NachDenkSeiten – Die kritische Website

Titel: Bolivien nach der Amtsübernahme Luis Arces – Die Szenerie und die Akteure des Lithium-Krimis

Datum: 22. November 2020 um 11:45 Uhr
Rubrik: Audio-Podcast, Innere Sicherheit, Länderberichte, Ressourcen, Wahlen, Wirtschaftspolitik und Konjunktur
Verantwortlich:

Nach seinem spektakulären Wahlsieg am vergangenen 18. Oktober wurde der Ökonom, langjährige Wirtschaftsminister und Hauptverantwortliche für den Wirtschafts- und Sozialboom der Regierung Evo Morales, Luis Arce, knappe drei Wochen später, am vergangenen 8. November, mit seinem Vize und ehemaligem Außenminister David Choquehuanca vereidigt. Ein Bericht von Frederico Füllgraf.

Dieser Beitrag ist auch als Audio-Podcast verfügbar.

Der offiziellen Zeremonie am Sitz des bolivianischen Parlaments war das spirituelle Ritual der Amautas – aus dem Quechua: hamawt’a: „geistiger Führer“, „Gelehrter“ – vorausgegangen, die getreu alter Inka-Tradition mit Litaneien und einem Feuer zur Huldigung der guten Geister Arce und Choquehuanca den symbolischen Herrschaftsstab überreichten. Auf den Straßen von La Paz und des bolivianischen Hinterlandes feierte die Bevölkerung Arces Amtseinführung mit freudigen Tänzen, Umzügen und Veranstaltungen sozialer Bewegungen. Insbesondere freute sich die indigene Bevölkerung, dass trotz des gewaltsamen Putsches vom 12. November 2019 der in der Verfassung verankerte plurinationale Staat – also die ethnische Diversität und ihr Rechtsanspruch – mit Arces Wahlsieg gerettet werden konnte.

Die Feiern setzten sich auch am Montag, dem 9. November, fort, als der gestürzte und seit einem Jahr im argentinischen Exil lebende Ex-Präsident Evo Morales vom argentinischen Präsidenten Alberto Fernández bei Quiaca über die Grenze nach Bolivien eskortiert und dort von einer beeindruckenden Menschenmasse empfangen wurde. Mit Verlaub für die Redundanz, Bolivien hat in diesen Tagen vielfache Gründe zum Feiern.

Doch Arce und seine Regierung haben auch Gründe zur Sorge. Kurz nach seinem Wahlsieg brachen in der konservativen Hochburg Santa Cruz Krawalle mit Straßensperren gegen die Anerkennung seines Wahlsieges aus, die vom Putschführer gegen Morales und Arce-Wahlherausforderer Luis Fernando Camacho angeheizt wurden. Wenige Tage darauf verübten am vergangenen 5. November rechtsradikale Banden in La Paz einen schweren Sprengstoff-Anschlag auf das zentrale Wahlkampagnenbüro von Arces Partei „Bewegung zum Sozialismus“ (MAS), dem der frischgewählte Präsident und seine Mitarbeiter nur um ein Haar entkamen, weil die Sprengstoffzündung versagte.

Die beiden Episoden signalisieren, dass Arce ohne eine rigorose politische Säuberung und Demokratisierung von Polizei, Militär und Geheimdiensten – sprich, des gesamten Staates – mit keinem Einlenken auf sein Versöhnungsangebot rechnen kann und mit harter Hand regieren muss. Wird er also den Mut zum Durchgreifen haben?

Allerdings wird Arces Machtantritt von einem anspruchsvollen Regierungsplan angeregt, nämlich von der Devise von Evo Morales, Bolivien zur „Weltmetropole des Lithiums“ auszubauen.

