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Titel: Covid-19-Daten – Wie viele Infektionen gab es im Frühjahr?

Datum: 19. Oktober 2020 um 12:39 Uhr
Rubrik: Aktuelles, Audio-Podcast, Gesundheitspolitik, Strategien der Meinungsmache
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Die täglich verkündeten Corona-Neuinfektionen seien – so hört man es immer wieder – Rekordwerte, größer als zum Höhepunkt der „ersten Welle“ im Frühjahr. Schon wird laut über einen zweiten Lockdown nachgedacht. Die Frühjahrsdaten werden dabei als Bezug genommen. Die aktuellen Zahlen der schweren Verläufe und Todesfälle sind jedoch deutlich geringer, als man es auf Basis dieser Daten erwarten müsste – und dies europaweit. Das ist nicht einmal erstaunlich, sind die Frühjahrswerte doch mit sehr vielen Fragezeichen versehen. Wenn man sich die Daten genauer anschaut und daraus die richtigen Schlüsse zieht, relativiert sich das Bild und die Frage nach einem zweiten Lockdown wirkt auf einmal deplatziert. Von Jens Berger.

Dieser Beitrag ist auch als Audio-Podcast verfügbar.

Am letzten Samstag vermeldete das Robert Koch-Institut 7.830 neue bestätigte Fälle von Covid-19 – mehr als zum Höhepunkt der Frühjahrswelle am 3. April, als 6.174 neue bestätigte Fälle vermeldet wurden. Direkt vergleichbar sind diese beiden Zahlen jedoch nicht. In der ersten Aprilwoche wurden unter strengen Kriterien 408.348 Tests durchgeführt, von denen 36.885 (also 9,03%) positiv ausfielen. In der letzten Kalenderwoche wurden mit 1.167.428 fast dreimal so viele Tests durchgeführt, von denen 29.003 positive ausfielen (also 2,48%). Oft wird von Seiten der Kritiker eingewandt, man teste heute zu viel. Darüber ließe sich diskutieren. Wenn es um die Stichhaltigkeit und vor allem Vergleichbarkeit der Daten geht, stellen jedoch die wenigen Tests aus dem Frühjahr das größere Problem dar.

Dies wird deutlich, wenn man versucht, die Sterblichkeit von Covid-19 einzuordnen. Hier markierte der 16. April mit 315 Verstorbenen den Höhepunkt. Während der Frühjahrswelle kamen im Schnitt auf 1.000 Neuinfektionen 128 Todesfälle. Die Sterberate ist seitdem rückläufig und seit Sommer kommen im Schnitt auf 1.000 Neuinfektionen gerade einmal vier Todesfälle. Dies ist kein rein deutsches Phänomen. In ganz Europa ist ein massiver Rückgang zu beobachten. Erklärungen dafür gibt es viele. Das geht vom Fortschritt der Behandlung bis zu einer möglichen Abschwächung des Virus. Die beliebteste Erklärung ist, dass sich im Sommer halt weniger Alte und Vorerkrankte angesteckt haben. Wenn man sich nur die offiziellen Zahlen anschaut, ist dieser Trend in der Tat zu beobachten. Aber warum sollen sich im März mehr Alte und Vorerkrankte angesteckt haben? Ist deren soziale Mobilität im Winter größer? Wohl kaum. So richtig überzeugend ist keine der Erklärungen und die wahrscheinlichste Erklärung ist eher, dass die Zahlen aus dem Frühjahr schlichtweg falsch sind.

Dass es im Frühjahr eine hohe Dunkelziffer bei den Neuinfektionen gab, wird auch nirgends ernsthaft bestritten. Erstaunlicherweise hält sich jedoch die wissenschaftliche Neugier, den Nebel zu lichten, in Grenzen. So startete die „große“ Antikörperstudie des Robert Koch-Instituts erst vor wenigen Tagen – doch die messbaren Antikörper sind mehrere Wochen nach der Infektion oft nicht mehr mit herkömmlichen Tests feststellbar und so wird die echte Zahl der Infektionen im Frühjahr wohl nie präzise bestimmbar sein. Ein wenig Klarheit könnte da jedoch eine Überschlagsrechnung bringen.

