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Titel: Ehemaliger russischer Diplomat Platoschkin über russische und deutsche Linke

Datum: 27. Juli 2021 um 11:02 Uhr
Rubrik: Audio-Podcast, Interviews, Länderberichte, Parteien und Verbände
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Interview mit dem russischen Linkspolitiker Nikolai Platoschkin über seine Freilassung aus dem Hausarrest, die Duma-Wahlen im September und die Lage der Linken in Russland und Europa. Von Ulrich Heyden, Moskau.

Dieser Beitrag ist auch als Audio-Podcast verfügbar.

Nikolai Platoschkin saß vom 4. Juni 2020 bis zum 19. Mai im Hausarrest. Am 19. Mai wurde er zu fünf Jahren auf Bewährung verurteilt. Ihm wurde die Werbung zu Massenunruhen vorgeworfen. Platoschkin hatte aufgerufen, gegen die inzwischen durch ein Referendum angenommene Verfassungsreform, die Wladimir Putin eine weitere Amtszeit ermöglicht, zu protestieren. Der ehemalige Diplomat, der gut Deutsch spricht, ist Gründer der Bewegung „Neuer Sozialismus“, deren Kandidaten bei den Duma-Wahlen Mitte September auf den Listen der Kommunistischen Partei der Russischen Föderation (KPRF) kandidieren. Platoschkin, der bei den Duma-Wahlen als Vorbestrafter selbst nicht kandidieren kann, arbeitete von 1987 bis 1992 und von 1995 bis 1998 als Attaché in der sowjetischen und dann russischen Botschaft in Berlin. Von 2004 bis 2006 war er Vize-Konsul im russischen Konsulat in Houston/Texas. Nach seinem Ausscheiden aus dem diplomatischen Dienst wurde er Leiter der Fakultät für Internationale Beziehungen an der Moskauer Universität für Geisteswissenschaften (RGU). Der Linkspolitiker schrieb 20 wissenschaftliche Bücher über den Militärputsch in Chile, den Mord an John F. Kennedy, das Jahr 1953 in der DDR und den Bürgerkrieg in Spanien. Das Interview führte Ulrich Heyden.

Bild: Nikolai Platoschkin mit seiner Frau Anschelika Glaskowa nach der FreilassungJuni 2021 / Von Ulrich Heyden

Bestand wirklich die Gefahr, dass Sie für viele Jahre ins Gefängnis kommen?

Ja, durchaus. Denn am 19. Mai wurde ich zu fünf Jahren auf Bewährung verurteilt. Außerdem wurde mir für zehn Jahre das Recht entzogen, bei Wahlen zu kandidieren. Ich kann noch nicht mal für ein Kommunalparlament kandidieren. Am 18. Mai hat der Staatsanwalt sechs Jahre Gefängnis für mich gefordert. Am 19. Mai fuhr ich zum Gericht schon mit meinen persönlichen Sachen, denn ich war davon überzeugt, dass ich nicht nach Hause zurückkehren werde.

Nach dem 19. Mai sind Sie fast ein freier Mensch. Angeblich haben Sie zu Massenunruhen aufgerufen.

Tatsache ist, dass diese Massenunruhen bis heute nicht stattfanden. Wahrscheinlich habe ich schlecht dazu aufgerufen. Man hätte mich deshalb verurteilen müssen, dass ich schlecht gearbeitet habe.

Ich muss Ihnen sagen, eine wirkliche Ermittlungsarbeit in meinem Fall gab es nicht. Man hat mich im Jahr meiner Festnahme einmal eine Stunde lang verhört. Und das war alles. Es gab keine Gegenüberstellung mit Zeugen. Die Aufgabe bestand nur darin, mich schnell in den Hausarrest zu bringen.

Am 18. Mai 2021 hat der Staatsanwalt am Gagarin-Gericht in Moskau für mich sechs Jahre Gefängnis gefordert. Das Urteil sollte am 19. Mai verkündet werden. Sie können sich vorstellen, wie diese Nacht für meine Eltern verlief. Die dachten, dass sie ihren Sohn nicht wiedersehen werden. Meine Mutter ist 82 Jahre alt. Mein Vater ist 85 Jahre alt. Wenn man mich für sechs Jahre ins Gefängnis gesteckt hätte, dann hätten sie mich wohl nie wieder gesehen. Wie meine Frau diese Nacht erlebt hat, kann sie Ihnen selbst erzählen.

