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Titel: Schaden für die Seele

Datum: 18. Juli 2020 um 11:45 Uhr
Rubrik: Aktuelles, Audio-Podcast, einzelne Politiker/Personen der Zeitgeschichte, Erosion der Demokratie, Strategien der Meinungsmache
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Um Julian Assange ist es in den sogenannten Leitmedien in den vergangenen Monaten still geworden, nein, vielmehr still geblieben. Denn seitdem er mitten in London im Hochsicherheitsgefängnis Belmarsh sitzt und seitdem seine Auslieferung an die USA geprüft wird, bekommt man zumindest hierzulande kaum mehr als Kurzberichte zu lesen. Da kann seine Verlobte und Mutter seiner zwei kleinen Söhne an die Öffentlichkeit gehen, da können Ärzte aus der ganzen Welt alarmierte Offene Briefe schreiben, weil sie Sorge haben, Assange könnte in seiner Isolationshaft sterben, da können dutzende NGOs von der britischen Regierung seine sofortige Freilassung fordern – es wird weiterhin eisern geschwiegen. Es geht ja nur um den Fall des Mannes, der mehr oder weniger alleine die abscheulichsten Kriegsverbrechen und schmutzigsten Geheimnisse der einzig verbliebenen Großmacht ans Licht gebracht hat. Craig Murray dagegen steht seit vielen Jahren an Julian Assanges Seite. Er hat ausführlich und akkurat von den Anhörungen in London berichtet und unterzieht in seinem aktuellen Artikel die erweiterte Anklage gegen Assange einer kritischen Analyse. Übersetzung von Susanne Hofmann.

Dieser Beitrag ist auch als Audio-Podcast verfügbar.

Schaden für die Seele

Die Inhaftierung von Julian Assange ist ein Katalog krassen Unrechts – mitschuldige Medien und eine indoktrinierte Bevölkerung schauen weg. In einer ganz außergewöhnlichen Wendung wird Assange jetzt auf der Grundlage einer in Großbritannien erhobenen Anklage ausgeliefert, die sich erheblich von der tatsächlichen Anklage unterscheidet, die ihm in Virginia bevorsteht, falls er ausgeliefert wird.

Die Anhörung von Assange wurde nach ihrer ersten ganzen Woche vertagt und ihre Wiederaufnahme wird seither durch das Coronavirus verzögert. In dieser ersten Woche haben sowohl die Anklage als auch die Verteidigung ihre juristischen Argumente die Anklage betreffend umrissen. Wie ich en detail einem Millionenpublikum berichtet habe, haben Assanges Anwälte die Hauptargumente der Anklage während dieser Anhörung praktisch in der Luft zerrissen.

Dieser Ausschnitt meines Berichts über die Argumentation der Verteidigung ist von besonderer Relevanz für die Geschehnisse seitdem:

Kronanwalt Mark Summers legte für die Verteidigung dar, dass die US-Anklage vollkommen von drei Anschuldigungen des Verhaltens von Assange abhängig sei:

  1. Assange half Manning, einen Hash-Schlüssel zu dekodieren, um an geheimes Material zu gelangen.
    Summers sagte, dies sei eine erwiesenermaßen falsche Anschuldigung, was die Gerichtsunterlagen des Verfahrens gegen Manning am Kriegsgericht zeigten.
  2. Assange erbat das Material von Manning
    Summers legte dar, dass das nachweislich falsch sei, was aus Informationen hervorgehe, die der Öffentlichkeit zugänglich sind
  3. Assange setzte wissentlich Menschenleben aufs Spiel
    Summers erklärte, dies sei sowohl aufgrund öffentlich zugänglicher Informationen, als auch aufgrund der spezifischen Beteiligung der US-Regierung nachweislich falsch. Zusammenfassend erklärte Summers, die US-Regierung habe gewusst, dass die Vorwürfe falsch waren, und die Vorwürfe wurden in der Absicht, zu täuschen, erhoben. Es handele sich also um Prozessmissbrauch, der zur Zurückweisung des Auslieferungsersuchens führen sollte. Die drei oben genannten Punkte bezeichnete Summers als „Quatsch, Quatsch und Quatsch“. Anschließend ging Summers den Sachverhalt Schritt für Schritt durch. Er sagte, die US-Vorwürfe unterteilten die von Manning an WikiLeaks geleakten Materialien in drei Kategorien.

