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Titel: Der wahre Zelensky: Vom prominenten Populisten zum unbeliebten Neoliberalen im Stile Pinochets

Datum: 9. Mai 2022 um 8:42 Uhr
Rubrik: Erosion der Demokratie, Länderberichte, Lobbyismus und politische Korruption, PR, Rechte Gefahr
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Die ukrainische Wissenschaftlerin Olga Baysha hat Wolodymyr Zelenskys Aufstieg zur Macht und die Art und Weise, wie er diese Macht seit seiner Wahl zum ukrainischen Präsidenten ausübt, untersucht. In einem Interview spricht sie über Zelenskys Bekenntnis zum Neoliberalismus und seinen zunehmenden Autoritarismus – und darüber, wie seine Handlungen zum aktuellen Krieg beigetragen haben, sowie über seine kontraproduktive Führung während des Krieges. Diesen Beitrag haben wir von „Grayzone“ übernommen. Übersetzung: Heiner Biewer.

Das folgende Interview wurde am 28. April auf TheGrayZone veröffentlicht. Die Verweise sind zum großen Teil aus dem Original übernommen, in einigen Fällen hat der Übersetzer Heiner Biewer eigene Links hinzugefügt, meist auf deutsche Quellen.

Die ukrainische Wissenschaftlerin Olga Baysha beschreibt, wie Zelensky die weithin verhasste neoliberale Politik verfolgte, wie er seine Rivalen unterdrückte und wie seine Maßnahmen den derzeitigen Krieg mit Russland anheizten.

Der Komödiant Zelensky, der 2019 in das höchste Amt des Landes aufstieg, war dem Durchschnittsamerikaner praktisch unbekannt, außer vielleicht als Kleindarsteller im Theater um die Amtsenthebung Trumps. Doch als Russland am 24. Februar 2022 die Ukraine angriff, wurde Zelensky plötzlich zu einem A-Promi in den US-Medien. Das amerikanische Nachrichtenpublikum wurde mit Bildern eines Mannes überhäuft, der von den tragischen Ereignissen überwältigt und möglicherweise überfordert war, aber letztlich sympathisch wirkte. Es dauerte nicht lange, bis sich dieses Bild in einen unermüdlichen Helden in Khaki-Montur verwandelte, der eine wehrhafte, kleine Demokratie regiert und im Alleingang die autokratischen Barbaren aus dem Osten abwehrt.

Doch hinter diesem von den westlichen Medien sorgfältig erstellten Bild verbirgt sich etwas viel Komplizierteres und weniger Schmeichelhaftes. Zelensky wurde mit 73 Prozent der Stimmen gewählt, weil er versprach, sich für den Frieden einzusetzen, während der Rest seines Programms vage blieb. Am Vorabend der Invasion war seine Zustimmungsrate jedoch auf 31 Prozent gesunken, weil er eine äußerst unpopuläre Politik verfolgte.

Die ukrainische Wissenschaftlerin Olga Baysha, Autorin von Democracy, Populism, and Neoliberalism in Ukraine (Demokratie, Populismus und Neoliberalismus in der Ukraine), hat Zelenskys Aufstieg zur Macht und die Art und Weise, wie er diese Macht seit seiner Wahl zum Präsidenten ausübt, untersucht. Im folgenden Interview spricht sie über Zelenskys Bekenntnis zum Neoliberalismus und seinen zunehmenden Autoritarismus, darüber, wie seine Handlungen zum aktuellen Krieg beigetragen haben, über seine kontraproduktive und selbstvergessene Führung während des Krieges, über die vielfältigen kulturellen und politischen Ansichten und Identitäten der Ukrainer, über die Partnerschaft zwischen Neoliberalen und der radikalen Rechten während und nach dem Maidan und darüber, ob eine russische Übernahme der gesamten Donbass-Region bei der lokalen Bevölkerung weniger populär sein könnte, als es 2014 der Fall gewesen wäre.

Erzählen Sie uns ein wenig über Ihren Hintergrund. Woher kommen Sie und was hat Sie auf Ihr derzeitiges Untersuchungsgebiet geführt?

Ich bin ethnische Ukrainerin, in Charkow geboren, einer ukrainischen Stadt an der Grenze zu Russland, wo mein Vater und andere Verwandte noch leben. Vor dem derzeitigen Krieg war Charkow eines der führenden Bildungs- und Wissenschaftszentren der Ukraine. Die Einwohner der Stadt sind stolz darauf, in der “intellektuellen Hauptstadt” der Ukraine zu leben. Im Jahr 1990 wurde dort der erste parteifreie Fernsehsender gegründet, und schon bald ging die erste Nachrichtensendung auf Sendung. Zu diesem Zeitpunkt hatte ich bereits mein Studium an der Universität Charkow abgeschlossen, und eines Tages wurde ich von einem Studienfreund eingeladen, als Journalistin für diese Sendung zu arbeiten. Am nächsten Tag begann ich, ohne vorherige Erfahrung, mit der Berichterstattung. Nach ein paar Monaten war ich bereits Nachrichtensprecherin. Meine kometenhafte Karriere war keine Ausnahme.

Die neuen, nicht kontrollierten Medien, deren Zahl täglich enorm zunahm, verlangten nach immer mehr Medienschaffenden. In den allermeisten Fällen handelte es sich um junge, ehrgeizige Menschen ohne jegliche journalistische Ausbildung oder Lebenserfahrung. Was uns einte, war der Wunsch, uns zu verwestlichen, das fehlende Verständnis für die gesellschaftlichen Widersprüche, die den postsowjetischen Übergang kennzeichnen, und die Taubheit gegenüber den Anliegen der arbeitenden Bevölkerung, die sich den Reformen widersetzte. Letztere waren in unseren Augen rückwärts gewandt: Sie verstanden nicht, was Zivilisation bedeutet. Wir sahen uns als revolutionäre Avantgarde und wählten fortschrittliche Reformer. Wir – die Medienschaffenden – waren es, die ein günstiges Umfeld für die Neoliberalisierung der Ukraine schufen, die als Verwestlichung und Zivilisation dargestellt wurde, mit allen katastrophalen Folgen für die Gesellschaft, die sie mit sich brachte. Erst Jahre später wurde mir das klar.