(In diesem Moment schaltete sich Anschelika Glaskowa, die Frau von Platoschkin, in das Interview ein.)

Glaskowa: Es ist sehr schwer, diese Gefühle wiederzugeben. Du verstehst am Morgen, dass es die letzten Stunden sein werden, dass du den Menschen siehst: Und in fünf oder sieben Stunden kann es schon so sein, dass du ihn für viele Jahre nicht siehst. Das ist sehr schwer. Das Zusammenstellen der Sachen. Der Anwalt sagte, nehmen Sie Sachen mit für das Untersuchungsgefängnis. Wir standen sechs Uhr morgens auf. In der Nacht hatten wir nicht geschlafen. Das bedeutet Tränen und Emotionen. Für eine Frau ist das sehr schwer.

Früh am Morgen kamen noch die Eltern. Alle weinten. Ich erinnere mich an einen Moment. Nikolai setzte sich hin und sagte: „Ich werde in drei Stunden zu Euch kommen. Wir werden auf die Datscha fahren. Gemeinsam werden wir meine Freilassung feiern.“ Wir glaubten nicht daran.

Platoschkin: Ich glaubte auch nicht daran, ich wollte nur, dass sie ein bisschen … (Nikolai hebt die Schultern und macht ein vielsagendes Gesicht, was wohl bedeuten soll, dass er alle auf andere Gedanken bringen wollte).

Glaskowa: Als ich dann alleine zum Gericht fuhr, habe ich am Telefon mit einer Frau aus Chabarowsk gesprochen. Und wir haben darüber gesprochen, ob es tatsächlich möglich ist, dass sie Nikolai einschüchtern wollten. Der Staatsanwalt hatte gesagt, dass angesichts der Leistungen, die Platoschkin für den Staat erbracht hat, und weil er eine gute Charakteristik hat, geben wir ihm sechs Jahre Gefängnis, nicht in strengem Regime, sondern im gewöhnlichen Regime. Als ich mit der Frau gesprochen habe, haben wir überlegt, ob sie Platoschkin so ängstigen wollten, indem sie zeigten, wir können Dich für zehn Jahre für nichts einsperren. Es ist uns egal, wenn Deine Frau und Deine Eltern weinen. Und so dachte ich vor der (letzten, UH) Sitzung des Gerichts, vielleicht kommt er nicht ins Gefängnis. Obwohl die Möglichkeit einer Gefängnisstrafe sehr hoch war.

Platoschkin: Als ich meine Wohnung am 19. Mai mit meinen persönlichen Sachen verließ, hatten sich Menschen vor meiner Wohnung versammelt. Männer weinten. Frauen machten ein Kreuzzeichen vor mir. Ich werde das niemals vergessen.

Was für Leute waren das?

Menschen aus dem ganzen Land waren angereist, aus dem Fernen Osten, von der Krim, aus Jaroslawl.

Warum haben diese Menschen so sehr auf Sie gehofft?

Ich mag nicht gerne über mich selbst sprechen. Mir scheint, das erste Mal seit vielen Jahren haben sie einen Menschen gesehen, der ehrlich mit ihnen spricht und ihnen Gutes wünscht. Sie spürten, dass ich ihnen Gutes wünsche, nicht damit sie für mich stimmen. Die Menschen haben sich einfach nach einem direkten Dialog mit einem Menschen gesehnt, von dem sie denken, der lügt wahrscheinlich nicht, sondern er glaubt das, was er sagt.

In Russland gibt es so eine Achtung vor einem Menschen, der bereit ist zu kämpfen und dafür leidet. Man verehrt ihn als Helden.

Ich bin einverstanden. Aber ich möchte hinzufügen, die Menschen verehren jemanden, der ungesetzlich verurteilt wurde, also jemanden, der unschuldig ist.

Inwieweit ist Ihre Bewegungsfreiheit jetzt eingeschränkt? Können Sie das Gebiet Moskau verlassen und in Russland herumreisen?

