NachDenkSeiten – Die kritische Website

Titel: Wenn die Herrschenden den Stier an den Hörnern packen und die Linke nicht einmal den Stier sieht

Datum: 26. November 2020 um 8:56 Uhr
Rubrik: Ideologiekritik, Innen- und Gesellschaftspolitik, Soziale Bewegungen, Strategien der Meinungsmache, Wertedebatte
Verantwortlich:

„Wenn bisher unauffällige, „brave“ Bürger einen Ausnahmezustand beklagen und „Linke“ ihn begrüßen, wenn die Suche nach politischen und ökonomischen Bedingungen, in denen Corona wütet, als Verschwörungstheorien verixxxt und die Gegen-Gegen-Demonstrant*innen als „Söders Truppe“ verschrien werden. Wenn Querdenker die Polizei dazu aufrufen, sich anzuschließen und die GegenGegenDemonstranten mit ihnen kooperieren. Wenn Linke „Solidarität statt Verschwörungstheorien“ rufen und man erstere so gar nicht erlebt, nicht einmal im Umgang miteinander, dann darf man ziemlich fassungslos und orientierungslos sein.“ So schreibt es Wolf Wetzel in einem lesenswerten zweiteiligen Debattenbeitrag „Corona Backstage“ für die NachDenkSeiten.

Es war einmal ein König, der gerne ausschweifige und opulente Feste feierte und dabei viel Geld ausgab. Deshalb schickte er seinen Schatzmeister immer wieder los, um noch mehr Geld aus seinen Untertanen herauszupressen. Doch diese waren es leid und der Schatzmeister berichtete seinem König:

„Die Leute wollen nicht mehr Steuern bezahlen, mein König. Das letzte Mal waren sie gar feindlich gesinnt und machten bedrohliche Anstalten.“

Der prall gefüllte, reich geschmückte König schaut ihn ungeduldig und mürrisch an.

„Aber ich will meine Feste feiern. Dann nimm mehr Soldaten mit. Was fällt denen ein. Ich bin ihr König.“

„Mein König, das wird nicht viel bringen. Ich befürchte gar, dass sie aufbegehren werden. Wir müssen uns etwas einfallen lassen.“

Der König dreht an seinen dicken Goldringen und streicht über seinen edlen Rock.

„Du hast doch kürzlich Bären in meinem Königreich gesehen.“

Der Schatzmeister will es wissen: „Mein König, ich verstehe den Zusammenhang nicht. Was hat das … “

„Genug.“ Der König bekommt blutunterlaufene Augen.

„Du gehst los und sagst den Bauern, dass du Bären gesehen hast, die sehr gefährlich sind und ihnen das Letzte nehmen, was sie noch haben.“

Der Schatzmeister schaut seinen Herrn mit zusammengekniffenen Augenbrauen an.

„Du sagst ihnen, dass der König sie beschützen wird, vor den gefährlichen Bären, wenn …

Des Schatzmeisters Augenbrauen glätten sich wieder.

„…wenn sie die geforderten Steuern zahlen. Das wird ihnen ihr Leben wert sein. Los, geh.“

Und siehe da, der Schatzmeister zieht los, kommt mit einer gut gefüllten Schatztruhe zurück und wenn der König nicht gestorben ist, dann gehen diese Feste weiter.

Dass man mit Angst Politik machen kann, ist nicht furchtbar neu. Viele würden diesen Satz sofort unterschreiben. Mit der Angst vor der „kommunistischen Gefahr“ konnte man Jahrzehnte fast alles rechtfertigen, bis hin zu Weltkriegen. Mit der Angst vor Juden, mit der „jüdischen Weltverschwörung“ konnte man sehr viele Menschen auf die Seite derer bringen, die damit die Shoa begründeten. Jedes Mal wurde dies zu „unserem“ Schutz gemacht.

Danach kam die Angst vor der RAF, vor dem „roten“ Terrorismus, der nicht viel später von der Angst vor dem (radikalen) Islamismus abgelöst wurde.

Nicht alle hatten Angst vor dem Kommunismus. Nicht alle hatten Angst vor Juden. Und nicht alle hatten Angst vor der RAF. Es gehörte immer eine gute Portion Dämonisierung dazu, um aus etwas Normalem, etwas Anderem eine tödliche Gefahr zu machen, die man mit „allen“ Mitteln bekämpfen muss. In all diesen Fällen produziert es so etwas wie ein Mỹ-Lai-Syndrom. Um „die“ Vietnamesen“ vor dem „Kommunismus“ zu schützen, befehligte ein US-Offizier 1968, ein ganzes Dorf niederzubrennen, alle Bewohner*innen zu massakrieren.

Mit dem Corona-Virus ist das anders. Vor ihm haben (fast) alle Angst. Auf den ersten und zweiten Blick ist dieses Virus, die Angst vor ihm nicht von Menschenhand gemacht. In einer solchen Situation ist man schnell bereit, alles in die Hand derer zu legen, die uns vor dieser tödlichen Gefahr schützen.

Die genau das versprechen, haben diese besondere Lage durchaus erkannt: Es komme jetzt darauf an, „den Stier an den Hörnern zu packen“, also die Gunst der Stunde zu nutzen.

Woran die „Retter“ dabei denken, und warum die Linke nicht einmal den Stier erkennen will, nicht einmal vor ihm wegrennt, soll dieser Beitrag beantworten helfen.

Im ersten Teil geht es darum, die Reaktionen und Positionen aus der Linken einzufangen und zu analysieren.

Im zweiten Teil geht es darum, die Fragen zu beantworten: Was soll dieser Corona-Wahnsinn? Was hat es mit dem Stier und den Hörnern auf sich? Und was tun (mit und ohne Maske)?

Teil I
Links ist, wo …

Wenn im Folgenden von der Linken die Rede ist, dann wäre eine Begriffsbestimmung hilfreich, denn das, was man unter „links“ versteht, ist in die Jahre gekommen. Die einen halten „links-rechts“ für überholt, die anderen betonen essentielle Grundannahmen, die jedoch kaum noch gemeinsam formuliert und gelebt werden: antikapitalistisch, antiimperialistisch, antisexistisch, antirassistisch … und wenn man antipatriarchal und antiautoritär dazunähme, stünde man bereits auf wackligem Terrain.