    1. Diplomaten-Depeschen
    2. kurze Bewertungen von Guantanamo-Häftlingen
    3. Einsatzregeln im Irak-Krieg
    4. afghanische und irakische Kriegsprotokolle

    Danach ging Summers die Punkte a, b, c und d systematisch durch und bezog sie nacheinander auf die behaupteten Verhaltensweisen 1, 2 und 3, so dass er insgesamt zwölf Erklärungen darlegte. Dieser umfassende Bericht nahm ungefähr vier Stunden in Anspruch, und ich werde nicht versuchen, ihn hier festzuhalten. Vielmehr möchte ich einige Schwerpunkte darlegen und mich dabei gelegentlich auf die vorhin aufgeführten Zahlen und Buchstaben beziehen. Ich hoffe, dass Sie damit klarkommen – es hat mich einige Zeit gekostet.

Zu 1) zeigte Summers ausführlich und schlüssig, dass Manning zu allen Materialien a, b, c, d, die sie WikiLeaks zuspielte, Zugang hatte, ohne dafür einen Code von Assange zu benötigen, und dass sie diesen Zugang schon hatte, ehe sie mit Assange überhaupt in Kontakt getreten war.
Auch benötigte Manning nicht, wie es die Anklage behauptet, einen Code, um ihre Identität zu verbergen. Die Datenbank für Geheimdienst-Analysten, auf die Manning – wie Tausende andere – zugreifen konnte, erforderte keinen Benutzernamen oder kein Passwort, wenn man darauf von einem Arbeitsrechner des Militärs zugriff.

Summers zitierte die Zeugenaussagen mehrerer Beamter aus Mannings Kriegsgerichtsverhandlung, die das bestätigten. Auch das Knacken des Systemadministrator-Codes würde Manning keinen Zugang zu zusätzlichen Datenbanken verschaffen. Summers zitierte aus Mannings Verfahren vor dem Kriegsgericht, nach dem Manning die Systemadministrator-Rechte haben wollte, um es Soldaten zu ermöglichen, ihre Video-Spiele und Filme auf ihre Regierungs-Laptops zu laden, was in der Tat oft geschah. Und dieser Grund war vor dem Kriegsgericht akzeptiert worden.
Richterin Baraitser unterbrach den Vortrag von Summers zweimal. Sie bemerkte, dass, auch wenn Chelsea Manning nicht wusste, dass sie als Benutzerin, die die Datenbanken herunterlud, nicht ausfindig gemacht werden konnte, sie dennoch aus Unwissenheit, dass dies gar nicht nötig war, Assanges Hilfe beim Knacken des Codes gesucht haben könnte, um ihre Identität zu verbergen. Und dabei zu helfen, wäre dann trotzdem ein Delikt vonseiten Assanges.
Summers wies darauf hin, dass Manning wusste, dass sie keinen Benutzernamen und kein Kennwort brauchte, weil sie das ganze Material ja bereits ohne diese abgerufen hatte. Baraitser erwiderte, dass dies nicht beweise, dass sie wusste, dass sie dabei keine Spuren hinterließ.

Summers sagte, es ergebe keinen Sinn zu behaupten, sie hätte einen Code gesucht, um ihre Benutzer-ID und ihr Kennwort zu verbergen, wo es doch gar keine Benutzer-ID und kein Kennwort gab. Baraitser wiederum antwortete, dass er das nicht beweisen könne. An dieser Stelle wurde Summers Baraitser gegenüber etwas gereizt und kurzangebunden und ging für sie das Beweismaterial des Kriegsgerichts erneut durch. …

Baraitser bemerkte auch, selbst wenn Assange Manning dabei geholfen habe, den Admin-Code zu knacken – auch wenn das Manning nicht in die Lage versetzte, Zugriff auf mehr Datenbanken zu erlangen – dies immer noch unerlaubtes Handeln darstelle und den Tatbestand der Hilfe und Beihilfe zum Computer-Missbrauch darstelle, selbst wenn es aus einem harmlosen Grund geschehen sei.

Während es keinerlei Hinweise darauf gibt, dass sich die Richterin Baraitser mit den Argumenten der Verteidigung ernsthaft auseinandersetzt, zeigen sich hier der Anklage doch die Löcher in ihrer Beweisführung, die ihnen ernste Probleme bereiten würden, sollten sie Julian in den Vereinigten Staaten vor Gericht bringen.

Insbesondere müssen sie sich vor dem starken Schutz der Meinungsfreiheit in der US-Verfassung in Acht nehmen. Deshalb wollen sie Julian unbedingt als Hacker und nicht als Journalisten darstellen. Doch dafür haben sie, wie wir weiter oben gesehen haben, nicht die besten Karten.

Deshalb braucht die Anklage also einen anderen Fall. Sie haben aus diesem Grund die Anklage gegen Julian in Virginia vollkommen abgeändert und eine neue Anklage erhoben, die an die Stelle der ursprünglichen gesetzt wurde.