Der Schwur von Uyuni: Arces Lithium-Pläne

„Das Ziel des Staatsstreichs war die Beschlagnahme des Lithiums, das den Bolivianern gehört und bleiben wird. Wir werden sicherstellen, dass unsere natürlichen Ressourcen nicht in die Hände transnationaler Unternehmen gelangen. Wir werden das Heimatland, die Demokratie und die Regierung für das Volk wiederherstellen“, erklärte ein kämpferischer und umjubelter Luis Arce Catacora während einer Wahlkundgebung Anfang Oktober am Salar (Salzsee) Uyuni.

Der Uyuni, auch Salar de Tunupa genannt, liegt auf dem südwestbolivianischen Hochplateau auf 3.653 Metern über dem Meeresspiegel und ist mit rund 10.500 Quadratkilometern die größte „Salzpfanne“ der Erde. Sie birgt schätzungsweise 10 Milliarden Tonnen Salz. Vor 40.000 bis 25.000 Jahren bildeten sich hier aufgrund der Verdunstung mehrere Seen. Das Uyuni-Salz besteht aus 11 Schichten, zusammen haben sie eine Dicke von 2 bis 10 Metern.

Der Salzsee ruht auf der Grenzlinie zwischen den Regierungsbezirken Oruro und Potosí. Die Hauptstadt des Letztgenannten schwingt selbst 500 Jahre nach seiner Eroberung durch Spanien als warnende Metapher kolonialer Ausplünderung in der Erinnerung von Arces überwiegend indigenen Wählern mit und diente dem verstorbenen uruguayischen Schriftsteller Eduardo Galeano als symbolträchtige Inspiration für seinen Buchklassiker „Die offenen Adern Lateinamerikas“.

Im „Cerro Rico“, dem „Reichen Berg“ Potosís, sollen von den spanischen Conquistadoren 8.000 Tonnen Silber zum heutigen Wert von umgerechnet 50 Milliarden US-Dollar geplündert worden sein. Die Silberadern finanzierten einen großen Teil des Haushalts der spanischen Krone und brachten Madrid zur architektonischen Blüte. Die Plünderung forderte zudem einen „Aufpreis“: Mindestens 15.000 versklavte Indianer stieß die brutale Zwangsarbeit in den Tod. Doch das Schaudern vor der finsteren Geschichte ist nur eine Momentaufnahme für hunderttausende Touristen aus aller Welt, die beim Anblick des rund 150 Kilometer von Potosí gelegenen Uyuni staunend aufatmen. Am empfehlenswertesten von Anfang März bis Mitte April, wenn durch die Oberflächen-Spiegelung des Salzsees Himmel und Erde miteinander verschmelzen; ein natürliches Phänomen, das auftritt, wenn das Wasser die Salzoberfläche durchdringt und dem darüber aufgespannten, blauen Himmel den „weltgrößten Naturspiegel“ vorhält.

„Nie wieder Potosí!“, heißt es seit der Unabhängigkeit Boliviens und die Devise gilt neuerdings dem „weißen Gold“ Lithium, einem der weltweit begehrtesten Rohstoffe. Zwischen 40 und 50 Prozent der weltweiten Lithium-Vorkommen lagern in den bolivianischen Salzseen. Lithium soll den Kampf gegen den Klimawandel, für Elektro-Mobilität, jedoch durch die Hintertür auch die Kriegsindustrie bedienen. Der Rohstoff wird unter anderem zur Herstellung von Akkus und Batterien für Mobiltelefone, Elektroautos, in Medikamenten für psychische Erkrankungen wie Depressionen, aber auch in der Atomindustrie, ja selbst bei der Herstellung von Massenvernichtungswaffen wie der Wasserstoffbombe verwendet. Der Bedarf wächst exponentiell und mit ihm der Druck auf die Rohstoffbesitzer-Länder wie Bolivien, Argentinien und Chile.

„Wir werden Bolivien zur Lithiumhauptstadt der Welt machen. Und dafür haben wir einen Industrialisierungsplan nicht nur für Batterien, sondern für 41 neue Produkte, die aus Lithium gewonnen werden, um Arbeitsplätze zu schaffen und Einkommen zu fördern“, prophezeite Arce.