Nicht erst heute ist „links“ viel zu oft negativ bestimmt. Bei der Frage: Wie eine Gesellschaft unter linken Vorzeichen aussehen soll, wie man sie erreichen kann, gehen bereits die Antworten weit auseinander.

Ich möchte in diesem Kontext ganz pragmatisch vorgehen und unter Linke all die zusammenfassen, die sich in Corona-Zeiten artikulieren bzw. praktisch in Erscheinung treten: Recht unumstritten kann man die parlamentarische LINKE dazuzählen, die den Corona-Maßnahmen weitgehend zustimmt und sich bei der Selbstentmächtigung des Parlaments „enthalten“ hat. Wie diese Enthaltung verpackt ist, erklärte Andrej Hunko, stellvertretender Vorsitzender der Linksfraktion im Bundestag, in einem Interview mit den NachDenkSeiten vom 22. Mai 2020 so: „Wir waren im Bundestag Ende März gegen die Änderung des Paragraphen 28 der ersten Novelle des Infektionsschutzgesetzes, die die Grundlage vieler Grundrechtseinschränkungen ist. Wir haben uns bei der Gesamtvorlage enthalten, weil da auch dringend notwendige Dinge drin waren, wie etwa die Beschaffung von Atemmasken.“ (Die Linke und die Pandemie: „Die konsequenteste Lockdown-Partei?“) Das kommt der zwielichtigen Haltung der Partei DIE LINKE bei der aktuellen Fassung des Infektionsschutzgesetzes sehr nahe: Man stimmte im Bundestag dagegen und über die Beteiligung an Landesregierungen im Bundesrat zu. Eindeutig ist und bleibt ihre Haltung zu den Krisenkosten: Man möchte sie gerecht verteilt sehen. *

Und dann ist da das schwer zu fassende Feld der außerparlamentarischen Linken – in Corona-Zeiten. Auffällig, auch dank medialer Reflektoren, sind jene, die sich gegen die „Corona-Leugner“ und „Covidioten“ wenden und unter dem Motto: „Mit Abstand gegen rechts“ zu Gegendemonstrationen aufrufen. Sie qualifizieren diesen Protest der „Querdenker“ für ausgemacht rechts. Die meisten Statements halten als Entgegnung die Parole: „Solidarität statt Verschwörungstheorien“ hoch, wobei Solidarität zwischen regierungstreuem „Wir müssen zusammen die Krise meistern“ und Betonung der Krisenopfer chargiert. Im Wesentlichen sind es antirassistische und antifaschistische Gruppierungen und Milieus, die sich in dieser Weise positionieren, ohne genau zu formulieren, worin ihre Opposition zur Großen Koalition besteht und wie sich diese in einer linken Praxis manifestiert.

Neben diesen zwei medial ausgeleuchteten linken Fraktionen gibt es jedoch auch Zusammenschlüssen (wie „Nichtaufunseremrücken“), die sich mit dem Ruf nach Solidarität nicht an Regierungsappelle anschmiegen, sondern sich tatsächlich als Opposition begreifen:

„Wir sitzen alle in einem Boot – Kapitalisten, Bosse und Manager in einem anderen“.

Wenn der (mediale) Eindruck nicht trügt, erfahren diese Gruppen und Zusammenschlüsse zwar schnell ein freundliches Kopfnicken, aber ziemlich wenig Unterstützung. Sie sind nicht hegemonial, sie sind nicht angesagt – was auch für Vor-Corona-Zeiten zutrifft.

Um dies einmal in Zahlen auszudrücken: In Leipzig demonstrierten am 7. November 2020 circa 20.000 Querdenker*innen gegen die Corona-Maßnahmen und auf sieben Gegen-gegen-Demonstrationen mehrere Tausend unter dem Motto: „Impfpflicht für Aluhüte“ oder „Ihr seid nicht der Widerstand – Ihr lauft mit Nazis Hand in Hand“.

Am Aktionstag „Nichtaufunseremrücken“ am selben Tag nahmen ein paar Hundert teil.

Das Kontaktverbot der Linken

Wenn bisher unauffällige, „brave“ Bürger einen Ausnahmezustand beklagen und „Linke“ ihn begrüßen, wenn die Suche nach politischen und ökonomischen Bedingungen, in denen Corona wütet, als Verschwörungstheorien verixxxt und die Gegen-Gegen-Demonstrant*innen als „Söders Truppe“ verschrien werden. Wenn Querdenker die Polizei dazu aufrufen, sich anzuschließen und die GegenGegenDemonstranten mit ihnen kooperieren. Wenn Linke „Solidarität statt Verschwörungstheorien“ rufen und man erstere so gar nicht erlebt, nicht einmal im Umgang miteinander, dann darf man ziemlich fassungslos und orientierungslos sein.

Wenn man die Demonstrationen im Namen des Grundgesetzes und/oder als Querdenker gegen die Corona-Maßnahmen aufruft, dann betonen die daran Teilnehmenden die Vielfalt und die Verschiedenheit der Anliegen, während die am Rand Stehenden vor allem die Neonazis, Reichsbürger und Identitären zählen … und den großen Rest als „Corona-Leugner“ und „Covidioten“ abstempeln, umgeben von freilaufenden, verstrahlten Spinnern.

Wer in Bewegungen aktiv war und diese nicht vom Straßenrand aus beäugte, der weiß, dass man für viele Bewegungen der letzten 40 Jahre sehr ähnliche Charakterisierungen vornehmen könnte: Nehmen wir die Anti-Atombewegung und Friedensbewegung in den 1980er Jahren oder die Startbahnbewegung, gerade in der Anfangszeit. Wer hämisch sein wollte, der sah nur „Peaceniks“, „Körnerfresser“ und „Becquerel-Inis“ (als Antwort auf den Super-GAU in Tschernobyl 1987), die dem weitverbreiteten Glauben nachhängen, dass man „die Politiker“ nur mit besseren Argumenten überzeugen müsse.

