet, fertigwerden sollen.

Erst kürzlich hat ein Vater, der Hartz IV bezieht, öffentlich gemacht, dass seine Kinder dringend einen Computer für die Schule brauchen, den ihnen die Behörden aber verweigern. Ist das ein typischer Fall, wo deutlich wird, wie benachteiligt schon die Kinder aus armen Elternhäusern sind?

Tatsächlich sind die Bildungschancen in Deutschland genauso ungleich verteilt wie die Infektionsrisiken bei einer Pandemie. Schulbildung gilt den etablierten Parteien und den Massenmedien hierzulande zwar als Wundermittel für einen angeblich unbegrenzten sozialen Aufstieg, dies ist aber pure Ideologie. Denn das Bildungssystem reproduziert die materielle Ungleichheit und trägt dazu bei, dass sich an der überkommenen Sozialstruktur nichts ändert. Die strukturelle Bildungsbenachteiligung der Armen wirkt als gläserne Decke, weshalb sie an den weiterführenden Schulen und an den Universitäten immer noch deutlich unterrepräsentiert sind. Hingegen könnte man in Abwandlung eines deutschen Sprichwortes sagen: Wo eine Villa ist, ist auch ein Weg, sei es zum Abitur, zum Studium und/oder zur beruflichen Karriere.

Können Sie nachvollziehen, warum das Jobcenter in Mönchengladbach und das Sozialgericht Düsseldorf sich der Hilfe verweigern?

Nein, denn ihre Begründungen sind wenig überzeugend. In einem vergleichbaren Fall wurde die Forderung der betroffenen Familie nach Finanzierung eines Computers für die Schule allen Ernstes unter dem Vorwand abgelehnt, dass es sich hierbei nicht um einen „laufenden“ Mehrbedarf handle. Kinder brauchen die Geräte aber nur einmal und nicht jeden Monat erneut, um beim Homeschooling, wie es auf Neuhochdeutsch heißt, mithalten zu können. Da der digitale Unterricht die Schülerinnen und Schüler aus armen Elternhäusern benachteiligt, weil sie entweder nicht über digitale Endgeräte verfügen oder damit weniger gut vertraut sind, nimmt die vorhandene Privilegierung der Kinder aus bessersituierten Familien noch zu. Ob das angekündigte Sofortausstattungsprogramm des Bundes in Höhe von 500 Millionen Euro daran etwas ändert, ist zu bezweifeln. Damit sollen die Bildungseinrichtungen bedürftigen Schülerinnen und Schülern einen Zuschuss von 150 Euro für die Anschaffung entsprechender Geräte gewähren und professionelle Online-Lehrangebote erstellen. Ein weiteres Problem sozial benachteiligter Familien kann dadurch mit Sicherheit nicht gelöst werden: Es besteht darin, dass armen Kindern oft ein eigenes Zimmer und damit ein ruhiger Arbeitsplatz fehlt, der ihnen ein konzentriertes Lernen ermöglichen würde.

Gerade wurde eine bundesweite Maskenpflicht eingeführt. Nicht jeder Hartz-IV-Empfänger kann nähen. Diejenigen, die Angst vor dem Virus haben, würden wahrscheinlich sich auch lieber Masken kaufen, als nur einen Schal zu nutzen. Wie soll das mit dem Regelsatz gehen?

Dies ist eine berechtigte Frage, zumal die Mechanismen der hoch gelobten Sozialen Marktwirtschaft im heutigen „Raubtierkapitalismus“ (Helmut Schmidt) dafür gesorgt haben, dass der Preis für eine Atemschutzmaske fast über Nacht von ein paar Cent in der Spitze auf weit über 10 Euro hochgeschnellt ist. Wenn von jedem Bürger und jeder Bürgerin verlangt wird, dass sie in der Öffentlichkeit geeignete Schutzkleidung tragen, muss man ihnen diese auch zur Verfügung stellen. Momentan kommt der Sozialstaat seinen im Grundgesetz festgelegten Verpflichtungen gegenüber Bedürftigen nur lückenhaft nach.

Sie haben frühzeitig gefordert, wegen der Pandemie einen Ernährungszuschlag einzuführen und den Regelsatz befristet um 100 Euro monatlich zu erhöhen. Was sind denn Ihre weiteren Vorschläge?