Später, als ich die Produktion historischer Dokumentarfilme in einem Kiewer Fernsehsender überwachte, erkannte ich, dass die Mythologie eines einseitig gerichteten, historischen Fortschritts und der Unvermeidlichkeit der Verwestlichung der “Barbaren” eine ideologische Grundlage für neoliberale Experimente nicht nur in den ehemaligen Sowjetstaaten, sondern auf der ganzen Welt bot. Dieses Interesse an der globalen Hegemonie der Ideologie der Verwestlichung führte mich zunächst zum Doktorandenprogramm für kritische Medienwissenschaft an der University of Colorado in Boulder und dann zu der Forschung, die ich jetzt betreibe.

Laut der wissenschaftlichen Arbeit einiger ukrainischer Soziologen haben Umfragen in der jüngeren Vergangenheit gezeigt, dass die meisten Ukrainer nicht sehr an der Frage der Identität interessiert sind, sondern sich eher mit Themen wie Arbeitsplätzen, Löhnen und Preisen beschäftigen. In Ihrer Arbeit geht es vor allem um die neoliberalen Reformen, die in der Ukraine seit 2019 gegen den Willen der Bevölkerung durchgeführt werden. Können Sie uns sagen, wie die meisten Ukrainer über wirtschaftliche Fragen denken und warum?

In den sozialen Milieus, in denen ich lebte – im Osten der Ukraine, auf der Krim und in Kiew – gab es nur sehr wenige Menschen, die sich mit den Fragen der ethnischen Identität beschäftigten. Ich betone nicht umsonst “meine sozialen Milieus”. Die Ukraine ist ein komplexes und geteiltes Land, in dem der weit voneinander entfernte Osten und Westen vollkommen gegensätzliche Ansichten zu allen gesellschaftlich bedeutsamen Fragen vertreten. Seit der Erklärung der Unabhängigkeit der Ukraine im Jahr 1991 konkurrieren in der Ukraine zwei Vorstellungen von nationaler Identität: eine “ethnisch ukrainische” versus einer “ostslawischen”. Die ethnisch ukrainische nationale Idee beruht auf der Vorstellung, dass die ukrainische Kultur, Sprache und ethnisch geprägte Geschichte die dominierenden integrierenden Kräfte im ukrainischen Nationalstaat sein sollten und ist im Westen der Ukraine wesentlich populärer gewesen. Die ostslawische Vorstellung, nach der die ukrainische Nation auf zwei primären ethnischen Gruppen, Sprachen und Kulturen – dem Ukrainischen und dem Russischen – beruht, wurde im ukrainischen Südosten als normal akzeptiert. Im Großen und Ganzen kann ich jedoch zustimmen, dass die meisten Ukrainer viel mehr mit wirtschaftlichen Fragen beschäftigt sind, was schon immer der Fall war.

In der Tat war die Unabhängigkeit der Ukraine 1991 zu einem großen Teil auch eine Frage wirtschaftlicher Erwägungen. Viele Ukrainer unterstützten die Idee der politischen Loslösung von Russland, weil sie sich davon eine Verbesserung der wirtschaftlichen Lage der Ukraine versprachen – so versprachen es uns propagandistische Flugblätter. Diese wirtschaftliche Hoffnung hat sich nicht erfüllt. Der Zusammenbruch der Sowjetunion hat das Leben der Menschen in vielerlei Hinsicht radikal zum Schlechteren verändert, weil die Ukraine neoliberalisiert wurde – durch die Vermarktlichung des sozialen Bereichs und die Zerschlagung des sowjetischen Sozialstaates.

Was die von Zelensky initiierten neoliberalen Reformen angeht, so lässt sich ihre Beliebtheit anhand von Meinungsumfragen beurteilen: bis zu 72 % der Ukrainerinnen und Ukrainer haben seine Landreform, das Aushängeschild von Zelenskys neoliberalem Programm, nicht unterstützt. Nachdem seine Partei sie trotz der Empörung der Bevölkerung gebilligt hatte, fiel Zelenskys Umfragewert von 73 Prozent im Frühjahr 2019 auf 23 Prozent im Januar 2022. Der Grund dafür ist einfach: ein tiefes Gefühl des Verrats. In seinem inoffiziellen Wahlprogramm – der Sendung “Diener des Volkes” – versprach Zelesnky-Holoborodko [Holoborodko war Zelenskys Figur in der Fernsehsendung], dass er, wenn er das Land nur eine Woche lang regieren könnte, “den Lehrer zum Präsidenten machen würde und den Präsidenten zum Lehrer”. Um es milde auszudrücken, dieses Versprechen wurde nicht eingelöst. Die Menschen erkannten, dass sie wieder einmal betrogen wurden – die Reformen wurden nicht im Interesse der Ukrainer, sondern des globalen Kapitals durchgeführt.

Inwieweit glauben Sie, dass sich die Priorisierung der wirtschaftlichen Sicherheit über Fragen der Identität mit der russischen Invasion verändert hat? Wie wird sich das Ihrer Meinung nach auf die politische Zukunft der Nationalisten/Ultranationalisten im Vergleich zu den gemäßigten oder linken Kräften auswirken?