Bewegungen sind immer heterogen, verrückt und dissonant, müssen mit diesen Unterschieden und Widersprüchen auskommen und sich mit ihnen verändern. In aller Regel haben sie sich radikalisiert, wenn die Linke nicht zuschaut, sondern sich einmischt.

Und wenn sie dazu mal keinen Bock hat: Was hindert die Linke daran, es ganz arg besser zu machen, anstatt die Zeit damit zu verbringen, den „Falschen“ zu erklären, was sie alles falsch machen?

Der Kampf um die neue/alte Realität

Gehen wir einmal von dem kleinsten gemeinsamen Nenner aus:

Die Demonstrant*innen gegen zahlreiche Corona-Maßnahmen wollen den Kapitalismus zurück, den sie vor dem Lockdown hatten, mit dem sie sich arrangiert haben. Möglicherweise drückt sich das in ganz vielen Slogans aus, die um das Wort „Freiheit“ kreisen, die man zurückhaben möchte, die man mit den Corona-Maßnahmen verloren hat.

Das mag man für einen recht bescheidenen Protest halten – aber man muss ihn deshalb nicht mit einer neonazistischen Demonstration gleichsetzen. Wenn man fair und hoffnungsvoll ist, dann kann man die „Querdenker*innen“ sowohl rechts- wie links-offen verorten. Und wer sich die Geschichte von Bewegungen anschaut, der weiß, dass dies in den allermeisten Bewegungen so der Fall war. Es sei nur daran erinnert, dass sehr viele „links-willige“ Kommentator*innen die „Gelbwesten“bewegung in Frankreich als eine rechte Gefahr bezeichnet haben und nun … ganz still geworden sind (erst recht, was ihre falsche Einschätzung angeht).

Wenn man also von dieser vorläufigen Hypothese ausgeht, dass viele nur eine Rückkehr zu einem Kapitalismus wollen, der denen Spaß verspricht, die es sich „verdient“ haben, dann gibt es doch erst recht keinen Grund zur Überheblichkeit! Denn dann wäre doch die Frage an die Gegen-Gegendemonstrant*innen zu richten: Verharrt ihr nicht auch in einem Status Quo, der die Entscheidungen der Großen Koalition gegen die „QuerdenkerInnen“ verteidigt?

Wem der (verlorene) Spaß am Kapitalismus zu wenig ist – und dafür gibt es allerhand Gründe – der müsste sich und anderen sagen, worum es dann gehen muss!

Was wäre also eine tatsächliche Kapitalismus-Kritik, die die Corona-Zeiten berücksichtigt? Hat die parlamentarische, die außerparlamentarische Linke so etwas wie eine antikapitalistische Kritik, die man – in der Tat – auf den Querdenker*innen-Demos meist nur in sehr homöopathischer Dosis wahrnehmen kann?

Zwei Seiten des Konformismus

Es werden anscheinend viele Parolen auf der „falschen“ Demo (der Querdenker*innen) gerufen: „Niemand hat das Recht zu gehorchen“ … „Wo Recht zu Unrecht wird, wird Widerstand zur Pflicht“. Liegt das nur an verirrten Parolenträger*Innen oder auch an dem Umstand, dass es keinen Widerstand gibt, wo diese Parolen keine (Ent-)Täuschung sind?

Wenn das Rebellentum der Querdenker*innen tatsächlich etwas von einer „konformistischen Rebellion“ hat, die das Versprechen des Kapitalismus eingelöst sehen will und gar nichts gegen den Kapitalismus hat, dann fragt man sich: Wo bleiben, wo sind die Rebellen, die mehr wollen als einen guten, party-tauglichen Kapitalismus?

Zeigen sie sich nicht (vor allem) als Begleitschutz der Großen Koalition?

Das Virus und der linke Konformismus

Wenn Regierung und Regierungswillige zusammen die Corona-Maßnahmen summa summarum, die Suspendierung elementarer Grund- und Schutzrechte für angemessen halten, wenn „Antifaschist*innen“ den Protest dagegen für den falschen halten und sich als politische Ordnungsmacht verstehen, nach Verboten rufen und zu Gegendemonstrationen aufrufen, dann gibt es keine Opposition mehr, sie hat sich aufgelöst. Dann sollte man sich auch nicht beklagen, dass die richtigen Parolen auf den falschen Demos gerufen und gezeigt werden.

In der August-Ausgabe des Monatsmagazins Konkret diagnostiziert der Publizist Felix Klopotek “das Verdämmern linker Kapitalismuskritik in der Coronakrise”. Seine Vorwürfe an die Linken:

„Das Geschäft der einst so verhassten Medien zu betreiben, Leute der Lächerlichkeit preiszugeben, die längst schon lächerlich sind? Den Staatsvirologen Drosten zu verteidigen, auch wenn der nie ernsthaften Gegenwind zu spüren bekam? Die staatskapitalistischen Interventionen mal offen, mal verdruckst zu goutieren, die ohnehin Konsens sind?“ (Felix Klopotek/Konkret 8/2020)

Dem stillen Argument vieler Linker, angesichts der Pandemie sei Kapitalismuskritik nicht mehr so wichtig, entgegnet Klopotek:

„Das Virus ist für große Teile intellektuellen Linken …… eine Ausrede für einen Konformismus, der sich bereits vor der Pandemie entwickelte und mit ihr nicht zum Abschluss kommt.“ (Felix Klopotek)

Ökonomische und politische Herrschaftsstrukturen sichtbar zu machen, ist keine Verschwörungstheorie, sondern eine Grundbedingung für ein linkes Selbstverständnis

Zweifellos findet man wenige Ansätze und Versuche, die Corona-Zeiten staatstheoretisch einzuordnen. Wer verdient an einer Krise? Wem nützt eine Krise? Wer wird die Krise bezahlen? Schützt ein Notstand die Menschen oder das System?