Die befristete Gewährung eines Ernährungszuschlags von mindestens 100 Euro monatlich auf den Regelbedarf im SGB II (Hartz IV), im SGB XII (Grundsicherung im Alter und bei Erwerbsminderung) sowie auf die Asylbewerberleistungen ist überfällig. Wohlfahrtsverbände und Kirchen haben sich dieser Idee angeschlossen, Sozialminister Hubertus Heil hat zumindest ein gewisses Verständnis dafür erkennen lassen. Wenn die Miete wegen Verdienstausfalls oder ausbleibender Aufträge nicht bezahlt werden kann, wäre eine Notfall-Komponente im Wohngeld die Lösung. Nicht bloß Kündigungen, Räumungsklagen und Zwangsräumungen, sondern auch Mieterhöhungen sollten für eine Übergangszeit ausgeschlossen werden. Geschehen ist allerdings nichts, obwohl Bund, Länder und Gemeinden fast über Nacht mehr als eine Billion Euro für Hilfsmaßnahmen, Kredite und Bürgschaften mobilisiert haben, die in erster Linie der Wirtschaft zugutekommen.

Halten Sie diese Finanzhilfen denn für eine Fehlinvestition des Staates?

Mich stört hauptsächlich die falsche Gewichtung der beschlossenen Hilfspakete. Während zahlreiche Unternehmen, darunter auch große Konzerne, die eine robuste Kapitalausstattung haben und eine ansehnliche Dividende zahlen, von der Bereitschaft des Staates zu einer hohen Neuverschuldung profitieren, gingen die Einkommensschwachen bei den Rettungspaketen bisher weitgehend leer aus. Unterstützt wurden nämlich gerade jene Menschen nicht, die als Hauptleidtragende der Pandemie mit den größten Problemen zu kämpfen haben. Selbst das seinem Volumen nach überschaubare „Sozial-Schutz-Paket“ der Bundesregierung wies eine verteilungspolitische Schieflage auf. Derzeit halten Wirtschaftslobbyisten der Automobilindustrie und anderer Branchen mit Hilfe neoliberaler Ökonomen, die den Staat sonst als das größte Übel geißeln, bei der Bundesregierung die Hand auf, um sich die Kassen zu füllen, während sie die katastrophalen sozialen Folgen der Pandemie nicht interessieren.

Spielen Sie damit auf die Situation der Obdachlosen an? Für sie dürfte die aktuelle Lage besonders bedrohlich sein. Was müsste deshalb von politischer Seite unternommen werden, um ihnen zu helfen?

Wird für die Wohnungs- und Obdachlosen sowie die Suchtkranken unter ihnen nicht mehr getan, droht dieser Personengruppe eine seit der unmittelbaren Nachkriegszeit nie mehr gekannte Verelendung. Hauptbetroffene sind zweifellos jene Menschen, die ohne nennenswertes Einkommen auf der Straße leben. Ein deutliches Alarmsignal ist die Krise der Straßenzeitungen, deren Verkauf den Ärmsten neben dem Pfandsammeln und dem Betteln immerhin noch ein kleines Einkommen gesichert hatte. Trotz der Lockerungen des Shutdowns fehlen die Passanten, zumal sich die verbliebenen überwiegend vor einer Ansteckung fürchten. Das gilt auch für Straßenmusiker, die dasselbe Problem haben wie die Zeitungsverkäufer. Die kommunalen Sozialdienste sind „systemrelevanter“ denn je, stehen aber unter enormem Druck, weil im Obdachlosenmilieu derzeit Verzweiflung um sich greift. Wenn man sie schon nicht in leerstehende Wohnungen, Hotels und Pensionen einziehen lässt, müssten den Betroffenen zumindest mehr Streetworker und Wärmestuben ebenso wie Sanitärstationen bereitgestellt werden.

Wie stellen Sie sich denn die Finanzierung Ihrer Forderungen vor?

Man sollte den ursprünglich zur Finanzierung der Vereinigung und des Zweiten Golfkrieges erhobenen Solidaritätszuschlag auf die Einkommen-, Kapitalertrag- und Körperschaftsteuer weder – wie vom Parlament beschlossen – einkommensstarken Angehörigen der Mittelschicht zum 1. Januar 2021 erlassen noch – wie zuletzt vom bayerischen Ministerpräsidenten Markus Söder erneut gefordert – komplett abschaffen, sondern umwidmen. Nötig wäre ein „Corona-Soli“, der durch volle Aufrechterhaltung des Solidaritätszuschlages die Besserverdienenden, Kapitaleigentümer und Konzerne zur Bewältigung der Pandemiekosten heranziehen würde. Das ergäbe zwischen zehn und 20 Milliarden Euro jährlich, von denen die ärmere Hälfte der Bevölkerung nur einen Bruchteil aufbringen müsste.