Dabei betrachte man die Sterblichkeitsrate[*]. Die berechnet sich aus der Zahl der Todesopfer, geteilt durch die Zahl der Infizierten. Während die Zahl der Todesopfer aufgrund der einschlägigen Symptome vergleichsweise geringe Fehler aufweisen dürfte, ist die Zahl der Infizierten vor allem für das Frühjahr eine sehr fehleranfällige Größe. Es wurde wenig getestet und da die Krankheit bei den meisten Menschen außerhalb der Risikogruppen sehr milde verläuft, dürften die meisten Infizierten im Frühjahr keinen Grund gesehen haben, sich testen zu lassen. Wer hat im Frühjahr schon ein Kratzen im Hals oder eine leichte Erkältung mit der „tödlichen“ Corona verbunden? Wenn man das Ergebnis (Sterblichkeitsrate, CFR) als bekannt annimmt, und der Zähler (Todesopfer) ebenfalls bekannt ist, kann man schätzungsweise auch den Nenner (Infizierte) bestimmen. Methodisch sinnvoll ist es hierbei, die Daten der Todesopfer um 18 Tage zeitlich zu versetzen, da zwischen Infektion und Tod im Schnitt genau dieser Zeitraum vergeht.

Wenn man beispielsweise für den 16. April nach diesem Schema vorgeht, kommt man bei einer Sterblichkeitsrate von 0,5% und 214 Todesfällen (im 7-Tages-Schnitt) bei den Neuinfektionen für diesen Tag auf ein Ergebnis von 42.700. Sollte die Sterblichkeitsrate also über die Zeit halbwegs konstant gewesen sein – was (s.o.) zumindest nicht unwahrscheinlich ist – hatten wir Anfang April nicht wie offiziell angegeben zwischen 4.000 und 6.200 Neuinfektionen pro Tag, sondern mehr als 40.000. Anders sind die vergleichsweise hohen Todeszahlen kaum zu erklären. Überträgt man diese Rechnung auf die vorhandenen offiziellen Daten des Robert Koch-Instituts, kommt man auf folgenden Verlauf:

Wie man anhand der Grafik deutlich erkennen kann, sinkt die Differenz zwischen den anhand der Sterblichkeitsrate errechneten und den offiziellen Zahlen der Neuinfizierten ab Mai deutlich und ist ab Juli nahezu verschwunden. Dies ist vor allem eine Folge der nun massiv ausgeweiteten Tests und der ordentlichen Verfolgung der Infektionsketten durch die Gesundheitsämter. Die Dunkelziffer nahm ab, die offiziellen Daten sind realistischer und bilden das reale Infektionsgeschehen seitdem offenbar besser ab. Anhand dieser Rechnung haben sich übrigens bereits fast zwei Millionen Menschen in Deutschland mit Covid-19 infiziert.

Wie sieht es in Europa aus?

Deutschland ist mit diesem Phänomen übrigens keinesfalls alleine. In nahezu allen europäischen Ländern, in denen seit dem Frühsommer ausgiebig und vergleichsweise zielgenau getestet wird, sind die Zahlen vergleichbar.

So hatte Italien im Frühjahr eine Sterblichkeitsrate von 14,6% – heute sind es nur noch 0,6% und trotz massiv gestiegener Neuinfektionen steigt die Zahl der Todesfälle nur leicht. Hier muss man sogar davon ausgehen, dass die reale Zahl der Neuinfektionen im Frühjahr bei mehr als 100.000 pro Tag lag.

Kaum anders sieht es in Frankreich aus. Dort liegt die Sterblichkeitsrate zur Zeit bei rund 0,5% und da die „Herbstwelle“ in Frankreich schon länger läuft, erkennt man hier auch, dass die Sterblichkeit trotz stark gestiegener Neuinfektionen auch nach Ablauf einer unterstellten Krankheitsdauer der neu Infizierten konstant bleibt.

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Ein wenig höher fällt die Sterblichkeitsrate in Großbritannien aus, wo sie zur Zeit bei 0,7% liegt. Unklar ist, ob hier weniger getestet oder das Gesundheitssystem schlechter als in anderen Ländern und damit für einen Teil der Verstorbenen verantwortlich ist. Jedoch sind auch die britischen Werte sehr deutlich unter denen aus dem Frühjahr und kein Grund, in Panik zu verfallen.

Besonders deutlich wird dies in Belgien, dem Land, das im Frühjahr die relativ höchsten Todeszahlen in der EU zu vermelden hatte. Heute liegt die Sterblichkeitsrate in Belgien auf niedrigem deutschen Niveau, wobei jedoch auch die Infektionszahlen fünfmal so hoch sind wie im Frühjahr. Die Zahl der Todesopfer liegt jedoch um den Faktor acht unter den Zahlen aus dem Frühjahr.