Im Großen und Ganzen macht die Linke auch dazu keine Anstrengungen. Umso mehr stürzt man sich auf das Wenige, was aus Querdenkerkreisen kommt. Dort wird sehr oft Bill Gates im Munde geführt. Ein über 100 Milliarden US-Dollar schwerer Unternehmer, der erst mit Microsoft steinreich geworden ist und nun mit seinem Kapital und seiner Macht auch im Pharmasektor „investiert“ ist. Ein Großunternehmer, der wie der Bundespräsident in der Tagesschau seine Rede an die Nation halten kann, um uns auf die neue Realität einzustimmen.

Dass man das Geschäft mit Corona, also Kapitalinteressen, mit zur Sprache bringt, löste die üblichen Reaktionen in den staatsnahen Medien aus. Das ist nicht neu. Was aber doch besonders ist, dass viele Linke auf dieser Denunziationswelle mitgrooven und sie gelegentlich noch toppen müssen. Da ist dann von Aluhutphantasien die Rede und wer es ganz ultimativ machen will, der löscht die politischen und ökonomischen Zusammenhänge mit Antisemitismus aus.

Dass eine Kapitalismuskritik auch rechts sein kann, steht außer Zweifel. Dass sie jedoch dringend notwendig ist, dass sie zum Grundwerkzeug einer Linken gehören muss, wird gar nicht mehr sichtbar und noch weniger geübt. Das mit dem Üben meine ich wörtlich, denn eine Kapitalismusanalyse schüttelt man nicht aus dem Ärmel und sie kann auch flach und dämlich sein, wenn es Linke versuchen.

Man muss also zu allererst eine Kapitalismusanalyse wagen, sie gemeinsam diskutieren, anstatt die Tür dorthin mit der Aufschrift „Zutritt verboten. Achtung Antisemitismus“ zu versiegeln.

Dass „Bill Gates“ in einer autoritären, reaktionären Kritik für das Böse steht, der das Gute im Kapitalismus in Verruf bringt, ist ein deutliches Merkmal für diese Art der Kritik. In diesem Denken ist Bill Gates ein Exzess, ein schlimmer Auswuchs und nicht das glänzende Ergebnis eines Unternehmens, das die Regeln nicht gebrochen, sondern exzellent angewandt hat. Dazu muss man kein Antisemit sein, denn die Vorstellung von einem „verantwortungsbewussten“ Kapitalismus ist weit verbreitet – und hat auch in der Linken Platz. Dazu später mehr.

Zu einer dezidiert rechten Kritik gehört auch, dass man die Macht, den Einfluss, den Wenige über ganz Viele haben, hinter der Wand von etwas ganz Geheimen sichtet. So wird dann ein „Bill Gates“ zu einem (Allein-)Herrscher, der alle anderen für sich tanzen lässt. Dass dies in ziemlich wirren Zeiten einzigartige Klarheit bietet, ist verlockend, und noch mehr die darin angelegte Lösung: Man muss nur einen „Bill Gates“ beseitigen und alles ist (wieder) gut.

Das nennt man dann auch – zu Recht – eine „verkürzte“ Kapitalismuskritik. Aber wie verkürzt ist es, wenn man die Corona-Maßnahmen und alles, was damit einhergeht, ohne Kapitalismuskritik unterstützt und mitträgt?

All das mehr als schlagwortartig zu belegen, an dem, was „Querdenker“ tatsächlich denken und sagen, ist das eine. Aber was würde eine linke Kapitalismuskritik auszeichnen? Sie würde die realen Herrschaftsverhältnisse nicht verschleiern (wie in einer rechten Kritik), sondern sichtbar und (an-)greifbar machen.

Es ginge darum, die Bedeutung von Bill Gates und seiner Stiftung genau zu benennen. Dabei geht es am allerwenigsten darum, Bill Gates nett, philanthrop oder unsympathisch zu finden. Es geht um die ungeheure Summe, die überall auf der Welt zu einer Macht verhilft, die sich nicht zur Wahl stellen muss, die mit Investitionen und Desinvestitionen mehr erreichen und bewirken kann, als dies geheime Zirkel können.

Zum anderen geht es darum, zu erklären, warum das Geraune von einer im verborgenen agierenden Macht die Herrschaftsverhältnisse nicht aufdeckt, sondern verschleiert. Die „Bill Gates“ dieser Erde brauchen keine Unterwelt, sie sitzen in den Beraterstäben von Regierungen, sie investieren in Think Tanks und NGO’s (Nichtregierungsorganisationen), halten sich Stiftungen, um so auf vielstimmige Weise Meinungshoheit zu schaffen und Entscheidungen in ihrem Sinne zu beeinflussen. Und … um etwas Schwung in unsere Köpfe zu bekommen: Die „Bill Gates“, die mit der ganz großen Agenda unterwegs sind, die Welt besser machen wollen, sitzen nicht im Untergrund, sondern in unseren Köpfen. Das ist der sicherste Ort für den Kapitalismus.

Wenn man den Ausnahmezustand als Verschwörungstheorie behandelt, hat man sich als Linke*r aufgegeben

Auf einer Querdenker*innendemonstration am 12. September 2020 in München kam es zu einer bizarren Situation: Es gab einige antifaschistisch gesinnte Gegendemonstranten, die gegen die „Querdenker*innen“ protestierten und ihnen „Solidarität statt Verschwörungstheorie“ entgegenschrien.

Ein „Querdenker“ kam auf sie zu und fragte die Gegendemonstrant*innen, wogegen sie wären. Die Antifaschist*innen wollten gegen Nazis kämpfen. „Der Querdenker“ schaute sich um, schüttelte den Kopf und ließ die Antifa mit dem Satz alleine: „Ihr seid doch nur Söders Truppe“.

Vielleicht war die parlamentarische Linke zu Beginn der Pandemie überfordert, als es darum ging, die Grundrechtseinschränkungen, die faktische Selbstentmachtung des Parlaments (gegen die die LINKE kein „Nein“ setzte, sondern sich der Stimme enthielt) einzuschätzen und zu qualifizieren. Aber sie hätte sehr wohl das Wissen zurate ziehen können, das es zu ähnlichen Ausnahmezuständen gibt, also zum Beispiel zu den Notstandsgesetzen 1968, dem „Deutschen Herbst“ 1976/77 oder zu „9/11“ in Folge des Terroranschlages in den USA 2001. Wenn man sich diese Beispiele in Erinnerung ruft, dann nimmt man die Angst vor einer gesellschaftlichen Zäsur genauso ernst wie die Angst vor COVID-19.