Es ist anzunehmen, dass es Widerstand geben wird. Wie würden Sie die Einführung eines „Corona-Solis“ rechtfertigen?

Praktisch alle Steuern, die besonders Wohlhabende, Reiche und Hyperreiche zahlen, sind in den vergangenen drei Jahrzehnten gesenkt oder abgeschafft worden. Ersteres gilt für den Spitzensteuersatz in der Einkommensteuer, für die Körperschaftsteuer (als der Einkommensteuer für natürliche Personen entsprechende Steuerart für Konzerne und Stiftungen), die Kapitalertragsteuer und die Erbschaft- bzw. Schenkungsteuer für Firmenerben. Letzteres gilt für die Börsenumsatz- und die Gewerbekapitalsteuer. Auch die Vermögensteuer wird in Deutschland seit 1997 nicht mehr erhoben, weil die Regierung Kohl ein Urteil des Bundesverfassungsgerichts, das die Privilegierung des Immobilienvermögens gegenüber dem Geldvermögen bemängelt hatte, als Vorwand missbraucht hat, um alle Vermögenden gleichermaßen zu begünstigen. Deshalb wäre eine Vermögensabgabe als Lastenausgleich und eine Wiedererhebung der Vermögensteuer mit Sicherheit legitim.

Halten Sie es für realistisch, das auch durchzusetzen, und welche Alternativen dazu gibt es?

Man muss kein Prophet sein, um voraussagen zu können, dass die gesellschaftlichen Verteilungskämpfe sehr viel härter als zuvor werden. Demnächst wird darüber entschieden, wer die Kosten der Pandemie und des wochenlangen Shutdowns zu tragen hat. Da der Rüstungshaushalt in den vergangenen Jahren deutlich erhöht worden ist und keine Regierungspartei großes Interesse an Schritten zur Abrüstung erkennen lässt, bleiben nur zwei Handlungsalternativen: Entweder lässt man den Sozialstaat zur Ader oder man bittet die Wohlhabenden, Reichen und Hyperreichen durch Steuererhöhungen zur Kasse. Wegen des Merkel-Dogmas „Keine Steuererhöhungen, egal für wen!“ sowie der bestehenden Macht- und parlamentarischen Mehrheitsverhältnisse dürfte ein „Sparkurs“ in der Sozialpolitik die künftige Regierungspraxis bestimmen. Erstes Anzeichen dafür sind die lauter werdenden Rufe in der Union, auf die Grundrente zu verzichten oder ihre für den 1. Januar 2021 vorgesehene Einführung zu verschieben, obwohl die Altersarmut durch die Corona-Krise ja nicht ab-, sondern zunimmt.

Sie zeichnen ein ziemlich düsteres Zukunftsszenario. Gibt es denn überhaupt keine Hoffnung auf mehr Solidarität und soziales Verantwortungsbewusstsein?

„Vor einem Virus sind alle gleich“, glauben immer noch viele Menschen. Tatsächlich haben Seuchen oft zur Eindämmung der sozioökonomischen Ungleichheit beigetragen. Das geschah für eine gewisse Zeit etwa bei den mittelalterlichen Pestepidemien, die nicht bloß in Europa unzählige Menschen dahinrafften. Ursächlich dafür waren ein Verfall der Lebensmittel-, Boden- und Immobilienpreise (aufgrund leerstehender Häuser) einerseits sowie ein Anstieg der Löhne (aufgrund fehlender Arbeitskräfte und deren gestärkter Verhandlungsposition) andererseits. Mit den bakteriell ausgelösten Epidemien, die Deutschland im 19. Jahrhundert heimsuchten, Cholera und Typhus, hat die von dem als SARS-CoV-2 bezeichneten Virus hervorgerufene Covid-19-Erkrankung gemeinsam, die Immun- und Einkommensschwächsten am stärksten zu treffen. Auch die soziale Schlagseite der Schutzmaßnahmen des Staates wird dazu beitragen, dass sich die Kluft zwischen Arm und Reich weiter vertieft, ebenso wie das im globalen Maßstab zu befürchten ist.

Lesetipp: Butterwegge, Christoph: Die zerrissene Republik. Wirtschaftliche, soziale und politische Ungleichheit in Deutschland. Beltz Juventa. 20. November 2019. 414 Seiten. 24,95 Euro.

Titelbild: Hyejin Kang / Shutterstock


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