„Neue Anklage gegen WikiLeaks-Gründer

Neuen Vorwürfen zufolge hat sich Assange unter anderem mit „anonymen“ Hackern verschworen

Eine Grand Jury des Bundes gab heute eine zweite Anklageschrift zurück, in der Julian P. Assange, der Gründer von WikiLeaks, wegen Straftaten angeklagt wurde, die sich auf Assanges angebliche Rolle bei einer der größten Preisgaben von Verschlusssachen in der Geschichte der Vereinigten Staaten beziehen.

Die neue Anklageschrift fügt der vorherigen Anklage gegen Assange, die im Mai 2019 gegen Assange eingereicht wurde, keine zusätzlichen Anklagepunkte hinzu. Sie erweitert jedoch den Umfang der Verschwörung im Zusammenhang mit mutmaßlichen Computereingriffen, die Assange zuvor vorgeworfen wurden. Laut der Anklageschrift haben Assange und andere Mitarbeiter von WikiLeaks Hacker angeworben und vereinbart, Computereingriffe zum Nutzen von WikiLeaks zu begehen.

Seit den Anfängen von WikiLeaks hat Assange auf Hacking-Konferenzen gesprochen, um für seine eigene Geschichte als „berühmter Teenager-Hacker in Australien“ zu werben und andere zum Hacken zu ermutigen, um Informationen für WikiLeaks zu erhalten. Im Jahr 2009 teilte Assange der Hacking-At-Random-Konferenz beispielsweise mit, dass WikiLeaks nichtöffentliche Dokumente vom Congressional Research Service erhalten habe, indem er „eine kleine Sicherheitslücke“ innerhalb des Dokumentenverteilungssystems des US-Kongresses ausnutzte, und behauptete dann: „So etwas würde jeder von euch finden, wenn ihr tatsächlich hinschaut.“

Im Jahr 2010 erhielt Assange unbefugten Zugriff auf ein Regierungscomputersystem eines NATO-Landes. Im Jahr 2012 kommunizierte Assange direkt mit einem Leiter der Hacking-Gruppe LulzSec (der zu diesem Zeitpunkt mit dem FBI zusammenarbeitete) und stellte eine Liste mit Zielen zur Verfügung, die LulzSec hacken sollte. In Bezug auf ein Ziel bat Assange den LulzSec-Leiter, nach E-Mails und Dokumenten, Datenbanken und PDFs zu suchen (und diese für WikiLeaks bereitzustellen). In einer anderen Mitteilung teilte Assange dem LulzSec-Leiter mit, dass eine Veröffentlichung von gehacktem Material am effektivsten durch die CIA, die NSA oder die New York Times geschehen würde.

WikiLeaks erhielt und veröffentlichte E-Mails aus einem Datenleck, das auf das Konto eines anonymen und mit LulzSec verbundenen Hackers gegen ein amerikanisches Geheimdienst-Beratungsunternehmen ging. Laut diesem Hacker hat Assange ihn indirekt gebeten, die Opferfirma erneut zu spammen.

Darüber hinaus behauptet die erweiterte Hacking-Verschwörung weiterhin, Assange habe sich mit dem Geheimdienstanalysten Chelsea Manning verschworen, um einen Passwort-Hash für einen als geheim eingestuften Computer des US-Verteidigungsministeriums zu knacken.

Eine Anklage enthält Vorwürfe, dass ein Angeklagter ein Verbrechen begangen hat. Assange gilt als unschuldig, es sei denn, er wird zweifelsfrei für schuldig befunden bzw. bis er zweifelsfrei für schuldig befunden wurde. Bei einer Verurteilung droht ihm eine Höchststrafe von zehn Jahren Gefängnis für jeden der Anklagepunkte, mit Ausnahme der Verschwörung, Computereingriffe zu begehen, für die ihm eine Höchststrafe von fünf Jahren Gefängnis droht. Die tatsächlichen Strafen für Bundesverbrechen liegen in der Regel unter den Höchststrafen. Ein Bundesbezirksrichter entscheidet über jede Strafe unter Berücksichtigung der US-Verurteilungsrichtlinien und anderer gesetzlich verankerter Faktoren.

Assange ist derzeit auf Auslieferungsersuchen der Vereinigten Staaten im Vereinigten Königreich inhaftiert. Die Auslieferung von Assange an die Vereinigten Staaten wird vom Büro für internationale Angelegenheiten des Justizministeriums und den britischen Behörden, einschließlich des Innenministeriums und der Staatsanwaltschaft für England und Wales, abgewickelt.“

Man sieht hier also, dass dieses Manöver dazu dient, das Hacken als Grundlage der Anklage zu nehmen und nicht die Veröffentlichung von Leaks über entsetzliche US-amerikanische Kriegsverbrechen. Die neue Anklage beruht auf den Beweisen eines „Kronzeugen“ namens Sigurdur Thordarson, der als bezahlter Informant des FBI diente, während er zu WikiLeaks Kontakt hatte.

