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Titel: Tausche Koalitionsfähigkeit gegen Mehrheitsfähigkeit. Soll das ein Gewinn sein?

Datum: 2. September 2020 um 9:00 Uhr
Rubrik: Audio-Podcast, Demoskopie/Umfragen, DIE LINKE, Friedenspolitik, Leserbriefe
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Gestern hatten die NachDenkSeiten eine Erklärung zum Antikriegstag gebracht: Auslandseinsätze beenden – Rüstungsexporte verbieten! Vertreterinnen und Vertreter der Linkspartei hatten sich damit gegen die von Gysi und Bartsch unterstützte Abkehr der Linkspartei vom antimilitaristischen Kurs gewandt. Ein Leser der NachDenkSeiten, Peter Dodel, hat sich – sozusagen repräsentativ – kritisch zur Erklärung geäußert. Siehe im Anhang. Sein Kernsatz: „Eine grün/rote/dunkelrote Regierung wäre doch sicher das kleinere Übel gegenüber einem schwarzen Bundeskanzler, auch wenn dann die Linken einige ihrer Grundprinzipien aufgeben oder abschwächen müssten.“ Diese Aussage gründet auf einer Fehleinschätzung. Denn mit der Hinwendung zur Fortsetzung der Politik mit militärischen Mitteln gewinnt die Linkspartei vielleicht die erträumte Koalitionsfähigkeit. Sie und das mögliche rot-rot-grüne Bündnis verlieren gleichzeitig aber die Mehrheitsfähigkeit. Albrecht Müller.

Dieser Beitrag ist auch als Audio-Podcast verfügbar.

Denn mit dem Schwenk zu Militäreinsätzen, Rüstungsexporten und Aufrüstung verlieren dann auch die Linken die Unterstützung der Friedensbewegung und von vielen Menschen, die den Frieden, auch mit Russland und auch mit China, für wichtig halten. Es wäre wichtig gewesen, den Markenkern Friedenspolitik in eine potentielle Koalition mit den Grünen und der SPD einzubringen, statt ihn vorher zu zerstören. Es ist doch klar zu erkennen, dass zum Beispiel die SPD ihren Absturz auf 1/3 bis die Hälfte ihres früheren Wählerpotenzials zum einen der Abkehr von einem klaren sozialen Profil und zum anderen ihrer Abkehr von der Friedenspolitik „verdankt“. Außerdem ist klar erkennbar, dass die Grünen mit der Abkehr von der ursprünglichen Verbundenheit mit der Friedensbewegung die Öffnung der CDU und CSU für eine schwarz-grüne Koalition erreicht haben. Wer also meint, mit der Abkehr von der unbedingten Friedenspolitik etwas gewonnen zu haben, täuscht sich doppelt. Erstens ist damit die potentielle Mehrheit futsch und zweitens erleichtert man damit den Grünen den Sprung ins Bett der Union.

Schon jetzt sieht es düster um die Mehrheitsfähigkeit einer rot-grün-roten Koalition aus. Schauen wir mal auf die aktuellen Umfragen:

Quelle: wahlrecht.de

Bei den drei neuesten Umfragen erreicht diese potentielle Koalition zwischen 41 und 43 %. Das ist ungefähr genauso viel, wie eine schwarz-gelbe Koalition erreichen würde: 41,5, 41 und 42,5 Prozent.

Beiden potentiellen Koalitionen reicht das nicht zur Mehrheit. Mit der AfD wollen sie nicht koalieren. Also bliebe unter den herrschenden Verhältnissen nur die Fortsetzung der Koalition aus CDU/CSU und SPD oder einer schwarz-grünen Koalition oder einer schwarz-grün-gelben Koalition.

Die Koalition, derentwegen nach der Empfehlung von Gysi und Bartsch die Linkspartei einen ihrer Markenkerne aufgeben soll, ist also jetzt schon weit entfernt von der Mehrheitsfähigkeit. Nach meiner Einschätzung wird diese Mehrheitsfähigkeit noch weiter schwinden, wenn die Friedenspolitik nicht eines der zentralen Themen der Profilierung sowohl der Linkspartei als auch einer potenziell neuen Koalition unter ihrer Beteiligung wird. Dann wählen die Leute das Original – und dieses Original der Beteiligung an militärischen Interventionen bekommen die Wähler am ehesten durch Schwarz und durch Grün.

Die Strategie der Linkspartei müsste ganz anders aussehen: Sie müsste mit einer klaren Position gegen die neue Konfrontation in Europa, gegen die Konfrontation mit Russland und mit einer klaren Position gegen das Zündeln im Verhältnis zu China in die Wahl-Auseinandersetzung gehen und vorher und während des Wahlkampfes die Führung der SPD wie der Grünen bei diesem Thema stellen. Dabei hätte sie im jetzigen Vorsitzenden der SPD-Bundestagsfraktion Rolf Mützenich sogar noch einen SPD-internen Unterstützer. Diese Chance sich entgehen zu lassen und stattdessen sich anzupassen, ist eine himmelschreiend falsche Strategie.

Unser Leserbriefschreiber Peter Dodel fragt in seinem 1. Satz: ‚Habt ihr in den NachDenkSeiten eigentlich schon mal was vom Prinzip „kleineres Übel“ gehört?‘. Ja, das haben wir. Wir haben allerdings auch schon etwas von klugen Strategien gehört, mit denen man Wählerinnen und Wähler gewinnt und ihr Vertrauen erhält.

Anhang: Leserbrief zu dem Artikel „Auslandseinsätze beenden – Rüstungsexporte verbieten“ in den NDS vom 01.09.2020
 
Lieber Albrecht Müller:

Habt Ihr in den NachDenkSeiten eigentlich schon mal was von dem Prinzip „kleineres Übel“ gehört?

Eine grün/rote/dunkelrote Regierung wäre doch sicher das kleinere Übel gegenüber einem schwarzen Bundeskanzler, auch wenn dann die Linken einige ihrer Grundprinzipien aufgeben oder abschwächen müssten. Wahrscheinlich gäbe es dann zumindest weniger Auslandseinsätze der Bundeswehr und weniger Rüstungsexporte! Außerdem bekämen wir dann wahrscheinlich endlich wieder eine Vermögenssteuer und schärfere Geschwindigkeitsbegrenzungen.   

Ähnliches gilt übrigens auch für die US- Wahlen: Eine Biden/Harris- Regierung wäre sicher ein kleineres Übel gegenüber nochmal Trump, auch wenn Mrs. Harris sicher nicht das Gelbe vom Ei ist.

Peter Dodel, Rhodt


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