Des Präsidenten industrie-politischer Kurs beruht auf drei unabdingbaren Bedingungen: die Wahrung nationaler Souveränität über die Bodenschätze, Mehrheitsbeteiligungen des Staates an Bergbauunternehmen, verarbeitender Industrie und Joint-Ventures mit transnationalen Unternehmen bei Betonung eines genuinen Technologie-Transfers. Dieser Kurs begann im Jahr 2007, als die Regierung eine Gruppe von Technikern mit dem Entwurf eines Pilotprojektes zur Industrialisierung und Wertschöpfung statt des Lithium-Exportes beauftragte, der Bodenschatz- und Handelswaren-Besitzer immer zu Verlierern im internationalen Handel verdammt.

So soll nach Arces Überlegungen der geplante Lithium-Boom insgesamt 130.000 – 25.000 direkte und 105.000 indirekte – Arbeitsplätze schaffen, der unter anderem 14 Industrieanlagen für die Batterie-Herstellung und Solarenergie-Speicherung umfasst. Vorrangigstes Ziel ist die schrittweise Steigerung der Lithiumförderung und -verarbeitung von 15.000 Tonnen im Jahr 2023 auf 100.000 Tonnen im Jahr 2030, mit einer jährlichen Gewinnausschüttung von 5 Milliarden US-Dollar an die Staatskassen, und von dort wiederum in umfassende Sozialprogramme. Gemessen am Bruttoinlandsprodukt (BIP) des Landes von rund 42 Milliarden US-Dollar, handelt es sich um erhebliche Finanzressourcen.

Indes scheute die MAS-Regierung von Evo Morales in den letzten Jahren kein Engagement und investierte schätzungsweise 2 Milliarden US-Dollar in Forschung und Entwicklung, Elektrizität und zivile Infrastruktur rund um den Uyuni-Salzsee, doch dann trieb der Putsch vom 9. November 2019 Sand ins Getriebe des Lithium-Traums. Genauer: Der Sand war bereits Monate zuvor im Regierungsbezirk Potosí aufgewirbelt worden.

Die internationalen Protagonisten des Lithium-Puzzles in Bolivien

Eine kurze Rückblende erklärt Arces Ernst in der Sache.

Seit 2016 bestand ein Partnerschaftsvertrag mit dem chinesischen CAMC-Konzern, der auf dem Salar de Uyuni Kaliumchlorid fördert. Im Jahr 2017 wurde unter Aufsicht des bolivianischen Energieministeriums der staatliche Konzern Yacimientos de Litio Bolivianos (Bolivianische Lithiumvorkommen, Akronym YLB) für die Lithiumverarbeitung gegründet. Dem schlossen sich öffentliche Ausschreibungen des YLB für acht internationale Unternehmen für die Lithiumförderung an, darunter allein fünf chinesische.

Im April 2018 wurde bekannt, dass das mittelständische deutsche Unternehmen ACI-Systems – eine Solarenergie-Firma aus Zimmern ob Rottweil, die unter anderem Batterien für den US-amerikanischen Tesla-Konzern Elon Musks herstellt und von ihrem Eigentümer, dem Honorar-Professor an der Universität Erlangen-Nürnberg, Wolfgang Schmutz, als „Think-Tank für Geschäftsmodelle“ beschrieben wird – die Ausschreibung gewonnen hatte. Entscheidend für den Vertrag mit YLB war jedoch, dass ACI-Systems im Bund mit der thüringischen K-UTEC AG Salt Technologies auftrat, die das Know-How für die Solebehandlung des Uyuni und die Lithiumgewinnung besaß, sowie mit der Fraunhofer Gesellschaft und dem Verband Deutscher Maschinen- und Anlagenbau (VDMA).