Das ist eine interessante Frage. Einerseits geht es den Menschen jetzt in erster Linie ums Überleben, was die Sicherheit zu ihrer Hauptsorge macht. Um ihr Leben zu retten, haben Millionen von Ukrainern, darunter meine Mutter und meine Schwester mit Kindern, die Ukraine in Richtung Europa verlassen. Viele von ihnen sind bereit, für immer dort zu bleiben, fremde Sprachen zu lernen und sich an eine fremde Lebensweise anzupassen – all diese Entwicklungen stellen kaum die Sorge um die Identität in den Vordergrund. Auf der anderen Seite ist aber auch die Intensivierung ethnischer Stimmungen und die Stärkung der Nation angesichts der Invasion offensichtlich. Ich kann dies anhand der öffentlichen Diskussionen in den sozialen Medien beurteilen – einige Charkower, die ich persönlich kenne, haben sogar damit begonnen, Beiträge auf Ukrainisch zu verfassen, das sie zuvor nie verwendet hatten, um ihre nationale Identität zu betonen und zu signalisieren, dass sie gegen jede ausländische Invasion sind.

Dies ist ein weiterer tragischer Aspekt dieses Krieges. Die Maidan-Revolution von 2014, die von vielen Menschen im Südosten nicht unterstützt wurde, verwandelte diese Menschen in “Sklaven”, “sovki” (laut Wordesense.eu „eine Person, die unkritisch sowjetische Werte unterstützt oder eine sowjetische Mentalität hat“, A.d.Ü.) und “vatniki” (patriotischer Hinterwäldler , ein Mensch, der dumm ist und sein Vaterland blind liebt, A.d.Ü.) – abwertende Begriffe, die ihre Rückständigkeit und Barbarei bezeichnen. So sahen die Maidan-Revolutionäre, die sich selbst als fortschrittliche Kraft der Geschichte betrachteten, die Anti-Maidan-“Anderen”, weil sie an der russischen Sprache und Kultur festhielten. Niemals hätte sich diese pro-russische Bevölkerung vorstellen können, dass Russland ihre Städte bombardieren und ihr Leben ruinieren würde. Die Tragödie dieser Menschen ist eine doppelte: Zunächst wurde ihre Welt durch den Maidan symbolisch zerstört, jetzt wird sie von Russland physisch zerstört.

Die Folgen dieser Entwicklungen sind noch unklar, denn es ist unklar, wie der Krieg enden wird. Wenn die südöstlichen Regionen in der Ukraine verbleiben, wird der Ruin all dessen, was sich dem aggressiven Nationalismus widersetzt, höchstwahrscheinlich vollendet werden. Dies wird wahrscheinlich das Ende dieser einzigartigen Grenzkultur sein, die nie vollständig ukrainisiert oder russifiziert werden wollte. Wenn Russland die Kontrolle über diese Regionen erlangt, wie es sich jetzt brüstet, kann ich kaum vorhersagen, wie es mit dem Widerstand der Massen umgehen wird – zumindest in erheblich beschädigten Städten wie Charkow.

Kommen wir zu Zelensky im Besonderen: Sie weisen in Ihrem Buch darauf hin, dass Zelensky als eine Art Rattenfänger fungierte, indem er seine Berühmtheit und seine schauspielerischen Fähigkeiten nutzte, um die Menschen dazu zu bringen, ihn im Namen einer vagen Wohlfühl-Agenda (Frieden, Demokratie, Fortschritt, Korruptionsbekämpfung) zu unterstützen, was jedoch eine andere Agenda verdeckte, die nicht populär gewesen wäre, nämlich eine neoliberale Wirtschaftsagenda. Wie hat er das gemacht – wie hat er seine Kampagne geführt und was waren seine Prioritäten, nachdem er ins Amt gekommen war?

Das Hauptargument in meinem kürzlich erschienenen Buch ist, dass der erstaunliche Sieg von Zelensky und seiner Partei, die später in eine parlamentarische Maschine umgewandelt wurde, um neoliberale Reformen (in einem “Turboregime”, wie sie es nannten) durchzupeitschen und abzusegnen, nicht anders erklärt werden kann als durch den Erfolg seiner Fernsehserie, die, wie viele Beobachter glauben, als Zelenskys informelle Wahlplattform diente. Anders als sein offizielles Programm, das nur 1.601 Wörter umfasste und nur wenige politische Einzelheiten enthielt, vermittelten die 51 halbstündigen Episoden seiner Sendung den Ukrainern eine detaillierte Vision dessen, was getan werden sollte, damit die Ukraine vorankommen konnte.

Die Botschaft, die Zelensky den Ukrainern durch seine Fernsehserie vermittelt, ist eindeutig populistisch. Das ukrainische Volk wird darin als eine unproblematische Gesamtheit ohne innere Spaltung dargestellt, von der nur Oligarchen und korrupte Politiker/Beamte ausgeschlossen sind. Das Land wird erst gesund, wenn es sich der Oligarchen und ihrer Marionetten entledigt hat. Einige von ihnen werden inhaftiert oder fliehen aus dem Land; ihr Eigentum wird ohne Rücksicht auf die Legalität beschlagnahmt. Später wird Zelensky, der Präsident, dasselbe mit seinen politischen Rivalen tun.

Interessanterweise ignoriert die Fernsehserie das Thema des Donbass-Krieges, der 2014 ausbrach, ein Jahr bevor die Serie auf Sender ging. Da der Maidan und die Beziehungen zwischen Russland und der Ukraine sehr spaltende Themen in der ukrainischen Gesellschaft sind, ignorierte Zelensky sie, um die Einheit seiner virtuellen Nation, seiner Zuschauer und letztlich seiner Wähler nicht zu gefährden.