Teil II
Wozu dieser ganze Corona-Wahnsinn?

Wenn man die Corona-Zeiten nicht als medizinisches Phänomen begreift, sondern als ein gesellschaftliches, herrschaftspolitisches, dann stellen sich Fragen: Wozu dieser ganze Aufwand? Wozu der Lockdown, der bislang über 1.400 Milliarden Euro kosten wird? Stürzt der Staat die Wirtschaft in eine starke Rezession, um Menschenleben zu retten? Wozu all diese Einschränkungen, die gerade auch jene empört, die bisher noch nicht „auf der Straße“ waren? Wozu eine Angst, die geradezu pandemisch alles – Menschen, Wissen und Erfahrungen – mit- und voneinander isoliert?

Das Besondere an dieser Krise ist, und das wird schnell vergessen: Diese Krise hat nicht die Finanzwirtschaft verursacht (wie 2007ff.), sondern der Staat selbst, der durch den staatlich verordneten Lockdown auch massiv die Wirtschaft geschädigt hat.

Um die zentrale Rolle des Staates in dieser Krise zu begreifen, ist es hilfreich und ganz schlau, den Staat als „ideellen Gesamtkapitalisten“ zu begreifen, wie dies in der marxistischen Wirtschaftstheorie gemacht wird. Denn man wird sehen, dass der Staat – im besten Fall – mehr ist als bloßer Gehilfe des Kapitals, aber eben auch mehr als die Summe aller Einzelkapitale.

Was macht einen in diesem Sinne verstandenen Staat aus?

Jeder Einzelkapitalist ist des anderen Feind. Wie können und müssen sie aber dennoch ihre gemeinsamen Interessen formulieren und zur Geltung bringen? Hier kommt der Staat ins Spiel. Wenn er seine Rolle gekonnt ausübt, dann ist er eben nicht nur Promoter eines Großkonzernes (sei es Siemens, VW oder RWE). Er muss es schaffen, sozusagen die Quersumme aller Kapitalinteressen zu verkörpern. Das geht gelegentlich auch auf (überschaubare) Kosten von Big Players, wie beim Atomausstieg.

Der Staat als „ideeller Gesamtkapitalist“ ist deshalb ein ideeller, weil es für die „Quersumme“ keine objektive Bestimmung gibt. Denn es geht eben nicht nur um eine Addition von Kapitalinteressen, sondern auch um eine Vision, die über das Einzelinteresse hinausweist.

Was gelingt dem Staat als „ideellem Gesamtkapitalisten“ in und mit der Corona-Krise?

Dass die Corona-Krise bislang über 1.400 Milliarden Euro verschlungen hat, die der Staat selbst zu verantworten hat, verlangt mehr als Schuldenmachen. Er muss sich rechtfertigen, gegenüber der Wirtschaft, aber eben auch gegenüber den Bürger*innen. Bei all den vielen Ungewissheiten. Eines ist ganz sicher: Die Schulden werden von ihnen getragen. Das verlangt nach einem Szenario, das noch bedrohlicher ist als Lohneinbußen, das weitere Lebensverschlechterung in Kauf nimmt, wenn man nur mit dem Leben davonkommt.

Dass die für die zweite Corona-Welle beschlossenen Einschränkungen in Gänze den Privatbereich der Menschen treffen, ist Ironie und Gipfel der Unwissenschaftlichkeit zugleich. Ist jetzt also bewiesen, dass Corona keinen Bock auf Fabrikhallen und Großraumbüros hat? Dennoch sind diese Maßnahmen ungeheuer effektiv: Denn je widersinniger, je unlogischer sie sind und je gedankenloser sie hingenommen werden, desto eher sind die Menschen erschöpft, gegen das zu kämpfen, was erst noch auf sie zukommen wird.

Dass der Staat und alle Zulieferer unentwegt betonen, dass man die Bürger (noch mehr) überzeugen müsse, dass man die Maßnahmen „kommunizieren“ müsse, gehört zum Voodoo-Zauber dieser Tage.

Der Staat wird – aller Voraussicht nach – nicht nur die Verluste auf Kapitalseite in Grenzen halten (was er bereits mit Milliarden-Hilfen unter Beweis gestellt hat). Er wird auch einen neuen Akkumulationszyklus anstoßen, der in der Luft lag und durch Corona richtig Wind bekommt: Es geht um den ewig und drei Tage angekündigten Umbau der Wirtschaft, um eine Transformation der Energiewirtschaft, um den Ausstieg aus der fossil angetriebenen Mobilität, um die Forcierung der Digitalisierung. Das geht immer und notwendigerweise mit Friktionen einher, also Unstimmigkeiten zwischen den Verlierern und Gewinnern der Transformation. Ich würde in der Tat die These wagen, dass Corona der ideale Beschleuniger dieser „Wende“ ist.

Damit einher geht das Ende des „schlank“-gemachten Staates, eines Nachtwächterstaates, der tatsächlich dem Butler im Luxushotel sehr nahekommt. Es geht, und darum wird gerade hart gerungen, um die „Rückkehr des starken Staates“ (Noll).