Wir haben Widerspruch gegen das Urteil eingelegt, denn ich bin unschuldig. Wenn das Urteil vom 19. Mai 2021 in Kraft bleibt, kann ich zwar andere Gebiete in Russland besuchen, aber ich muss mich regelmäßig bei der Strafvollzugsbehörde melden. Außerdem wurde mir verboten, an Wahlen teilzunehmen.

Was hat man Ihnen wirklich nachweisen können? Sie haben angeblich falsche Behauptungen über das russische Gesundheitswesen aufgestellt. Sie haben angeblich zu Massenunruhen gegen das Verfassungsreferendum aufgerufen.

Aufruf wäre noch etwas Gutes gewesen. Ein Aufruf zu Massenunruhen wird in Russland mit zwei Jahren Gefängnis bestraft. Man hat mir aber gezielte Werbung zu Unruhen vorgeworfen, weil das bis zu zehn Jahren Haft zur Folge hat. Wenn man wegen einer Tat verurteilt wird, die zehn Jahre Haft zur Folge hat, darf man nicht kandidieren, selbst wenn man fünf Jahre auf Bewährung bekommt. Deshalb hat man mich extra wegen Werbung und nicht wegen Aufrufs zu Massenunruhen verurteilt. Der Grund des Verfahrens war meiner Meinung nach, dass ich keine Möglichkeit bekommen sollte, zu den Duma-Wahlen im September und auch nicht zu den Präsidentschaftswahlen 2024 zu kandidieren.

Haben Sie Beweise für diese Behauptung?

Die Führungen einiger politischer Parteien in Russland haben mir gesagt, dass im Mai 2020 eine Umfrage veröffentlicht wurde, wo gefragt wurde, wer zum Präsidenten gewählt wird. Für mich stimmten zum ersten Mal 2,5 Prozent. Man hat dann wahrscheinlich im Kreml gemeint, wenn es so weiter geht mit Platoschkin, dann könnte er wirklich mal bei den Präsidentschaftswahlen siegen. Durch das Strafverfahren hat man mich dann aus dem Weg geräumt.

Sie sind ein relativ bekannter Mann, durch Ihre Verhaftung, aber auch davor schon wurden Sie zu Talk-Shows eingeladen. Wie wollen Sie Ihre politische Erfahrung weiter einsetzen?

Meine Bewegung „Für einen neuen Sozialismus“ – auf gut Deutsch würde das wahrscheinlich heißen „Für einen demokratischen Sozialismus“ – tritt für die sowjetischen Errungenschaften ein. Wir wollen aber in freien, demokratischen Wahlen um die Macht kämpfen. Die „Bewegung für einen neuen Sozialismus“ wird zu den Duma-Wahlen im September sehr aktiv zusammen mit anderen linken Parteien antreten, das heißt mit der Kommunistischen Partei der Russischen Föderation (KPRF) und einigen anderen Parteien. Und ich werde natürlich die Kandidaten der Opposition mit meiner Tatkraft unterstützen. Die linken Kräfte sollten sich nach meiner Meinung auf gemeinsame Kandidaten in den Wahlbezirken einigen. Ich kann selbst nicht kandidieren, werde aber selbst bei den Wahlen als Beobachter vor Ort sein.

Wer steht hinter den Beschuldigungen gegen Sie? Es gibt das Gerücht, es sei Jewgeni Fjodorow, der Duma-Abgeordnete von Einiges Russland und Leiter der Russischen Befreiungsbewegung NOD. Fjodorow hat Sie beschuldigt, Sie seien ein amerikanischer Agent, weil Sie gegen die Reform der russischen Verfassung waren.

Ich bin beleidigt, ich würde gerne als deutscher Agent auftreten, weil ich Deutsch spreche (lacht). Jewgeni Fjodorow behauptet, er persönlich habe Platoschkin in den Hausarrest geschickt. Aber das stimmt nicht. Das waren wesentlich einflussreichere Personen. Es war eine Anordnung von ganz oben.

Wie sieht es aus mit der russischen Linken? Man hört von ihr in Deutschland wenig. Und es gibt nach meinem Eindruck auch kaum Kontakte. Von der Partei Die LINKE kommen selten Abgeordnete nach Moskau.