Zelenskys Wahlversprechen, im Grenzbereich zwischen virtueller und realer Welt, betrafen vor allem den “Fortschritt” der Ukraine, verstanden als “Modernisierung”, “Verwestlichung”, “Zivilisation” und “Normalisierung”. Dieser fortschrittliche Modernisierungsdiskurs ermöglichte es Zelensky, seine Pläne für neoliberale Reformen zu verschleiern, die nur drei Tage nach dem Amtsantritt der neuen Regierung in Angriff genommen wurden. Während des gesamten Wahlkampfes wurde die von Zelensky betonte Idee des “Fortschritts” nie mit Privatisierungen, Landverkäufen, Haushaltskürzungen usw. in Verbindung gebracht. Erst nachdem Zelensky seine Macht als Präsident gefestigt hatte, indem er die volle Kontrolle über die Legislative und die Exekutive erlangte, machte er deutlich, dass die “Normalisierung” und “Zivilisierung” der Ukraine die Privatisierung von Land und staatlichem/öffentlichem Eigentum, die Deregulierung der Arbeitsbeziehungen, eine Verringerung der Macht der Gewerkschaften, eine Erhöhung der Tarife öffentlicher Versorger usw. bedeutete.

Sie haben darauf hingewiesen, dass nach dem Putsch 2014 und vor Zelenskys Amtszeit viele Ausländer in wichtige wirtschaftliche und soziale Ämter berufen wurden. Ebenso haben viele von Zelenskys Beamten enge Verbindungen zu globalen neoliberalen Institutionen, und Sie haben angedeutet, dass es Beweise dafür gibt, dass sie Zelensky manipulieren, der ein geringes Verständnis von Wirtschaft/Finanzen hat. Können Sie diesen Aspekt der Auswirkungen des pro-westlichen Regierungswechsels im Jahr 2014 erörtern? Was sind die größeren Interessen, die hier im Spiel sind, und haben sie überhaupt die Interessen der allgemeinen ukrainischen Bevölkerung im Sinn?

Der Machtwechsel auf dem Maidan im Jahr 2014 markierte den Beginn einer völlig neuen Ära in der Geschichte der Ukraine, was den Einfluss des Westens auf die souveränen Entscheidungen des Landes betrifft. Allerdings hat es diesen Einfluss schon immer gegeben, seit die Ukraine 1991 ihre Unabhängigkeit erklärt hat. Die amerikanische Handelskammer, das Zentrum für die Beziehungen zwischen den USA und der Ukraine, der US-Ukraine Business Council, die European Business Association, der IWF, die EBWE, die WTO und die EU – all diese Lobby- und Regulierungsinstitutionen haben die politischen Entscheidungen der Ukraine maßgeblich beeinflusst.

Vor dem Maidan hatte das Land jedoch noch nie ausländische Staatsbürger in hohe Ministerämter berufen – dies wurde erst nach dem Maidan möglich. Im Jahr 2014 wurde die US-Bürgerin Natalie Jaresko zur ukrainischen Finanzministerin ernannt, der litauische Staatsbürger Aivaras Abromavicius zum ukrainischen Minister für Wirtschaft und Handel und der georgische Staatsbürger Alexander Kvitashvili zum Minister für Gesundheitswesen. Im Jahr 2016 wurde Ulana Suprun, eine US-Bürgerin, zur amtierenden Gesundheitsministerin ernannt. Andere Ausländer übernahmen Ämter mit niedrigeren Rängen. Es erübrigt sich zu erwähnen, dass all diese Ernennungen nicht auf den Willen der Ukrainer, sondern auf die Empfehlungen der globalen neoliberalen Institutionen zurückgehen, was nicht verwunderlich ist, wenn man bedenkt, dass der Maidan selbst von der Hälfte der ukrainischen Bevölkerung nicht unterstützt wurde.

Wie bereits erwähnt, wohnen die meisten dieser Anti-Maidan-“Anderen” in den südöstlichen Regionen. Je weiter man nach Osten blickte, desto stärker und einheitlicher war die Ablehnung des Maidan und seiner europäischen Agenda. Mehr als 75 Prozent der Bewohner der Oblaste Donezk und Luhansk (zwei östliche Regionen der Ukraine, die überwiegend von russischsprachigen Menschen bewohnt werden) lehnten den Maidan ab, und nur 20 Prozent der Bewohner der Krim unterstützten ihn.

Diese statistischen Zahlen, die vom Kiewer Institut für Soziologie im April 2014 vorgelegt wurden, hinderten die westlichen Machtinstitutionen nicht daran, den Maidan als Aufstand des “ukrainischen Volkes” darzustellen, das als unproblematische Gesamtheit präsentiert wurde – ein sehr wirkungsvoller ideologischer Trick. Als Mitglieder der “internationalen Gemeinschaft” den Maidan-Platz besuchten und die Revolutionäre zum Protest ermutigten, missachteten sie Millionen von Ukrainern, die gegen den Maidan waren, und trugen so zur Eskalation des Bürgerkriegs bei, der schließlich zu der Katastrophe führte, die wir heute hilflos beobachten.

Wie steht es mit den ausländischen Interessen, die in die Neoliberalisierung der Ukraine investiert haben, welche im Namen des ukrainischen Volkes durchgeführt wurde? Sie sind vielfältig, aber hinter der Bodenreform, die ich sorgfältig analysiert habe, standen Finanzlobbys im Westen. Westliche Pensionsfonds und Investmentfonds wollten Gelder, die an Wert verloren, anlegen. Auf der Suche nach Vermögenswerten, in die sie investieren konnten, holten sie sich die Unterstützung des IWF, der Weltbank, der EBWE und verschiedener Lobbygruppen, um ihre Interessen durchzusetzen und alle notwendigen Voraussetzungen zu schaffen. Das hat natürlich nichts mit den Interessen der Ukrainer zu tun.

Wie steht es unter Zelensky um Demokratie – Rede- und Pressefreiheit, politischen Pluralismus und die Behandlung verschiedener politischer Parteien? Wie sieht das im Vergleich zu früheren Präsidenten der postsowjetischen Ukraine aus?