Das Corona-Regime mithilfe des Notstandes übt dies ein, mit einer herzensguten Zustimmung, die bis in die Linke hineinreicht, die schon oft und lange die Rückkehr des keynesianistischen Staates herbeigesehnt hat. Die Corona-Krise hilft zugleich dabei, den Föderalismus als überholt und irre zu brandmarken, um noch mehr Befugnisse zu zentralisieren. Und während wir uns in die Begründetheit der Corona-Maßnahmen verbeißen, werfen andere einen weitaus größeren Blick auf die „Gunst der Stunde“. Zu den Think Tanks, deren Aufgabe es ist, reale (Verwertungs-)Schwierigkeiten in neue „Visionen“ zu transformieren, gehört sicherlich auch das jährlich stattfindende Weltwirtschaftsforum (WEF) in Davos, zu dem Konzernchefs, Politiker und Wirtschaftsstrategen eingeladen werden. Auch wenn es zum Image des Weltwirtschaftsforums gehört, kritisch zu sein, formuliert ihr Chef Klaus Schwab die nicht verhandelbare Basis sehr klar:

„Nein, der Kapitalismus ist nicht das Problem. Ich bin davon überzeugt, dass die unternehmerische Kraft jedes Einzelnen die Triebfeder für echten Fortschritt ist – und nicht der Staat. Aber diese individuelle Kraft muss in ein System von Regeln eingebettet werden, das ein Überborden in die eine oder andere Richtung verhindert. Diese Funktion muss ein starker Staat erfüllen. Der Markt löst allein keine Probleme. Ich plädiere nicht für eine Systemänderung. Ich plädiere für eine Systemverbesserung.“ (Der Neoliberalismus hat ausgedient, zeit.de vom 21. September 2020)

Tatsächlich braucht es diesen „starken“ Staat in vielerlei Hinsicht:

Er muss als „ideeller Gesamtkapitalist“ den Kapitalismus auf 4.0 bringen, was eben auch bedeutet, Gegenwind auszuhalten, auch aus den „eigenen Reihen“, was sich ideologisch und politisch unter anderem in der Präsenz der AfD ausdrückt.

Diese ökonomische Transformation wird ohne staatliche Subventionen und Absicherungen nicht gehen. Das heißt, dieser Staat braucht mehr und nicht weniger Steuerungsmittel, wozu im Kapitalismus auch ein Batzen Geld gehört, also erhöhte Steuereinnahmen. Die Außerkraftsetzung der „Schuldenbremse“ ist ein Schritt in diese Richtung.

Und dieser Staat wird eine größere Rolle spielen (müssen), wenn die Analyse richtig ist, dass die „Globalisierung“, wie sie in den letzten 20 Jahren betrieben wurde, zu Ende ist. Denn, um hier ein ganz großes Fass aufzumachen: Die Globalisierung des Kapitalismus nach dem Zusammenbruch des Ostblockes sollte die Erzfeinde Russland und China einfach auffressen, mit Kapital fluten. Das gelang nicht. Im Gegenteil: China steht heute ganz weit oben in der kapitalistischen Pyramide und kann im „freien Wettbewerb“ nicht mehr besiegt werden.

Es wird zu einer Renationalisierung kommen, die schon seit einiger Zeit die bestimmende Gegenbewegung ausmacht. Dazu zählen Handelsschranken/-embargos (nicht anderes als Wirtschaftskriege), Abschottungsmaßnahmen bis hin zur Rückverlagerung von „systemrelevanten“ Produktionen. Die Geschichte mit den Schutzmasken, die in China hergestellt wurden und in Deutschland nicht verfügbar waren, ist ein schwach maskierter Versuch, diese „Wende“ zu bebildern. Es geht in Zukunft darum, Grenzen hochzuziehen, wozu es einen starken Staat braucht.

Last not least, wird diese „Zeitenwende“ dreifach Geld kosten, vor allem zu Lasten derer, die schon immer fürs Ausbaden da sind. Zum einen werden die über 1.400 Milliarden Euro, die die Lockdown-Politik bislang gekostet hat, von den genommen, die eh wenig haben.

Zum zweiten wird die Transformation viele Arbeitsplätze kosten und – gerade in Corona-Zeiten – zu vielen Zugeständnissen führen, die nichts anderes bedeuten, als dass die (noch) Beschäftigten die Krise ausbaden.

Und drittens wird die Renationalisierung Produkte notwendigerweise teurer machen und vor allem jene belasten, die eh jeden Cent umdrehen müssen.

Und während viel zu große Teile der Linken vollauf damit beschäftigt sind, die Bedenken und Befürchtungen des Querdenkerspektrums als Verschwörungstheorien abzutun, schüttelt der Chef des Weltwirtschaftsforums folgenden Satz einfach aus dem Ärmel:

„Die sozialen und wirtschaftlichen Ungleichgewichte werden weiter zunehmen, die Ungerechtigkeiten und die Umweltzerstörung werden wachsen. Wenn wir dagegen nichts unternehmen, werden die Veränderungen irgendwann auf anderem Wege kommen, durch gewalttätige Konflikte oder Revolutionen etwa. Das lehrt uns die Geschichte.“ (s.o.)

Und das ist in der Tat eine zentrale Aufgabe von Think Tanks: Den Gefahren, die den Kapitalismus selbst infrage stellen, eine bezahlbare Alternative entgegenzustellen, die den Kapitalismus nicht abschafft, sondern neue Stabilität verleiht.

Ausnahmezustände zeichnen sich nie durch den Anlass aus, sondern durch das, was man mithilfe des Anlasses alles durchsetzen kann

Warum überlässt es die Linke weitgehend den „Querdenkern“, dem nachzugehen? Warum tut sie – völlig ungeprüft und faktenfrei – so, als sei das alles Alarmismus, und wenn gar nichts mehr hilft, eine Verschwörungstheorie mehr? Auf Seiten der Querdenker mag einiges querliegen, aber wenn eine Linke nicht mehr dazu sagen kann, dann macht sie sich selbst überflüssig.

Spürbar verbittert muss man fragen:

Hat die Linke schon einmal davon gehört, dass im Kapitalismus bestimmte Prioritäten (also Menschenwohl, Lebensglück usw.) wenig zählen, andere viel mehr – und das mit und ohne Corona?

Warum versucht sich die Linke nicht daran, diese gesellschaftlichen und politischen und staatstheoretischen Verschiebungen selbst einzuordnen, ohne „Verschwörungstheorie“?

Gibt es ökonomische, staatstheoretische und politische Gründe für die Suspendierung von Grundrechten, die wenig bis nichts mit der Bekämpfung der Pandemie zu tun haben?