Ich kann die Positionen der deutschen Linken von hier aus schlecht beurteilen. Aber ich muss mich bei den Abgeordneten der LINKEN bedanken, denn sie haben eine Kleine Anfrage im Bundestag gestellt, wegen meinem Fall und wegen dem Fall von Pawel Grudinin, dem ehemaligen Präsidentschaftskandidaten der Kommunistischen Partei. Die Bundesregierung hat – soweit ich es aus dem Internet weiß – geantwortet, sie würde die Sache beobachten. Dass die Bundesregierung etwas unternommen hat, ist mir nicht bekannt.

Die Partei Die LINKE in Deutschland tut mir weh. Ich war an der Russischen Botschaft 1995 bis 1998 in Berlin beschäftigt. Wir hatten sehr enge Beziehungen zu der linken Partei, sie hieß damals noch PDS. Wir haben fabelhaft zusammengearbeitet bei der Bewahrung der sowjetischen Kriegsdenkmäler, zum Beispiel mit den Genossen aus Treuenbrietzen in der Nähe von Berlin. Wir haben gemeinsam das Denkmal im Treptower Park in Berlin gerettet. Wir hatten sehr enge Kontakte und sie waren mir auch politisch sehr nah, obwohl ich als russischer Diplomat mit allen Parteien Kontakt hatte. Auch mit den Grünen hatte ich sehr gute Kontakte. Bei den Grünen hatte ich Kontakte mit Renate Künast und bei den LINKEN mit Petra Pau, die jetzt glaube ich Vizepräsidentin des Bundestages ist.

Die Linke war damals eine Protestpartei der ehemaligen DDR-Bürger. Sie haben versucht, sich auf ganz Deutschland auszudehnen. Deshalb die Zusammenarbeit mit Oskar Lafontaine und vielen deutschen Linken, die anders waren als die ostdeutschen Linken. Deshalb ist die Partei zwar gesamtdeutsch geworden und sie hat ihre Sitze im Bundestag bewahrt, aber sie hat die linken Wähler Ostdeutschlands an die „Alternative für Deutschland“ verloren. Die Wähler der AfD sind meiner Ansicht nach keine Faschisten. Es sind dieselben Protestwähler, die früher für die LINKEN gestimmt haben, weil sie nicht hinnehmen wollten, was mit Ostdeutschland, mit der Demontage und den „blühenden Landschaften” passierte.

Warum hat DIE LINKE ihre Wähler nicht halten können?

Weil die Partei sich etablieren wollte. Sie haben es teilweise auch geschafft. Sie sind jetzt in manchen Regionen auf Landesebene vertreten. Sie wollten natürlich rot-rot-grün auf Bundesebene erreichen. Das haben sie nicht erreicht und werden es nicht erreichen. Deshalb sind sie nicht links, sondern ich würde sagen, sozialdemokratisch geworden und viele sagen, was ist dann eigentlich der Unterschied zur SPD? Die SPD war in den neuen Bundesländern nicht sehr beliebt.

Und wie ist der Zustand der russischen Linken?

Bei den Russen ist es noch viel schlimmer. Wir leben nicht in Deutschland. Also bei uns ist die Demokratie leider noch nicht so weit entwickelt und jetzt wurde sie zurückgefahren. Es ist zum Beispiel sehr schwer, bei den Behörden eine Genehmigung für eine Kundgebung zu bekommen. Viele Oppositionspolitiker werden als ausländische Agenten gebrandmarkt.

Die Kommunistische Partei (KPRF) ist die größte Links-Partei in Russland. Sie ist im Parlament als zweitgrößte Partei des Landes vertreten. Die KPRF ist in Deutschland nicht nur bei der Bundesregierung, sondern sogar bei den Linken verpönt, weil sie sich kommunistisch nennt und weil die Kommunistische Partei – wie auch ich – sich nicht scheut, Errungenschaften von Stalin hervorzuheben. Obwohl wir natürlich auch der Meinung sind, dass es unter Stalin Massenrepressionen gab und die müssen natürlich verurteilt werden.

