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Titel: Krieg um eine neue Weltordnung?

Datum: 27. März 2023 um 9:46 Uhr
Rubrik: Außen- und Sicherheitspolitik, Audio-Podcast, Militäreinsätze/Kriege, Wertedebatte
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Der European Council on Foreign Affairs (ECFR), eine paneuropäische Denkfabrik mit Hauptsitz in Berlin, publizierte jüngst einen bisher von der europäischen Öffentlichkeit unbeachteten „Policy Brief“, der es in sich hat. Es handelt sich um eine Umfragestudie mit dem vielsagenden Titel: „United West, divided from the Rest“ („Der Westen vereinigt, aber vom Rest getrennt“). Demnach sei der Westen angesichts des Krieges zwar enger zusammengerückt, jedoch verwandle sich die Welt in eine post-westliche, genauer in eine multipolare Welt und das Selbstbewusstsein der nicht-westlichen Staaten wachse. Und, der Krieg Russlands gegen die Ukraine erweise sich als Wendepunkt in der Weltgeschichte. Von Dr. Alexander S. Neu.

Dieser Beitrag ist auch als Audio-Podcast verfügbar.

Dieser Krieg katalysiert den seit über einem Jahrzehnt zu beobachtenden Prozess des Epochenbruchs in der Weltpolitik. Als ob es eine empirische Bestätigung für diese Studie des ECFR noch bedurfte, reiste kürzlich der chinesische Präsident Xi Jinping für drei Tage nach Russland. Dieser Antrittsbesuch Xi Jinpings nach Bestätigung seiner dritten Amtszeit als Präsident hat der Weltöffentlichkeit besonders dramatisch gezeigt, wie China sich zu Russland einerseits und zum Westen und dessen Weltordnungsvorstellung andererseits positioniert. Zum Abschluss der Reise sagte Xi Jinping zu W. Putin in wissentlicher Anwesenheit der Kameras und somit vor der Weltöffentlichkeit:

„Es steht ein Wandel bevor, den es seit 100 Jahren nicht mehr gegeben hat. Und wir werden diesen Wandel gemeinsam vorantreiben.”

Daraufhin W. Putin: „Ich stimme zu.“ Xi Jinping beschließt das Gespräch mit den Worten: „Bitte, pass auf dich auf, lieber Freund.“ W. Putin antwortet: „Ich wünsche Dir eine gute Reise!

Dieser Besuch Xis in Moskau und die damit einhergehenden chinesisch-russischen Beschlüsse, die demonstrierte persönliche Nähe Xis und Putins als auch die offene Kampfansage an den Westen dürften der globalpolitischen Mächteverschiebung einen gewaltigen Vorschub leisten. Xi Jinping hat auf diese Weise Russland und China zu einem anti-westlichen Block erklärt, der den Epochenwandel aktiv vorantreiben wird. Es ist nicht auszuschließen, dass dieses Treffen zwischen den beiden Präsidenten angesichts der offenen Kampfansage an den Westen als „Zeitenwende auf Chinesisch“ in dem Kampf um die künftige Weltordnung in die Geschichtsschreibung eingehen wird.

Doppelte Wirklichkeit

Der Krieg unterliegt einer doppelten Wirklichkeit in Raum- und Zeitdimensionen: In der westlichen Realität handelt es sich um einen Krieg zwischen Russland als Aggressor und der Ukraine als Opfer seit dem 24. Februar 2022 sowie dem Westen als selbstlose Hilfsorganisation für die überfallene Ukraine. Der Westen selbst versteht sich jedoch nicht als Kriegspartei. Der Krieg sei mithin regional.