Gibt es berechtigte und belegbare Gründe dafür, dass das Wohl und die Gesundheit der Menschen nicht an oberster Stelle stehen – weder vor, noch in, noch nach der Pandemie?

Wurden „Notstände“ nicht immer für ganz andere Zwecke genutzt?

Anstatt diese Frage zu stellen und mit Antworten zu überzeugen oder gar zu glänzen, überlässt man all dies den „Querdenker*innen“.

Was von viel zu vielen Linken als Verschwörungstheorie abgetan wird, ist keine abgedrehte Ansicht von irrlichternden Querdenkern.

Die Pandemie als Elektrotaser

Die, die die Pandemie in der Tat als Chance begreifen, die „noch nie dagewesenen Schockwellen“ dafür zu nutzen, „die Menschen empfänglicher machen für Visionen des radikalen Wandels“ (Prinz Charles, 2020), müssen nicht auf die Straße gehen. Sie verbringen lieber ihre Zeit im Buckingham-Palast in London, wie der eben zitierte Prinz Charles.

Die anderen sitzen in den Chefetagen von Großkonzernen oder in Thinktanks, wozu ganz sicher auch das Wirtschaftsforum in Davos zählt, das alljährlich Big Player und Regierungspolitiker und –berater zusammenbringt, um das zu formulieren, was zum Portfolio des „ideellen Gesamtkapitalisten“ gehört. Dazu gehört bemerkenswerter Weise auch Prinz Charles, der exakt das bestätigt, was Naomi Klein in ihrem Buch „Die Schock-Strategie“ den Herrschenden vorwirft: Menschen im Schockzustand zu etwas zu zwingen, dem sie ansonsten nie zustimmen würden.

Dass die Pandemie für ganz besondere Anliegen ein Segen ist, dass man die Erschütterungen und die Ängste der Vielen nutzen kann und muss, hat Klaus Schwab, Gründer des WEF, kaum misszuverstehen, so formuliert:

„Viele von uns fragen sich, wann wir wieder zur Normalität zurückkehren. Die kurze Antwort ist: nie. Nichts wird je wieder zu dem kaputten Gefühl von Normalität zurückkehren, das vor der Krise geherrscht hat, weil die Coronavirus-Pandemie einen fundamentalen Wendepunkt in unserer globalen Entwicklung markiert. Manche Analysten nennen es eine Weggabelung, andere eine Krise biblischen Ausmaßes, aber im Kern läuft es darauf hinaus, dass es die Welt, wie wir sie in den ersten Monaten von 2020 kannten, nicht mehr gibt. Sie hat sich im Kontext der Pandemie aufgelöst.“

Und dann formuliert Klaus Schwab ein Anliegen, das lange vor der Pandemie ganz oben auf der Agenda stand und nur auf den „Stier“ wartete, der die Arena in Atem halten wird:

„Es ist unsere Aufgabe, den Stier bei den Hörnern zu packen. Die Pandemie gibt uns die Chance: Sie stellt eine seltene und eng befristete Gelegenheit dar, über unsere Welt nachzudenken, sie uns neu vorzustellen, und einen Neustart zu wagen.“

Wenn man seine ersten Aussagen zum Ende des kapitalistischen Zyklus unter dem Pseudonym „Neoliberalismus“, seine Warnung vor gewalttätigen Unruhen bis hin zu Revolutionen, mit denen zusammenlegt, die die Pandemie als einmalige Chance begreifen, den Kapitalismus zu retten, dann bekommt man eine Ahnung davon, warum wir mit Kurven, Fallzahlen, Abstandsregeln, Ausgangssperren und Risikogebieten in Atem gehalten werden sollen.

Dass Corona die Welt nicht auf den Kopf stellt, ist bereits gesagt. Der darin sich begründende Ausnahmezustand spitzt aber die krassen Widersprüche zu, die schon vorher an den Rand ihrer Duldung gestoßen sind. Corona kann aber nicht nur tödlich sein. Mit Corona, also mit der Angst, kann man gar Wundersames schaffen: indem viele und viel zu viele glauben, dass man jetzt eben zusammenhalten müsse, dass es jetzt um uns alle gehe, am allerwenigsten um Klassenunterschiede. Mit der Metapher der Krankenschwester, der Pfleger im Gesundheitswesen als „Systemrelevante“ hat man gekonnt eine klassenlose Gesellschaft kreiert, in der der Boss von AEG und die Pfleger im Krankenhaus eins werden.

Zeit zur Demaskierung (auch ohne Maske)

Dauerhafte Angst, ständig ändernde Erklärungen und Maßnahmen greifen nicht nur die psychische Gesundheit an, sie machen auch schwindelig, orientierungslos und apathisch. Man hört auf, in Zusammenhängen zu denken, auf Widersprüche zu achten. Man stumpft ab, man nimmt es hin, meistens mit einer Erklärung, die nur noch das eigene Mittun rechtfertigt.

Gerade hat die Bundeskanzlerin Angelika Merkel nochmals betont, dass es jetzt das Wichtigste ist, „Kontakte zu vermeiden“.

Wenn das das Allerwichtigste ist, um „unsere“ Gesundheit zu schützen, muss sich doch eine Linke fragen: Warum werden überall Kontaktmöglichkeiten begrenzt, verboten, sanktioniert, anstatt Bedingungen zu schaffen, unter denen sie gefahrlos möglich sind? Es gibt COVID-19-taugliche Entlüftungsanlagen/Raumluftreiniger, die man längst in Altenheimen und Schulen einsetzen könnte, um nicht länger in Angst zu leben, sondern lebenswichtige Kontakte möglich zu machen. Ist die eine Milliarde Euro zuviel, während man das „Leben“ von Großunternehmen mit 200 Milliarden beatmet?

Für eine Linke ist zentral, Zusammenhänge herzustellen, Behauptungen zu überprüfen und die allergrößten Zweifel anzumelden, wenn eine Regierung verkündet, dass es jetzt (plötzlich) darum gehe, dass wir alle zusammenstehen, um ganz gemeinsam die Krise zu bewältigen. Wenn die immer größer werdenden ökonomischen und politischen Unterschiede, die seit Jahrzehnten gewollt, gefördert und gerechtfertigt werden, ganz plötzlich nicht mehr zählen, dann müsste eine Linke wie eine Eins dastehen und sagen: Ihr habt sie nicht mehr alle!