Bei den Deutschen ist das so: Stalin kommt nicht in Frage. Kommunismus auch nicht, obwohl die Kommunistische Partei in Russland in ihrer Ausrichtung noch rechter ist als die LINKE in Deutschland. Zweitens, die Linken in Deutschland haben leider eine falsche Tagesordnung. Natürlich sind die Rechte von Lesben und Schwulen sehr wichtig. Aber für die Bevölkerung in Ostdeutschland, wie auch in Frankreich und Spanien, sind andere Probleme wichtig, die früher von den Linken bearbeitet wurden, wie Arbeitslosigkeit, soziale Ungleichheit, Gerechtigkeit. Wenn jetzt die Linken sagen, wir interessieren uns für Afrika und die Klimaveränderung – was beides auch wichtig ist – aber da wird zum Beispiel eine Fabrik geschlossen und die Leute werden arbeitslos und es gibt für sie, besonders in meinem Alter mit 40, 50 Jahren, keine Möglichkeit umzulernen, dann gehen sie zu den Protestparteien, egal ob sie rechts oder links sind.

Und wie ist es in Russland?

Bei uns ist es umgekehrt. Die Kommunistische Partei wird in den Regionen, wo die Löhne miserabel sind, dafür kritisiert, dass sie nicht genug kommunistisch ist, dass sie zu weich ist, dass sie nicht so hart auf die Regierung losgeht.

Unsere „Bewegung für einen neuen Sozialismus“ versucht jetzt alle Kräfte zusammenzuhalten, die in Russland für einen Wechsel nach links stehen. Wir stehen jetzt für Privateigentum, wie Lenin 1921. Die Klein- und Mittelunternehmer sind unsere Verbündeten. Die werden auch von der Regierung drangsaliert. Auch die kleinen Beamten sind unsere Verbündeten.

Bei den Duma-Wahlen wird es sehr schwierig. Die Duma-Wahlen sind nicht mit den Bundestagswahlen zu vergleichen. Aber wir versuchen, vereint aufzutreten und gemeinsame Kandidaten in den Wahlkreisen aufzustellen.

Ich wohne in Moskau und nach meinem Eindruck ist das Wichtigste für die Leute, eine schöne Wohnung zu haben, ein neues Auto und schicke Klamotten zu kaufen, also Konsum. Solidarität, die ja auch wichtig ist für eine Gesellschaft, dass sich Menschen für irgendwelche Interessen zusammenschließen und sich gegenseitig unterstützen, dafür sehe ich wenig Anzeichen. Sehen Sie das auch so?

Sie haben eine falsche Prämisse genannt. Ich lebe in Moskau. Moskau ist nicht Russland. Moskau unterscheidet sich von dem Lohn-Niveau drei- oder viermal von dem Rest Russlands. Hier in Moskau sehnen sich die Leute wirklich – wie Sie sagen – nach der Konsumgesellschaft. Wenn Sie hundert Kilometer von Moskau wegfahren, finden Sie ein ganz anderes Russland, das nach wie vor unter der Zerstörung der alten sowjetischen Wirtschaft leidet, wo die Leute einfach nicht wissen, wo sie arbeiten werden, wo die Leute in vielen Regionen von Pilzen und Beeren leben, die sie sammeln und dann an den Fernstraßen verkaufen. Diese Leute sind deshalb für den Sozialismus, weil sie sich daran erinnern, dass sie mal Ingenieure waren, dass sie geachtet waren, nicht wegen des Gehalts. Sie waren Volksdeputierte, sie waren in ihrer Stadt gefragt.

Aber was ist mit der Jugend, also den Menschen, die nach 1991 geboren wurden, die in der Putin-Zeit erwachsen wurden und angefangen haben, Geld zu verdienen? Kann man die für linke Ideen interessieren?