Die chinesischen Unternehmen waren allerdings auch an einer Ausweitung der Kalium-Partnerschaft interessiert, um den großen chinesischen Bedarf nach Lithium zu decken. So kam es zu einem zweiten strategischen Vertrag, diesmal zwischen YLB und der chinesischen Xinjiang TBEA-Group Baocheng, mit der Installation neuer Lithiumcarbonat-Verarbeitungsanlagen um die Salznäpfe von Pastos Grandes und Coipasa von Potosí und Oruro mit einer beachtlichen Investition von 2,4 Milliarden US-Dollar und einem 51-prozentigen Anteil von YLB.

Das chinesische Projekt umfasst den Bau von fünf Anlagen, in denen 146.000 Tonnen/Jahr metallisches Lithium, Lithiumhydroxid, Borsäure, reines Bromid und Natriumbromid hergestellt werden sollen. Liang Yu, der chinesische Botschafter in La Paz, redete Klartext: „Wir wollen die Industrialisierung von Unternehmen der Metallurgie und Chemie unterstützen und dazu beitragen, den Energie- und Industrietraum Boliviens zu verwirklichen. Bis 2025 wird China jährlich 800.000 Tonnen Lithium benötigen.“ Das Unternehmen sollte planmäßig 2021 den Betrieb aufnehmen, doch der Putsch vom November 2019 funkte auch hier dazwischen. Genauer genommen legte er zunächst die gesamte Lithium-Industrie Boliviens lahm.

Mitte Juli 2019 stieg auch Russland in das südamerikanische Lithium-Geschäft ein. Während eines Staatsbesuchs in Moskau unterzeichneten die Präsidenten Evo Morales und Wladimir Putin eine Reihe von Kooperationsvereinbarungen mit Fokus auf die Energiebranchen beider Länder. Der russische Staatskonzern Gazprom beschloss Investitionen in Höhe von 500 Millionen US-Dollar zur Expansion der Öl- und Gasindustrie Boliviens, des Weiteren bot Russland Technologietransfer zur Entwicklung der bolivianischen Lithiumindustrie an und unterstützte den Ausbau des Kernforschungszentrums und des Technologiezentrums von El Alto, das bereits im Jahr 2016 Gegenstand einer Vereinbarung mit Rosatom war und 2021 in Betrieb gehen sollte. Im darauffolgenden Oktober 2019 weitete Rosatom seine Lithium-Interessen nach Chile aus. Uranium One, Rosatoms Bergbauunternehmen, unterzeichnete ein Memorandum of Understanding mit Kanadas Wealth Minerals, womit der russische Konzern 51 Prozent an einem 46.200 Hektar großen Lithiumprojekt in der Atacama-Wüste erwarb.

Es liegt nahe, dass das Lithium-Interesse und die Sorge um den Weiterbestand des Nuklearvertrags denn auch die ausschlaggebenden Gründe der russischen Diplomatie waren, trotz milder Kritik am Staatsstreich gegen Evo Morales, nicht – wie Argentinien, Mexiko oder Kuba – das Regime der De-facto-Präsidentin Jeanine Añez politisch zu isolieren. „Sie wird eindeutig als Boliviens Staatschefin angesehen werden, bis die Frage eines neuen Präsidenten mit den Wahlen gelöst ist“, erklärte der stellvertretende russische Außenminister Sergei Riabkov bereits Mitte November 2019.

Die deutsche Lobby und der ACI/YLB-Vertrag

Zweite Rückschau. Im Oktober 2018 unterzeichneten die für das Bolivien-Geschäft umbenannte ACISA und YLB ein Übereinkommen zur Herstellung von Lithiumhydroxid mit einem Investitionsvolumen von rund 300 Millionen Euro, an dem YLB mit 51 Prozent und ACI- Systems mit 49 Prozent beteiligt sind. Eine der Vertragsklauseln bestimmt auf bolivianischen Wunsch, dass ein wichtiger Teil des verarbeiteten Lithiums in Bolivien verbleibt. Ein Wagnis und Unding in der internationalen Vertragsszenerie, auf das sich die Regierung Morales einließ, ist, dass das Abkommen eine Dauer von 70 Jahren vorsieht. Doch das Abkommen sieht Investitionen von mindestens 1,2 Milliarden US-Dollar vor, die ACI-Systems niemals bedienen könnte. Es sei denn, mit großzügiger staatlicher Hilfe aus Berlin und von einigen deutschen Landesregierungen.