In der Realität Russlands und Teilen des nicht-westlichen Lagers hingegen handelt es sich um einen Krieg zwischen Russland und dem Westen auf ukrainischem Boden, der das Verhältnis zwischen dem Westen und Russland bestimmt. Die Ukrainer dienen in der russischen Perspektive als Kanonenfutter im seit rund zwei Jahrzehnten schwelenden und nun offen ausgebrochenen Krieg zur Neuordnung und Neuaufteilung der Welt – womit der Krieg einen global-strategischen Charakter annimmt. Die Ukraine ist in der russischen Lesart gewissermaßen zum Schicksalsort für die Entscheidung der künftigen Weltordnung – unipolar oder multipolar/polyzentrisch – geworden.

Legt man die russische Perspektive zu Grunde, so wäre die Ukraine als Schlachtfeld im global-strategischen Kampf auch mit der vom Westen unterstützten abtrünnigen chinesischen Provinz Taiwan austauschbar. Unter diesem Gesichtspunkt ist es wohl nur ein Zufall, dass der Waffengang um die global-strategische Ausrichtung zuerst um die Ukraine und nicht um Taiwan ausgefochten wird.

Stellt man beide Realitäten gegenüber, so könnte man den Eindruck gewinnen, es träfen beide Realitäten zu: Natürlich hat Russland die Ukraine militärisch angegriffen und Territorien okkupiert und annektiert. Und natürlich sind alle drei Maßnahmen zweifelsohne ein massiver Bruch des internationalen Rechts. Und mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit gibt es Kriegsverbrechen – sowohl gegen gefangene Kombattanten als auch gegen die Zivilbevölkerung – und auch von beiden Seiten. Diese traurige Wirklichkeit ist ein fester Bestandteil des Krieges. Damit ist der Krieg zwischen der Ukraine und Russland als offener Krieg und somit als Realität nicht zu leugnen, wie auch?

Die westliche Realitätsbeschreibung – oder in Neudeutsch: das westliche Narrativ – wird allerdings durch zwei im Westen produzierte Faktoren selbst infrage gestellt: Erstens, die massive militärische Unterstützung des Westens gegenüber der Ukraine in Form von Waffenlieferungen – wohl nun auch abgereicherte Uran-Munition, womit der Konflikt auch eine nukleare Dimension light annimmt – militärischer Ausbildung, Weitergabe von Aufklärungsdaten, Anwesenheit westlicher Söldner, mutmaßlich verdeckte Operationsführung westlicher Militärs wohl selbst auf ukrainischem Boden bis hin zur wachsenden Gefahr eines tatsächlichen Entgleisens des Krieges zwischen Russland und der NATO in einen 3. Weltkrieg einerseits. Und die unzähligen Wirtschaftssanktionen gegen Russland auch unter Inkaufnahme heftiger Bumerangeffekte auf den europäischen und auch deutschen Wohlstand (Energieimportboykott) erscheinen mir mit einer die „Ukraine verteidigt auch westliche (in den Worten von von der Leyen sogar „globale“) Werte“-Rhetorik nicht hinreichend erklärbar.

Ein so heftiges Engagement des Westens für die „Gerechtigkeit“ ist unter realpolitischem Gesichtspunkt schlichtweg Nonsens! Es muss um mehr gehen. Und es geht um mehr. So manches Mal konzedieren politische Exponenten des Westens dann doch im Eifer des Gefechts den Stellvertreterkrieg zwischen dem Westen und Russland: So vor einigen Monaten die Aussage des NATO-Generalsekretärs Jens Stoltenberg, wonach „Russlands Sieg eine Niederlage der NATO“ sei. EU-Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen erklärte in ihrer Rede zur Lage der Nation: „Putin wird scheitern, Europa und die Ukraine (sic! Genau in dieser Reihenfolge) werden gewinnen“, womit ebenfalls das Schicksal der EU auf den ersten Blick ohne Nöte an das der Ukraine gekoppelt wird. Diese Schicksalskoppelung macht nur Sinn, wenn es um das ganz große Spiel geht.