Die russische Regierung hat gemeinsam mit der rechten Opposition um Navalny versucht, die Sowjetunion schwarz zu malen. Kennzeichen der Sowjetunion – so sagt man – sind Repressionen, Defizit, Gulag, Stalin. Da gibt es keinen Unterschied zwischen Navalny und Putin. Navalny ist sogar mehr antisowjetisch als die heutige Regierung, denn sie versteht wenigstens, dass die Sowjetunion nach wie vor sehr populär ist. 64 Prozent der Menschen sehnen sich nach Meinungsumfragen zurück in die Sowjetunion. Die, welche sich sehnen, leben natürlich vor allem außerhalb Moskaus. Nach den Meinungsumfragen sind 48 Prozent der Jugendlichen bis 25 Jahren bereit, Russland zu verlassen, um sich ihr Geld irgendwo anders zu verdienen. Insgesamt bei der Bevölkerung machen die Ausreisewilligen 25 Prozent aus. Die Leute meiner Generation wollen natürlich hierbleiben und weiterkämpfen. Denn wir wissen, was wir verloren haben. Wir kämpfen zum Beispiel gegen die Rentenreform. Bei uns wurde das Rentenalter angehoben. Aber die Jugendlichen sagen, wir hoffen gar nicht darauf, dass wir eine Rente kriegen. Da reisen wir besser aus, nach Deutschland oder in die Vereinigten Staaten.

Die Linke hat die Jugend verloren, nicht nur wegen unserer Regierung, sondern auch wegen der rechten Opposition um Navalny. Die sagen einfach, Putin-Kapitalismus ist schlecht, aber wir bauen einen anderen, einen guten Kapitalismus auf. Und viele glauben daran.

Wenn man ins Kino geht oder Fernsehen guckt, werden über die Hälfte amerikanische Filme gezeigt. Kulturell ist Russland ja schon amerikanisiert.

Es ist noch schlimmer. Nach den Sanktionen des Westens wegen der Krim 2014 ist unsere Regierung dazu übergegangen, mit sehr kostspieligen Filmen, die sogar noch teurer sind als die Sachen aus Hollywood, einen Patriotismus zu schüren. In diesen Filmen wird erzählt von den Errungenschaften der Sowjetunion, die angeblich alle gegen das sowjetische System gemacht wurden. Es wird zum Beispiel über die Sportler berichtet, die in der Sowjetunion Rekorde erreichten, zum Beispiel unsere Olympiamannschaft war genauso gut wie die Olympia-Mannschaft der DDR. Aber in diesen Filmen wird versucht zu zeigen, wie die Sowjetfunktionäre das zunichte machten und es wird gezeigt, dass die armen Sportler sich gegen das System sträubten.

Die Sportler hätten ohne Sowjetfunktionäre noch besser sein können?

Genau! Was mich besonders schmerzt, ist, was man mit Kriegsfilmen macht. In der Sowjetunion gab es Kriegsfilme verschiedener Art. Es wurden sehr gute Filme über die Menschen im Krieg gezeigt, nicht über die Schlachten mit Panzern, sondern über die einfachen Menschen, wie sie liebten, wie sie in den Urlaub fuhren, um ihre Mutter das letzte Mal zu sehen. Jetzt sehen sie Kriegsfilme, wo die Kommunisten die einfachen Leute einfach gegen die deutschen Panzer schicken, um sie zu vernichten. Angeblich kämpften in der Roten Armee nur Strafgefangene aus Stalins Lagern. Angeblich wird ein Patriotismus geschürt, aber es ist ein antisowjetischer.

In Deutschland läuft eine massive antirussische Propaganda. Russland wird nicht mehr in seiner Gänze dargestellt, sondern nur noch Putin und die Oligarchen. Ich sehe es als meine Aufgabe an, einfach nur das normale Russland darzustellen, um diese furchtbare Entfremdung, die eingesetzt hat, zu stoppen.

Sie haben es gesagt, Entfremdung. Wissen Sie, warum es den Zweiten Weltkrieg zwischen Russland und Deutschland gab? 1932 wurde eine Umfrage gemacht. Man stellte fest, dass normale Deutsche weniger über Russland wussten als über Nepal. Deshalb konnte Hitler Mythen aufbauen, über die „Untermenschen“, Asiaten und so weiter. Die Deutschen wussten ja nicht, wie normale Leute in der Sowjetunion wohnten und was sie aßen.