Indes, wie kam der Vertrag zustande? Das ACI/YLB-Joint-Venture hatte längst vor Unterzeichnung die „große Politik“ von Bund und einigen Ländern als Lobbyisten auf den Plan gerufen. Wie aus diplomatischen und inoffiziellen Quellen durchsickerte, schaltete sich in frühem Stadium die deutsche Botschaft in La Paz ein und bemühte sich um Gespräche mit der Regierung Evo Morales. Das Auswärtige Amt und das Bundeswirtschaftsministerium scheuten sich nicht, die in der Lithiumverarbeitung weitgehend unerfahrene ACI der Regierung Boliviens zu empfehlen; ein Protektionismus, dem sich auch die Landesregierungen von Baden-Württemberg und Thüringen anschlossen. Unter dem massiven Druck war die Reaktion von Präsident Evo Morales im Anfangsstadium eher zurückhaltend. Dennoch gab die politische Lobby nicht nach, sie hatte die deutsche Automobilindustrie im Rücken, deren Ziel es ist, ab 2021 jährlich mindestens 800.000 Fahrzeuge mit Elektroantrieb auf den Markt zu bringen, doch ohne Lithium-Akkus verkäme das Ziel zum Tagtraum.

Dem extra angereisten Feature-Autor Karl Ludolf Hübener gestand ACI-Systems-Manager Stefan Kosel – verantwortlich für „Verkauf und Entwicklung von strategischen Geschäften in Südamerika“ und wohnhaft in Boliviens rechtsradikaler Bastion Santa Cruz – jedoch ein paar markante Einzelheiten. So habe Wirtschaftsminister Peter Altmaier nahezu appellierend Präsident Evo Morales direkt angerufen, um einen Rückzieher zu vermeiden. Die umgekehrt von der Eile der Lithium-Industrialisierung angetriebene Regierung Morales gab nach und unterschrieb das Abkommen in Berlin. Doch die 51 Prozent Anteilsmehrheit von YLB „bedeuten allerdings nicht, dass ACISA mit einfacher Mehrheit überstimmt werden könne … Du musst ja ‘ne Win-Win-Situation schaffen nach dem Motto: Ich möchte das, wir wollen das, ihr wollt das … dass beide Seiten zufrieden sind … Wir bringen Euch eine neue Technologie, wir bringen Euch den Marktzugang nach Europa. 51 Prozent ist richtig, aber für die ganz wichtigen Entscheidungen brauchen die trotzdem immer unsere Zustimmung. Das haben wir deshalb so gemacht, weil wir den Markt bringen, die Technik und natürlich Innovationen auch, da reinbringen … Das heißt, wir kontrollieren die Finanzströme, die Finanzen und die Technik. Das ist ganz klar festgelegt“, verriet Kosel.

So entstanden unter anderem zwei Industrieanlagen – eine zur Herstellung von Kaliumchlorid, die andere zur Erzeugung von Lithiumcarbonat – sowie die Installierung von Verdunstungsbecken mit einer Ausdehnungsfläche von 2.400 Hektar und Batterie-Pilotanlagen. Das staatliche Konzept der „Industrialisierung mit Souveränität“ sollte die für 2020 geplante Jahres-Produktionskapazität von 350.000 Tonnen Kaliumchlorid und 15.000 Tonnen Lithiumcarbonat politisch und technologisch absichern, doch längst vor dem Putsch vom 9. November 2019 meldete sich massiver Widerstand in Potosí.