Ich stimme Jodi Dean zu, die argumentiert, dass Demokratie eine neoliberale Fantasie in dem Sinne ist, dass sie in neoliberalen Regierungssystemen, die nicht von Menschen, sondern von supranationalen Institutionen kontrolliert werden, nicht existieren kann. Wie bereits erwähnt, wurde dies nach dem Maidan besonders deutlich, als Außenminister von diesen Institutionen ernannt wurden, um ihre Interessen in der Ukraine zu vertreten. In seinem Reformeifer ging Zelensky jedoch noch weiter. Anfang Februar 2021 wurden zunächst drei oppositionelle Fernsehsender – NewsOne, Zik und 112 Ukraine – abgeschaltet. Ein weiterer oppositioneller Sender, Nash, wurde Anfang 2022, also noch vor Beginn des Krieges, verboten. Nach Ausbruch des Krieges wurden im März Dutzende unabhängiger Journalisten, Blogger und Analysten verhaftet; die meisten von ihnen vertreten linke Ansichten. Im April wurden auch die rechtsgerichteten Fernsehsender Kanal 5 und Pryamiy geschlossen. Darüber hinaus unterzeichnete Zelensky ein Dekret, das alle ukrainischen Sender dazu verpflichtete, einen einzigen Telethon auszustrahlen, der nur eine regierungsfreundliche Sichtweise des Krieges präsentiert.

All diese Entwicklungen sind in der Geschichte der unabhängigen Ukraine beispiellos. Zelenskys Befürworter argumentieren, dass alle Verhaftungen und Medienverbote aus Gründen der militärischen Zweckmäßigkeit abgetan werden sollten, wobei sie die Tatsache ignorieren, dass die ersten Medien ein Jahr vor der russischen Invasion abgeschaltet wurden. Meines Erachtens nutzt Zelensky diesen Krieg nur, um die diktatorischen Tendenzen innerhalb seines Regierungsregimes zu stärken, die sich unmittelbar nach seiner Machtübernahme herausbildeten, als er einen Parteiapparat schuf, um das Parlament zu kontrollieren und neoliberale Reformen ohne Rücksicht auf die Stimmung in der Bevölkerung abzusegnen.

Der Nationale Sicherheits- und Verteidigungsrat (NSDC) wurde von Zelensky im Jahr 2021 eingesetzt, um bestimmte Personen – meist politische Rivalen – zu sanktionieren. Können Sie erklären, was der NSDC ist, warum Zelensky dies tat und ob es legal war oder nicht?

Nachdem seine Unterstützung in der Bevölkerung im Jahr 2021 stark zurückgegangen war, leitete Zelensky das verfassungswidrige Verfahren der außergerichtlichen Sanktionen gegen seine politischen Gegner ein, die vom Nationalen Sicherheits- und Verteidigungsrat (NSDC) verhängt wurden. Diese Sanktionen umfassten die außergerichtliche Beschlagnahme von Eigentum, ohne dass es Beweise für illegale Aktivitäten der betreffenden natürlichen und juristischen Personen gab. Zu den ersten, die vom NSDC sanktioniert wurden, gehörten zwei Parlamentsabgeordnete der Oppositionsplattform “Für das Leben” (OPZZh) – Viktor Medwedtschuk (später verhaftet und nach dem Verhör mit zusammengeschlagenem Gesicht im Fernsehen gezeigt) und Taras Kozak (dem die Flucht aus der Ukraine gelang) sowie deren Familienangehörige. Dies geschah im Februar 2021; im März 2022 wurden 11 oppositionelle Parteien verboten. Die Beschlüsse über das Verbot der Oppositionsparteien und die Bestrafung der Oppositionsführer wurden vom NSDC gefasst und durch Präsidialdekrete in Kraft gesetzt.

In der ukrainischen Verfassung heißt es, dass der Rat für nationale Sicherheit und Verteidigung ein Koordinierungsgremium ist: Er “koordiniert und kontrolliert die Tätigkeit der Organe der Exekutivgewalt im Bereich der nationalen Sicherheit und Verteidigung”. Koordination hat nichts mit der Verfolgung politischer Gegner und der Beschlagnahmung ihres Eigentums zu tun – etwas, was das NSDC seit 2021 tut. Es versteht sich von selbst, dass dies verfassungswidrig ist – nur Gerichte dürfen entscheiden, wer schuldig ist oder nicht, und Eigentum beschlagnahmen. Das Problem ist jedoch, dass die ukrainischen Gerichte nicht darauf vorbereitet waren, Zelenskys Marionetten zu spielen. Nachdem der Vorsitzende des ukrainischen Verfassungsgerichts, Oleksandr Tupytskyi, Zelenskys verfassungswidrige Reformen als “Staatsstreich” bezeichnet hatte, blieb Zelensky nichts anderes übrig, als sich auf das NSDC zu verlassen, um seine unpopuläre Politik voranzutreiben. Und was geschah mit dem “Dissidenten” Tupytskyi? Am 27. März 2021 unterzeichnete Zelensky – ebenfalls unter Verstoß gegen die ukrainische Verfassung – ein Dekret, mit dem seine Ernennung zum Richter des Verfassungsgerichts aufgehoben wurde.

Unter Stalin schuf das Volkskommissariat für Innere Angelegenheiten (NKWD) “Troikas”, um Menschen nach vereinfachten, schnellen Ermittlungen und ohne einen öffentlichen und fairen Prozess zu verurteilen. Was wir im Fall des NSDC beobachten, ist eine ganz ähnliche Entwicklung, nur dass an den verfassungswidrigen Prozessen des NSDC eine größere Zahl von Personen teilnimmt – alle Schlüsselfiguren des Staates, darunter der Präsident, der Premierminister, der Leiter des ukrainischen Sicherheitsdienstes, der Generalstaatsanwalt der Ukraine usw. Eine einzige Sitzung des NSDC kann über das Schicksal von Hunderten von Menschen entscheiden. Allein im Juni 2021 setzte Zelensky einen NSDC-Beschluss zur Verhängung von Sanktionen gegen 538 Einzelpersonen und 540 Unternehmen in die Tat um.