Thordarson mag Geld und ist ein Serienstraftäter. Er wurde am 22. Dezember 2014 vom Bezirksgericht Reykjavik in Island verurteilt, weil er mehr als 40.000 US-Dollar und mehr als 13.000 Euro von der WikiLeaks-eigenen Organisation „Sunshine Press“ gestohlen hatte, indem er Dokumente im Namen von Julian Assange fälschte. Des Weiteren erhielt er eine zweijährige Haftstrafe.

Thordarson ist zudem ein verurteilter Sexualstraftäter, der verurteilt wurde, nachdem ihn Julian Assange der Polizei übergeben hatte, die Beweise für seine Straftaten – inklusive Vergehen im Zusammenhang mit einer minderjährigen Person – auf Thordarsons Computer fand.

Die Motive und die Referenzen des FBI-Kronzeugen sind also nicht eben über jeden Zweifel erhaben.

Das FBI hatte Thordarsons „Beweise” gegen Assange lange, ehe die Frist für die Einreichung von Beweisen in der Auslieferungs-Anhörung am 19. Juni 2019 verstrichen war. Dass man es jetzt offenbar nötig zu haben glaubt, sich auf dieses recht krude Material zu stützen, ist ein gutes Zeichen dafür, wie man seitens des FBI den bisherigen Verlauf der Auslieferungsanhörungen als Indikator einer erfolgreichen Anklage in den USA einschätzt.

Die Auslieferung durch Großbritannien ist also eine absolute Farce. Ich nahm an Diskussionen mit WikiLeaks darüber teil, was passieren würde, wenn die neue Anklage in der technischen Anhörung im vergangenen Monat eingeführt würde. Man hätte diese neue Anklage nicht akzeptieren dürfen – schließlich liegt das Fristende für die Einreichung von Anklagepunkten mehr als ein Jahr zurück. Außerdem waren die einleitenden Argumente die alte Anklage betreffend bereits eine Woche lang angehört worden. Die neue Anklage soll offensichtlich die Mängel in der vorigen Anklage tilgen, die in der Anhörung offen zutage getreten waren.

Die nachgeschobene Anklage soll auch eidesstattliche Erklärungen von Zeugen der Verteidigung kontern, die der Anklagevertretung vorgelegt wurden, einschließlich Zeugenaussagen von Sachverständigen, die die Anklage in Bezug auf Assanges angebliche Hacking-Unterstützung für Manning entkräften – welche bis jetzt die einzige Grundlage für den „Hacking“-Vorwurf darstellt. Diese Wendung, so machte WikiLeaks geltend, war ein unerhörtes Unterfangen. Sollte die ganze Anhörung nun auf Grundlage der neuen Anklage von vorne beginnen?

Zu unserem Erstaunen wartete die Anklagevertretung dann aber bei der technischen Anhörung gar nicht mit der neuen Anklage auf. Um diese Probleme zu umschiffen, scheinen sie bereit zu sein, mit der Auslieferungsanhörung auf Grundlage der alten Anklage fortzufahren, obwohl Assange doch in den Vereinigten Staaten gar nicht diese Anklage erwartet. Das ist absolut ungeheuerlich. Die Anklageseite wird ins Feld führen, dass die eigentlichen Spionage-Vorwürfe unverändert geblieben sind. Es ist jedoch so, dass die eine Anklage die Grundlage der Auslieferungs-Anhörung bildet und die andere Anklage die Grundlage jeglicher US-Strafverfolgung bilden würde.

Über eine Auslieferung auf Grundlage einer Anklage zu entscheiden, wenn der Angeklagte sich doch in Wirklichkeit einer anderen Anklage gegenübersieht, ist ein Skandal. Die Anklage, lange nachdem die Anhörung begonnen hat und die Beweise der Verteidigung eingesehen wurden, abzuändern, ist ein Skandal. Der Mangel an medialer Empörung ist ein Skandal.

Nichts davon wird diejenigen von uns schockieren, die die Geschehnisse bisher verfolgt haben. Wir müssen weiterhin daran arbeiten, ein öffentliches Bewusstsein dafür zu schaffen, dass hier ein Journalist vernichtet wird, weil er Kriegsverbrechen öffentlich gemacht hat, vernichtet auf der Grundlage eines ganzen Katalogs an staatlichen Lügen und eines windigen Verfahrens. Ein solches Handeln verletzt die Seele eines Staates bis ins Mark.

Titelbild: Katherine Da Silva/shutterstock.com


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