„Lithium-Putsch“ oder Lithium-Krimi? Der Widerstand in Potosí und Evo Morales‘ gefallener Groschen

Kaum war das ACI/YLB-Abkommen unterzeichnet, forderte ein gewisses „Bürgerkomitee Potosí“ (Comcipo) die „Offenlegung des deutsch-bolivianischen Vertrages zur Kenntnisnahme der Bevölkerung von Potosi und des gesamten bolivianischen Volkes“. Ihr selbsternannter Sprecher Marco Pumari inszenierte gar einen Hungerstreik und wurde von der Polizei festgenommen. Pumari ist ein ehemaliges Mitglied der damaligen und mit Arce zur Macht zurückgekehrten Regierungspartei MAS, driftete jedoch ins rechtsradikale Lager ab und trat bei den jüngsten Präsidentschaftswahlen als Vize des faschistischen Putschführers gegen Evo Morales und Arce-Herausforderers Luis Fernando Camacho auf. Für die Teilnahme an der Wahl forderte Pumari von Camacho 250.000 US-Dollar und im Falle eines Wahlsieges die Kontrolle über zwei Zollabfertigungs-Büros. Der Korruptionsskandal flog bereits im Dezember 2019 auf, doch weder Pumari noch Camacho wurden von der Justiz rechtlich belangt. Bei der Präsidentschaftswahl erlangten sie rund 17 Prozent der Stimmen, Camacho warf nach Morales nun auch Arce „Wahlbetrug“ vor, zog sich jedoch in die rechtsradikale Bastion Santa Cruz zurück.

Der Hauptgrund für die Proteste gegen das ACI/YLB-Abkommen war die angeblich im Vertrag erwähnte Abgabe einer 3-prozentigen Tantieme an den Regierungsbezirk Potosí für Investitionen im Sozialbereich. Ein anderer Aspekt des Vertrages, den Comcipo für unzulässig hielt, ist die Tatsache, dass – wie im Übrigen von Stefan Kosel bestätigt – Minderheitspartner ACI-Systems im fünfköpfigen Verwaltungsrat ein Vetorecht besitzt. Luis Alberto Echazú, langjähriger Minister und zuletzt Vizeminister für Hochenergie-Technologien in der Regierung Evo Morales, widersprach der 3-Prozent-Abgabe. Im vorangegangenen Juli 2019 hatte er versichert, Potosí würde vielmehr 29,79 Prozent der Gewinnausschüttungen aus dem ACI/YLB-Deal erhalten. Doch auch diese Angabe und das damit verbundene Versprechen wurden bis zum Sturz von Evo Morales niemals bestätigt. Also forderte Comcipo eine 11-prozentige Abgabe.

Mitte Oktober 2019 empfingen Präsident Evo Morales und seine Fachminister eine Delegation von Comcipo. „Das Bürgerkomitee hat seine Forderungen zum ersten Mal schriftlich vorgelegt. Wir haben jedes der angesprochenen Themen erhalten und als nationale Regierung werden wir jeden der Punkte bis Mittwochnachmittag oder Donnerstagmorgen beantworten“, erklärte Morales‘ Kabinettschef Diego Pary. Einen Tag darauf erklärte Präsident Morales, die Regierung stimme mit dem Bürgerkomitee zugunsten Potosís überein. Doch Comcipo stellte die Attacken gegen die Regierung nicht ein. Es sei ein erfolgloser Dialog, erklärte sein Sprecher Marco Pumari. Comcipo trete in Alarmbereitschaft und erwarte von der Regierung die Änderung des Lithium-Dekrets 3738, worin das Abkommen ACI/YLB gesetzlich verankert worden war.