Ich möchte Sie zu der “Friedensstifter”-Liste (Myrotvorets) befragen, die Berichten zufolge mit der ukrainischen Regierung und dem Geheimdienst SBU verbunden ist. Soweit ich weiß, handelt es sich dabei um eine Liste von “Staatsfeinden”, auf der die persönlichen Daten dieser Feinde veröffentlicht werden. Mehrere der Personen, die auf dieser Liste standen, wurden anschließend ermordet. Können Sie uns etwas über diese Liste erzählen, wie die Leute darauf landen und wie sie zu einer Regierung passt, von der man uns sagt, sie sei demokratisch?

Die nationalistische Website Myrotvorets wurde 2015 laut UN-Bericht “von einem Volksvertreter, der als Berater des ukrainischen Innenministeriums tätig ist”, ins Leben gerufen. Dieser Volksvertreter ist Anton Geraschtschenko, ein früherer Berater des ehemaligen Innenministers Arsen Awakow. Unter dessen Schirmherrschaft wurden 2014 nationalistische Strafbataillone geschaffen, die in den Donbass geschickt wurden, um den Widerstand der Bevölkerung gegen den Maidan zu unterdrücken. Myrotvorets war Teil der allgemeinen Strategie zur Einschüchterung der Gegner des Putsches. Jeder “Volksfeind” – jeder, der es wagt, sich öffentlich gegen den Maidan zu äußern oder die nationalistische Agenda der Ukraine infrage zu stellen – kann auf dieser Website auftauchen. Die Adressen von Oles Buzina, einem bekannten Publizisten, der von Nationalisten in der Nähe seines Wohnhauses in Kiew erschossen wurde, und von Oleg Kalashnikov, einem oppositionellen Abgeordneten, der von Nationalisten in seinem Haus getötet wurde, waren ebenfalls auf Myrotvorets zu finden, was den Mördern half, ihre Opfer zu finden. Die Namen der Mörder sind bekannt; sie werden jedoch nicht inhaftiert, weil sie in der heutigen Ukraine, deren politisches Leben von Radikalen kontrolliert wird, als Helden gelten.

Die Website wurde auch nach einem internationalen Skandal nicht geschlossen, als Myrotvorets die persönlichen Daten bekannter ausländischer Politiker, darunter des ehemaligen deutschen Bundeskanzlers Gerhard Schröder, veröffentlichte. Aber im Gegensatz zu Herrn Schröder, der in Deutschland wohnt, können sich Tausende von Ukrainern, deren Daten auf Myrotvorets gespeichert sind, nicht sicher fühlen. Alle, die im März 2022 verhaftet wurden, wurden auch auf Myrotvorets aufgelistet. Einige von ihnen kenne ich persönlich – Yuri Tkachev, den Herausgeber der Odessaer Zeitung Timer, und Dmitry Dzhangirov, den Herausgeber von Capital, einem YouTube-Kanal.

Viele derjenigen, deren Namen auf Myrotvorets stehen, konnten nach dem Maidan aus der Ukraine fliehen; einige konnten dies nach den Massenverhaftungen im März tun. Einer von ihnen ist Tarik Nezalezhko, ein Kollege von Dzhangirov. Am 12. April 2022, als er bereits außerhalb der Ukraine in Sicherheit war, veröffentlichte er einen Beitrag auf YouTube, in dem er den ukrainischen Sicherheitsdienst als “Gestapo” bezeichnete und Ratschläge gab, wie man vermeiden kann, von seinen Agenten festgenommen zu werden.

Das heißt, die Ukraine ist kein demokratisches Land. Je mehr ich beobachte, was dort vor sich geht, desto mehr denke ich an den Modernisierungskurs von Augusto Pinochet, der übrigens von unseren Neoliberalen bewundert wird (A.d.Ü: selbst Wikipedia verschweigt das nicht). Lange Zeit wurden die Verbrechen des Pinochet-Regimes nicht aufgeklärt. Aber am Ende hat die Menschheit die Wahrheit entdeckt. Ich hoffe nur, dass dies in der Ukraine früher geschehen wird.

Der ukrainische Akademiker Wolodymyr Ishchenko sagte kürzlich in einem Interview mit NLR, dass es im postsowjetischen Osteuropa, anders als in Westeuropa, eher eine Partnerschaft zwischen Nationalismus und Neoliberalismus gibt. Dies wurde sogar im Donbass bei den wohlhabenderen Bevölkerungsschichten beobachtet. Stimmen Sie dem zu? Wenn ja, können Sie erklären, wie sich diese Kombination entwickelt hat?

Ich stimme mit Wolodymyr überein. Was wir in der Ukraine beobachten, ist eine Allianz von Nationalisten und Liberalen, die auf ihrer gemeinsamen Intoleranz gegenüber Russland bzw. gegenüber allen, die für eine Zusammenarbeit mit Russland eintreten, beruht. Angesichts des derzeitigen Krieges mag diese Einheit von Liberalen und Nationalisten als gerechtfertigt erscheinen. Das Bündnis wurde jedoch lange vor diesem Krieg geschlossen – 2013, während der Entstehung der Maidan-Bewegung. Das vom Maidan befürwortete Assoziierungsabkommen mit der Europäischen Union wurde von den Liberalen vor allem unter den Gesichtspunkten der Demokratisierung, Modernisierung und Zivilisation gesehen – es sollte die Ukraine an europäische Regierungsstandards heranführen. Im Gegensatz dazu wurde die von Russland geführte Eurasische Wirtschaftsunion mit einem zivilisatorischen Rückschritt zum sowjetischen Etatismus und asiatischen Despotismus assoziiert. Hier trafen sich die Positionen von Liberalen und Nationalisten: Letztere unterstützten den Maidan nicht wegen der Demokratisierung, sondern wegen seiner klaren Anti-Russland-Haltung aktiv.