Vielleicht fühlen sich Linke auch geschmeichelt, wenn sie das Gefühl haben, mit in einem Boot zu sitzen, und gar gelobt werden, wenn sie ihren Beitrag dazu leisten, die Querdenker*innen“ zu denunzieren. Das macht sie nicht unentbehrlich, sondern sehr bald überflüssig.

Halten jene Linke auch den WEF-Boss Klaus Schwab für einen lausigen Querdenker? Man hat das Gefühl, dass es geradezu stört, wenn man auf deren Stimmen verweist, die auf die Gunst der Stunde pochen, den Schockzustand dazu nutzen, um den Kapitalismus neu aufzustellen, bevor die Lokomotive gegen die Wand fährt. Denn der hier bereits zitierte Klaus Schwab ist alles andere als ein Alarmist und verwirrter Zeitgeist. Im Gegenteil: Dem nachzugehen, die Vision von einem „Reset“ abzuklopfen, schafft einen Horizont, der über zum Teil selbst aufgestellte Zäune hinausweist.

Thomas Kuczynski hat dies in einem Beitrag getan und schreibt dazu sehr Erhellendes und Hilfreiches:

„Die jetzige Weltwirtschaftskrise deutete sich schon an der Jahreswende 2018/19 an. Die Corona-Pandemie war lediglich Anlass zu ihrer bedeutenden Verschärfung, eine ‚Corona-Krise‘ ist sie nicht. Die Pandemie hat nur Probleme des vor über dreißig Jahren eingeführten neoliberalen Kapitalismus ganz offen zutage treten lassen, die über kurz oder lang sowieso zu einer schweren Wirtschaftskrise geführt hätten (…) Die vom Neoliberalismus gepriesenen Allheilmittel des Marktes und der Privatisierung haben offenbar zurzeit ausgedient (…) In der Tat scheint es sich nicht um eine für das kapitalistische Wirtschaftssystem normale zyklische Krise zu handeln, sondern um eine sogenannte systemische Krise.“ (Thomas Kuczynski)

Nützliches Chaos

Sicherlich ist die von Dr. Hontschik erwähnte Einheitsfront in Sachen medialer Pandemie zutreffend. Und doch enthält diese manchmal auch ungewollt Entlarvendes, wie der Leitartikel der Frankfurter Rundschau vom 17./18.10.2020, mit dem Titel: „Nützliches Chaos“. Dort vergleicht der Redakteur die Corona-Maßnahmen mit der Kugel im Flipperautomaten: „Sie schießen eine ab und gucken, was passiert.

Dieses leicht dissonante Bild spiegelt sicherlich auch die wachsende Sorge wider, dass man wachsende Probleme bekommen könnte mit der Zustimmung.

Aber wirklich besonders an diesem Beitrag ist etwas Anderes: Er bringt etwas zusammen, was bei einem Teil der Linken wüste Beschimpfungen auslöst und in tiefen Schützengräben endet: Genau dann, wenn man den Kampf gegen die Pandemie mit der Systemfrage zusammenbringt. Man reibt sich die Augen! Die Systemfrage zu stellen, war einmal ein Merkmal der Linken. Und genau das tut der Leitartikel.

Zuerst schwört uns der Leitartikler zum x-ten Mal ein, dass das, woran viele festhalten wollen, nur „eine vordergründige Freiheit zelebriert“. Diese müssen wir aufgeben, denn es gehe um mehr als um unsere Gesundheit, um dann auf den Punkt zu kommen:

„Manche stellen bereits die Systemfrage. Ist China, weil es auch dann zum schärfsten Mittel greifen kann, wenn es nicht erforderlich ist, am Ende überlegen?“

Die Antwort auf diese Systemfrage hat er sofort parat:

„Eine Gesellschaft, die nur eine vordergründige Freiheit zelebriert, durch Reisen, Partys und grölende Verstöße gegen Hygienevorschriften, könnte sich am Ende in der Tat als unterlegen erweisen.“

Man könnte auch sagen: Hier geht um ein „Geisterspiel“ zwischen Kapitalismus a la carte und einem Kapitalismus ‚Made in China‘ – bei dem wir zuhause bleiben sollen.

Es ist kein großes Risiko, vorauszusagen, dass der Kapitalismus nicht „verantwortungsvoll(er)“ (Klaus Schwab), sondern „chinesisch(er)“ (Xi Jinping) wird.

Was tun? (mit und ohne Maske)

Erstens: Mischen wir uns ein. Lassen wir uns nicht isolieren und ausspielen.

Zweitens: In Erinnerung an Max Horkheimer: Wer aber vom Kapitalismus nicht reden will, sollte auch zu Corona schweigen.

Drittens: Gehen wir zusammen für zwei Jahren auf Entzug und verzichten auf drei Schlagwerkzeuge: Verschwörungstheorie, Querfront, Antisemitismus.

Viertens: Ersetzen wir diese durch eine Theorie, eine Praxis, durch eine Form der Kollektivität, die nicht separiert, denunziert, sondern fasziniert.

Viertens. Der WEF-Chef Klaus Schwab bewirbt einen „verantwortungsvollen Kapitalismus“, um Unruhen zu vermeiden, um einer Revolution zuvorzukommen. Da Ersteres nur mit dem Adjektiv schmeichelt, um mit dem Hauptwort zuzuschlagen, würde mir Letzteres näherliegen und ich würde vorschlagen, uns dorthin auf den Weg zu machen.

* Ergänzung 27.11.2020: Aufgrund einer missverständlichen Formulierung zum Abstimmungsverhalten der LINKEN wurden mehrere erläuternde Sätze hinzugefügt.

Titelbild: Anton27/shutterstock.com

Quellen und Hinweise:


Hauptadresse: http://www.nachdenkseiten.de/

Artikel-Adresse: http://www.nachdenkseiten.de/?p=67362