Runde zwei Wochen später annullierte Morales kommentarlos das Dekret und der Lithium-Deal mit dem deutschen Unternehmensverbund unter Führung von ACI-Systems sah sich in Seenot. ACI-Chef Wolfgang Schmutz erwischte die Nachricht unter der Dusche. Minister Peter Altmaier schien wie vor den Kopf gestoßen: „Nachvollziehbare Gründe für diese Entscheidung sind der Bundesregierung bisher nicht bekannt.“

Der Strippenzieher hinter dem sogenannten „Bürgerkomitee“ Pumaris war Juan Carlos Zuleta Calderón. Als in den USA graduierter Wirtschaftswissenschaftler und Autor zahlreicher Fachpublikationen fiel Zuleta in den jüngsten Jahren als selbsternannter Lithium-Experte auf. Mit scharfer Kritik an Morales‘ Lithium-Politik im Allgemeinen, insbesondere jedoch gegen das ACI/YLB-Joint-Venture agierte er als „Berater“ des Bürgerkomitees, doch genauer gesehen bediente sich Zuleta der Comcipo-Attrappe für seine Attacken gegen Morales.

Ein interessanter Widerspruch ist wiederum der Umstand, dass der Bolivianer Zuleta Mitglied des wissenschaftlichen Beirats der Lithium-Kommission des Bergbauministeriums der Republik Chile ist. Ein Umstand, der einen heiklen Interessenskonflikt verrät, sind doch beide Länder nicht nur wegen des bolivianischen Anspruchs auf den Meereszugang außenpolitisch im Konflikt, sondern auch harte Konkurrenten im internationalen Lithium-Geschäft. Der Regierungspartei MAS und großen Teilen der Öffentlichkeit gilt Zuleta als „Vaterlandsverräter“. Ihm wird seit 2018 „Boykott bolivianischer Staatsprojekte“ sowie „bezahlte Agententätigkeit für Chile“ vorgeworfen, „weil er für diese Aktivität ein Gehalt von Chile erhält“. Zuleta, so viel ist bekannt, tritt für die privatwirtschaftliche und nichtstaatliche Verwaltung der Lithiumverarbeitung ein.

Die De-facto-Regierung Jeanine Añez schien Zuletas Chile-Verbindungen nicht zu stören. Sie nominierte ihn zum Direktor von YLB, dem bolivianischen Partner von ACI-Systems. Doch Zuleta war gerade im Amt bestätigt, da brachen schon Proteste gegen seine Nominierung aus, diesmal am Uyuni, während Mario Pumari zur „persona non grata“ erklärt wurde. „Chile-Agent“ Zuleta überlebte keine 20 Tage auf seinem Posten und wurde als dritter YLB-Chef seit Añez‘ Amtsübernahme entlassen.

Zu seinen Mutmaßungen gehört der Verdacht, Morales habe ursprünglich dem ACI/YLB-Joint-Venture im Austausch für Zuspruch und potenzielle Mitfinanzierung des virtuosen bi-ozeanischen Eisenbahnprojekts durch die Regierung Angela Merkel zugestimmt, das der ehemalige Präsident seit Jahren als logistischen Knüller zur Zugverbindung zwischen Atlantik und Pazifik plant. Als Grund für seine Entlassung erwähnt Zuleta den Druck „einiger Botschaften“ und winkt mit dem Zaunpfahl in Richtung der deutschen Vertretung in La Paz. Über Zuletas Umtriebe kein Wort in Hübeners WDR-Feature, auch nicht in der bemühten und von der Oxford-Stiftung finanzierten taz-Reportage Lithiumgewinnung in Bolivien: Alles auf Weiß vom September 2020.

Minister Altmaiers Satz, „nachvollziehbare Gründe für diese Entscheidung (Anm.: die Vertragskündigung durch Evo Morales) sind der Bundesregierung bisher nicht bekannt“, darf als lächerlich oder gar zynisch gewertet werden. Ähnliche Ausweichmanöver prägen die Stellungnahmen von ACI-Systems. Auf Anfrage des Autors über die Rolle Marco Pumaris bei den Attacken gegen den Vertrag erklärte ACI-Pressesprecherin Doris Schulz, „als ausländisches Unternehmen haben und werden wir uns nicht in politische Vorgänge in Bolivien einmischen. Dazu sind uns keine Einzelheiten bekannt“. Geradezu lachhaft mutet Schulz‘ Ausrede an, ACI-Systems kenne die Kritikpunkte Zuletas an dem Joint-Venture nicht: „Seine Gründe dafür sind nicht bekannt. Es wäre daher Spekulation, hier irgendwelche Vermutungen zu äußern.“