Von Beginn der Proteste an waren radikale Nationalisten die aktivsten Maidan-Kämpfer. Die Einheit zwischen Liberalen, die den Euromaidan mit Fortschritt, Modernisierung, Menschenrechten usw. assoziierten, und Radikalen, die die Bewegung für ihre nationalistische Agenda vereinnahmten, war eine wichtige Voraussetzung für die Umwandlung des Bürgerprotests in einen bewaffneten Kampf, der zu einem verfassungswidrigen Sturz der Macht führte. Die entscheidende Rolle der Radikalen in der Revolution wurde auch zu einem entscheidenden Faktor bei der Bildung der massenhaften Anti-Maidan-Bewegung im Osten der Ukraine gegen den “Staatsstreich”, wie der vorherrschende Anti-Maidan-Diskurs den Machtwechsel in Kiew bezeichnete. Zumindest teilweise ist das, was wir heute beobachten, ein tragisches Ergebnis dieser kurzsichtigen und unglücklichen Allianz, die während des Maidan gebildet wurde.

Können Sie Zelenskys Beziehung zu den Rechtsextremen in der Ukraine erläutern?

Zelensky selbst hat nie rechtsextreme Ansichten geäußert. In seiner Serie “Diener des Volkes”, die als inoffizielle Wahlkampfplattform genutzt wurde, werden die ukrainischen Nationalisten negativ dargestellt: Sie erscheinen als nichts anderes als dumme Marionetten der Oligarchen. Als Präsidentschaftskandidat kritisierte Zelensky das von seinem Vorgänger Poroschenko unterzeichnete Sprachengesetz, das die Kenntnis des Ukrainischen zur Voraussetzung für Beamte, Soldaten, Ärzte und Lehrer machte. “Wir müssen Gesetze und Entscheidungen initiieren und verabschieden, die die Gesellschaft konsolidieren, und nicht das Gegenteil”, forderte der Kandidat Zelensky im Jahr 2019.

Nach seinem Amtsantritt als Präsident wandte sich Zelensky jedoch der nationalistischen Agenda seines Vorgängers zu. Am 19. Mai 2021 verabschiedete seine Regierung einen Aktionsplan zur Förderung der ukrainischen Sprache in allen Bereichen des öffentlichen Lebens, der sich streng an Poroschenkos Sprachengesetz hält – zur Freude der Nationalisten und zum Entsetzen der Russophonen. Zelensky hat nichts unternommen, um die Radikalen für all ihre Verbrechen gegen politische Gegner und die Bevölkerung des Donbass zu belangen. Das Symbol für Zelenskys Rechtsruck war seine Unterstützung durch den Nationalisten Medwedko – einer derjenigen, die des Mordes an Buzina beschuldigt werden – der Zelenskys Verbot der russischsprachigen Oppositionskanäle im Jahr 2021 öffentlich billigte.

Die Frage ist, warum? Warum hat Zelensky eine Kehrtwende zum Nationalismus vollzogen, obwohl die Menschen hofften, dass er eine Politik der Versöhnung verfolgen würde? Wie viele Analytiker glauben, liegt dies daran, dass Radikale, obwohl sie die Minderheit der ukrainischen Bevölkerung darstellen, nicht zögern, Gewalt gegen Politiker, Gerichte, Strafverfolgungsbehörden, Medienmitarbeiter usw. anzuwenden – mit anderen Worten, sie sind einfach gut darin, die Gesellschaft, einschließlich der Träger der öffentlichen Gewalt, einzuschüchtern. Propagandisten mögen das Mantra “Zelensky ist ein Jude, also kann er kein Nazi sein” so oft wiederholen, wie sie wollen, aber die Wahrheit ist, dass Radikale den politischen Prozess in der Ukraine durch Gewalt gegen diejenigen kontrollieren, die es wagen, sich ihren nationalistischen und suprematistischen Agenden entgegenzustellen. Der Fall von Anatoliy Shariy – einem der populärsten Blogger in der Ukraine, der im Exil lebt – ist ein gutes Beispiel, um dies zu veranschaulichen. Nicht nur, dass er und seine Familienmitglieder ständig Morddrohungen erhalten, Radikale schüchtern auch ständig die Aktivisten seiner Partei ein (die im März 2022 von Zelensky verboten wurde), schlagen und demütigen sie. Die ukrainischen Radikalen nennen dies “politische Safari”.

Im Blick auf den Ukrainekonflikt, der im Falle einer Eskalation schwerwiegende Folgen haben kann, ist Zelensky derzeit die einflussreichste Figur auf der Weltbühne. Ich bin besorgt, dass er dieselben manipulativen Showbusiness-Fähigkeiten einsetzt, um Unterstützung für sein Image der personifizierten Inkarnation von Demokratie und Rechtschaffenheit gegen die Mächte des Bösen und der Autokratie zu gewinnen. Es ist wie ein Film, der auf einem Comicstrip basiert. Das ist genau die Art von Framing, das der Diplomatie zuwiderläuft. Glauben Sie, dass Zelensky als Kriegsführer der Ukraine eine konstruktive Rolle spielt oder nicht?