Der einzige Ausreißer in der Gruppe der untersuchten Länder ist Spanien. Dort liegt die Sterblichkeitsrate heute mit 1,2% rund doppelt so hoch wie in den anderen Ländern. Auch hier ist jedoch ein sehr deutlicher Rückgang zum Frühjahr festzustellen und auch hier stehen die Todeszahlen im Verhältnis zu den Infektionen in einem massiv besseren Verhältnis zum Frühjahr.

Die Frühjahrswelle war massiv

Überträgt man die Beobachtung für Deutschland auf die anderen Länder, kann man auch hier nur zu dem Schluss kommen, dass die echten Infektionszahlen aus dem Frühjahr sehr deutlich über den jeweils offiziell angegebenen Zahlen lagen. Die „Frühjahrswelle“ war also mit großer Sicherheit wesentlich massiver als die bisherigen Entwicklungen im Herbst. Anders lassen sich die niedrigen Zahlen der schweren und tödlichen Verläufe kaum erklären.

Wichtig wäre es daher, die Krankheit auf Basis dieser Vermutungen neu zu bewerten. Sämtliche politischen Bewertungen fußen einzig auf der Zahl der Neuinfektionen, die ihrerseits mit den Zahlen aus dem Frühjahr in den Kontext gesetzt wird. Dies ist aber nicht zweckdienlich. So hatten die deutschen Krankenhäuser zum Höhepunkt der „Frühjahrswelle“ 2.850 mit Covid-19-Patienten belegte Intensivbetten, während zu diesem Zeitpunkt 9.240 Intensivbetten freistanden. Die Kapazitätsgrenze war also nicht einmal angekratzt und dies nicht etwa bei 6.200 Infektionen pro Tag, sondern, wie die Überschlagsrechnung nahelegt, bei wohl mehr als 40.000 Infektionen pro Tag.

Wer einen zweiten Lockdown oder sonstige weitere Verschärfungen der Maßnahmen ins Spiel bringt, muss die massiven Nebenwirkungen und Kollateralschäden solcher Schritte in ein sinnvolles Verhältnis zu den Folgen setzen, die man damit abwenden will. Der Zahlenvergleich zeigt, dass sowohl die Folgen für Leib und Leben als auch die damit natürlich verbundenen Folgen für das Gesundheitssystem weder beim aktuellen, noch beim realistisch in den nächsten Wochen zu erwartenden Infektionsgeschehen ernsthaft so groß sind, als dass man damit die sozialen, ökonomischen und psychologischen Schäden eines Lockdowns begründen könnte.

Die Grippewelle 2017/2018 hat – bei rund acht Millionen Infizierten – schätzungsweise 25.100 Menschenleben gefordert – bei rund sechs Monaten Infektionszeitraum waren dies im Schnitt 138 Todesfälle pro Tag. An Covid-19 sterben zur Zeit im Schnitt 22 Menschen pro Tag. Setzt man die Sterblichkeitsrate von 0,5% an, müssten sich jeden Tag 27.600 Menschen neu infizieren, um auf die Sterbezahlen der Grippewelle 2017/2018 zu kommen. Und damals dachte verständlicherweise niemand über Maßnahmen oder gar einen Lockdown nach. Auch wenn Vergleiche zwischen Covid-19 und der Grippe oft tendenziös und fragwürdig sind – diesen Vergleich sollte die Politik vielleicht einmal sacken lassen.

Titelbild: WHO


[«*] Im Artikel ist Sterblichkeitsrate mit dem Fall-Verstorbenen-Anteil (engl. Case Fatality Rate, CFR) gleichgesetzt, da es hier um laborbestätigte Fälle geht. Die Sterblichkeitsrate auf Basis der Infizierten (Infizierten-Verstorbenen-Anteil, engl. Infection Fatality Rate, IFR) ist eine andere Größe, bei der nicht die laborbestätigten Fälle, sondern die Gesamtzahl der Infizierten (also inkl. Dunkelziffer) im Nenner steht. Diese Zahl ist kleiner und gibt die realistische Wahrscheinlichkeit für den Bevölkerungsschnitt an, an einer Krankheit zu sterben. Metastudien haben die IFR sogar recht genau für verschiedene Gruppen nach Alter, Geschlecht und Vorerkrankung beziffert:

Sterblichkeit nach Alter, Geschlecht und Vorerkrankung. Quelle: Predicted COVID-19 Fatality Rates Based on Age, Sex, Comorbidities, and Health System Capacity – Center for Global Development, Working Paper 535 June 2020


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