„ACISA und seine Partner haben in dieses Projekt sehr viel Zeit, finanzielle Mittel und Knowhow, beispielsweise die Entwicklung eines komplett neuen Prozesses für die Gewinnung von Lithiumhydroxid aus der Restsole …, sowie die Ausarbeitung eines nachhaltigen und sozialverträglichen Konzepts, durch das unter anderem qualifizierte Arbeitsplätze in Bolivien geschaffen werden können, und auch Herzblut investiert. Wir haben daher ein Interesse daran, es auch fortzusetzen“. Gespräche mit der „Interimsregierung von Frau Anez“ hätten stattgefunden, „allerdings mit unverbindlichem Charakter. Denn als Aufgabe dieser Regierung sehen wir die Vorbereitung einer demokratischen Neuwahl, die nach derzeitigem Kenntnisstand für den 18. Oktober 2020 terminiert ist. Sobald die neue Regierung im Amt ist, die Einsetzung ist am 22. Januar 2021 vorgesehen, werden wir das Gespräch mit dieser suchen, um über die Fortsetzung des Projekts zu diskutieren. Selbstverständlich loten wir auch Alternativen in anderen Ländern aus“, schrieb Doris Schulz an den Autor.

Seit Monaten, so viel ist aus inoffiziellen Quellen bekannt, ist der ACI-Beauftragte in Bolivien, Stefan Kosel, im Feld und führt Gespräche mit der Putschregierung und der MAS-Opposition, die das Land ab Januar 2021 wieder regieren wird. Insbesondere suchte Kosel Tuchfühlung zu den Uyuni-Anrainer-Kommunen, um ihre Zustimmung für das festgefahrene Lithium-Projekt auszuloten – und, ja, vielleicht doch auf ihre Forderung nach erhöhten Sozial-Tantiemen einzugehen. Dass diese samt Neubestimmung von Finanzströmen und Sperrklauseln von der neuen Regierung Luis Arce zu erwarten sind, machte sein Wahlauftritt vom Oktober am Uyuni deutlich: „Wir werden sicherstellen, dass unsere natürlichen Ressourcen nicht in die Hände transnationaler Unternehmen gelangen“.

Das konfus anmutende „Skript“ des deutsch-bolivianischen Lithium-Krimis lässt allerdings erkennen, dass es ACI-Systems und Berlin im Grunde egal war und ist, ob Geschäfte mit einer demokratischen Regierung oder einem Putschregime ausgehandelt werden. Hauptsache ist das Geschäft. Das machte exemplarisch Dr. Bernhard Bösl, Landesdirektor Bolivien & Paraguay der Deutschen Gesellschaft für Internationale Zusammenarbeit (GIZ) GmbH, auf Anfrage deutlich. Bösl schrieb:

„So viel kann ich Ihnen aber schon vorab mitteilen: Es gab hier keinen Staatsstreich, sondern nach massiven Wahlmanipulationen in allen Phasen des Wahlgangs (von der Erstellung der Wahlregister bis zur Auszählung) durch die MAS von Evo Morales, die durch die unabhängigen Wahlbeobachter der OAS und der EU bestätigt wurden, kam es zu zunächst friedlichen zivilen Protesten, die schließlich zum Rücktritt und zur Flucht von Evo Morales geführt haben. Gemäß der verfassungskonformen Amtsnachfolge gibt es derzeit eine Übergangsregierung bis zur Wahlwiederholung. Von einem „zivilen Staatsstreich“ (absurde Wortkreation) redet nur Evo Morales.“

Titelbild: Ksenia Ragozina/shutterstock.com


Hauptadresse: http://www.nachdenkseiten.de/

Artikel-Adresse: http://www.nachdenkseiten.de/?p=67105