Jetzt ist es leider auch so. Und das trage ich den deutschen Linken nach, genau das, was Sie gesagt haben. Es gibt Putin, es gibt die Regierung, aber es gibt auch Russland, es gibt die russische Opposition, die nicht nur um Navalny kreist. Es gibt Linke, die im Westen gar nicht ernstgenommen werden, denn viele Personen in den Regierungen von Deutschland und den USA wissen, wenn in Russland die Linken an der Macht wären, würde es ein starkes Russland geben. Wahrscheinlich würde es auch den Zusammenschluss aller Sowjetrepubliken geben, natürlich auf freiwilliger Ebene. Für mich steht außer Frage, dass Mittelasien zu uns kommen wird, wenn sie gefragt werden. Für die heutige russische Regierung ist das nicht wichtig und das versteht man im Westen. Putin ist nicht unbedingt ein bequemer Partner, aber wenn die Linken in der Russischen Föderation an der Macht wären, das wäre noch schlimmer.

Die Partei Die LINKE in Deutschland hat sich so verwestlicht, im schlechten Sinne. Sie sagen, in Russland gibt es keine Rechte für Lesben. Wahrscheinlich ist das so, aber für die Russen ist das leider nicht das Hauptproblem. Das Hauptproblem ist, am Leben zu bleiben, genug zu verdienen, dass man sich über Wasser halten kann. Das erinnert mich an Podemos, die Linken in Spanien, und Tsipras in Griechenland, die zwar modern angezogen sind und ohne Krawatte rumlaufen. Aber wenn man Tsipras und die spanischen Genossen fragt, wollt ihr aus der Nato austreten, sagen sie Nein, das wollen wir nicht.

Wie schätzen Sie die internationale Situation heute ein? Kann es zu einem großen Krieg kommen? Droht in allen Staaten eine autoritäre, vielleicht sogar faschistische Entwicklung?

Das sehen wir. Die Wähler der Alternative für Deutschland sind natürlich keine Faschisten, aber viele in der Führung der Partei. Sie sagen, dass die Wehrmachtssoldaten Helden waren, dass Deutschland sich aufbäumen muss, dass Deutschland sich abgeschafft hat und solche Sachen. Leider haben die Linken in Deutschland das nationale Thema außer Acht gelassen. Das haben damals auch die Kommunisten in der Weimarer Republik falsch gemacht. Sie warben für Sowjet-Deutschland. Viele deutsche Wähler sagten, wieso sollen wir Sowjets sein? Wir müssen eine eigenständige deutsche Politik entwickeln. Hitler sagte, wir sind für den Sozialismus, aber für einen nationalen, einen deutschen. So sind ihm damals viele Leute auf den Leim gegangen, weg von den Kommunisten und der SPD zu den Nazis.

Nochmal zurück zu der Frage, ob es einen großen Krieg geben wird.

Nach dem Zerfall der Sowjetunion gingen die kleinen Kriege los, aber sie werden nicht zur Kenntnis genommen. In Ruanda, einem kleinen Staat, hat man 1994 über eine Million Menschen getötet. Wen interessierte das? Einen großen Krieg wird es nicht geben, weil wir und der Westen Nuklearwaffen haben. Die schrecken wirklich ab. Man würde Russland gerne angreifen. Aber das ist selbstmörderisch.

Der Krieg um Donezk und Lugansk kann noch Jahrzehnte weitergehen?

Ja, und was mich auch an der Politik der deutschen Linken stört: Die Bevölkerung der Krim darf nicht für Russland abstimmen. Das ist verboten. Warum darf der Süd-Sudan zum Beispiel abstimmen? Wieso darf Schottland abstimmen? Warum durfte Neu-Kaledonien dreimal über die Unabhängigkeit abstimmen? Quebec in Kanada hat glaube ich schon zweimal abgestimmt. Wieso konnten die Menschen in der Ukraine 1991 für die Abtrennung von der Sowjetunion abstimmen, aber die Menschen auf die Krim dürfen nicht über die Abtrennung von der Ukraine abstimmen? Wo ist der Unterschied?

Ich bin nicht etwa deshalb für die Krim-Abtrennung, weil ich ein großer Nationalist wäre. Ich bin gegen jeden Nationalismus, den russischen und den deutschen, weil ich die Geschichte gut kenne. Aber wenn auf der Krim zwei Millionen Menschen abgestimmt haben, warum nimmt man sie nicht zur Kenntnis?

Titelbild: Alexey Borodin / Shutterstock


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