Ich verfolge regelmäßig die Kriegsreden von Zelensky und kann mit Sicherheit sagen, dass die Art und Weise, wie er den Konflikt darstellt, kaum zu einer diplomatischen Lösung führen kann, da er ständig wiederholt, dass die Kräfte des Guten von den Kräften des Bösen angegriffen werden. Es ist klar, dass es keine politische Lösung für ein solches Armageddon geben kann. Was in diesem mythischen Bezugsrahmen für den Krieg fehlt, ist der breitere Kontext der Situation: die Tatsache, dass die Ukraine sich seit Jahren weigert, die Minsker Friedensabkommen umzusetzen, die 2015 nach der Niederlage der ukrainischen Armee im Donbass-Krieg unterzeichnet wurden. Laut diesen Vereinbarungen sollte der Donbass eine politische Autonomie innerhalb der Ukraine erhalten – ein Punkt, der für Radikale unvorstellbar und inakzeptabel ist. Anstatt das von der UNO ratifizierte Dokument umzusetzen, kämpft Kiew seit acht langen Jahren entlang der Demarkationslinie gegen den Donbass. Das Leben der in diesen Gebieten lebenden Ukrainer hat sich in einen Albtraum verwandelt. Für die Radikalen, deren Bataillone dort gekämpft haben, verdienen die Menschen im Donbass – die als sovki und vatniki bezeichnet werden – keine Gnade und Nachsicht.

Der gegenwärtige Krieg ist eine Fortsetzung des Krieges von 2014, der begann, als Kiew Truppen in den Donbass schickte, um die Anti-Maidan-Rebellion unter der Prämisse der sogenannten “Anti-Terror-Operation” zu unterdrücken. Die Berücksichtigung dieses breiteren Kontextes setzt nicht voraus, dass man Russlands “Militäroperation” gutheißt, aber sie impliziert die Anerkennung, dass auch die Ukraine für die Geschehnisse verantwortlich ist. Die Frage des gegenwärtigen Krieges als Kampf der Zivilisation gegen die Barbarei oder der Demokratie gegen die Autokratie zu formulieren, ist nichts anderes als Manipulation, und das ist wesentlich für das Verständnis der Situation. Bushs Formel “Ihr seid entweder auf unserer Seite oder auf der Seite der Terroristen”, die Zelensky in seinen Appellen an die “zivilisierte Welt” propagiert, hat sich als sehr bequem erwiesen, wenn es darum geht, der persönlichen Verantwortung für die laufende Katastrophe auszuweichen.

Wenn es darum geht, der Welt diese eindimensionale Geschichte zu verkaufen, scheinen Zelenskys künstlerische Fähigkeiten von unschätzbarem Wert zu sein. Endlich ist er auf der Weltbühne, und die Welt applaudiert. Der ehemalige Komiker versucht nicht einmal, seine Genugtuung zu verbergen. Auf die Frage eines französischen Reporters am 5. März 2022 – dem zehnten Tag der russischen Invasion – wie sich sein Leben mit dem Beginn des Krieges verändert habe, antwortete Zelensky mit einem Lächeln der Freude: “Heute ist mein Leben schön. (Kurzfassung hier). Ich glaube, dass ich gebraucht werde. Ich glaube, das ist der wichtigste Sinn des Lebens – gebraucht zu werden. Zu spüren, dass man nicht nur eine Leere ist, die nur atmet, geht und etwas isst. Du lebst.”

Für mich ist diese Konstruktion beunruhigend: Sie impliziert, dass Zelensky die einmalige Gelegenheit genießt, auf einer globalen Bühne aufzutreten, die ihm der Krieg bietet. Der Krieg hat sein Leben schön gemacht; er lebt. Im Gegensatz zu Millionen von Ukrainern, deren Leben überhaupt nicht schön ist, und Tausenden von denen, die nicht mehr am Leben sind.

Alexander Gabuev hat angedeutet, dass die russische Führung einen Mangel an Wissen über die Ukraine hat. Ich habe auch von russischen Kommentatoren gehört, dass die Ukraine mit Bezug auf ihre pro-westliche Einstellung ein Überlegenheitsgefühl gegenüber der pro-russischen Seite pflegt. Glauben Sie, dass dies für eine der beiden Seiten ein wichtiger Faktor ist?

Ich bin geneigt zuzustimmen, dass die russische Führung die gesellschaftlichen Prozesse, die sich seit dem Maidan in der Ukraine vollzogen haben, nicht ausreichend verstanden hat. In der Tat hat die Hälfte der ukrainischen Bevölkerung den Maidan nicht begrüßt, und Millionen Menschen im Südosten der Ukraine wollten, dass Russland eingreift. Ich weiß das mit Sicherheit, denn alle meine Verwandten und alten Freunde leben in diesen Gebieten. Doch was 2014 galt, muss heute nicht mehr unbedingt der Fall sein. Acht Jahre sind vergangen, eine neue Generation junger Menschen ist herangewachsen, die in einem neuen sozialen Umfeld aufgewachsen ist, und viele Menschen haben sich einfach an die neuen Realitäten gewöhnt. Auch wenn die meisten von ihnen Radikale und die Politik der Ukrainisierung verachten, hassen sie den Krieg noch mehr. Die Realität vor Ort hat sich als komplexer erwiesen, als die Entscheidungsträger erwartet hatten.

Wie steht es mit dem Überlegenheitsgefühl derjenigen Ukrainer, die sich eher mit den Westlern als mit den Russen identifizieren?

Das stimmt, und das ist für mich der tragischste Teil der ganzen Post-Maidan-Geschichte, denn genau dieses Überlegenheitsgefühl hat die “fortschrittlichen” Pro-Maidan-Kräfte daran gehindert, eine gemeinsame Sprache mit ihren “rückständigen” prorussischen Landsleuten zu finden. Dies führte zum Aufstand im Donbass, zur “Anti-Terror-Operation” der ukrainischen Armee gegen den Donbass, zur Intervention Russlands, zu den Minsker Friedensabkommen, deren Nichterfüllung und schließlich zum aktuellen Krieg.

Titelbild: Dmytro Larin / Shutterstock


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