Dass es um mehr als die Ukraine und um mehr als weiche Werte geht, ist ziemlich eindeutig: So erklärte die Präsidentin der Europäischen Kommission, von der Leyen, in einer Grundsatzrede an der Princeton-Universität in New Jersey:

„Die Ukrainer kämpfen also um ihr Überleben, aber sie kämpfen auch für globale Werte. Es ist nicht nur ein Krieg, den Russland gegen die Ukraine entfesselt hat. Es ist ein Krieg gegen unsere Werte; es ist ein Krieg gegen die auf Regeln basierende internationale Ordnung.“

Und hier liegt der wahre Grund für das westliche Engagement: Nicht die vielbeschworenen Werte, sondern die „regelbasierte internationale Ordnung“. Dass von der Leyen mit der „regelbasierten internationalen Ordnung“ nicht unbedingt das moderne und universelle Völkerrecht meint, dürfte sich alleine daraus ergeben, dass sie eben nicht von dem Völkerrecht spricht, sondern von der „regelbasierten internationalen Ordnung“. Denn, wenn sie vom Völkerrecht spräche, so wäre hier ein großer Elefant im Raume, von dem jeder weiß, dass er existiert: Der von den USA geführte Westen verfügt wohl über die längste Liste von ernsthaften Völkerrechtsbrüchen seit dem Ende des 2. Weltkrieges.

Mein Hinweis auf das westliche Sündenregister stellt keine Relativierung der unbestreitbaren Völkerrechtswidrigkeit des russischen Angriffskrieges dar, muss aber bei aller Kritik an dem russischen Rechtsbruch Erwähnung finden, um das gesamte Bild zu zeichnen. Bedauerlicherweise hat sich in der westlichen Debattenkultur, insbesondere bei politisierenden Journalisten, eine diskursive Unart festgesetzt: Diejenigen, die das vollständige Bild darstellen, werden kurzerhand als Relativierer und „umstrittene“ Personen diffamiert, die angeblich eine Whataboutism-Taktik verfolgen. Mit dieser unterkomplexen, ja geradezu primitiven, jedoch durchaus effektiven rhetorischen Waffe soll eine seriöse Debatte und eine plurale Meinungsbildung verhindert werden.

Tatsächlich ist es umgekehrt: Nämlich jene, die ein interessendeterminiertes selektives Wirklichkeitsbild zeichnen, relativieren vielmehr Verbrechen und Rechtsbrüche, indem sie die Rechtsbrüche der einen Seite mit einer zwischenzeitlich gut eingeübten Empörungskultur per Knopfdruck skandalisieren und die Vergehen der anderen Seite schlichtweg „vergessen“.

Doch zurück zu der „regelbasierten internationalen Ordnung“ und der grundsätzlichen Frage, ob es sich um einen Regionalkrieg und/oder um einen Stellvertreterkrieg handelt: Diese in den letzten Jahren aufgekommene neue Wortkreation der „regelbasierten internationalen Ordnung“ weicht eindeutig vom modernen Völker- bzw. vom internationalen Recht ab. Denn die „regelbasierte internationale Ordnung“ ist die westliche Ordnungsvorstellung – mithin die Vorstellung von der unipolaren Weltordnung unter dem Führungs- und Gestaltungsanspruch der USA.

Sie ist also alles andere als eine Ordnung auf der Grundlage der UN-Charta und weiterer konsensualer multilateraler Abkommen. Und gegen diese westliche Ordnungsvorstellung, zumal einer unipolaren Weltordnungsvorstellung unter Führung des Westens, genauer der USA, verstößt Russland tatsächlich – und nicht nur Russland. Zunehmend macht sich gegen diesen westlichen Ordnungsanspruch Widerstand in der nicht-westlichen Welt breit. Der Versuch, Russland international zu isolieren, dürfte nicht nur als gescheitert betrachtet werden, sondern sogar den Westen selbst zunehmend isolieren, wie es die eingangs genannte Studie des ECFR darlegt.

Regional- und Stellvertreterkrieg sind kein Widerspruch

Welchen Charakter hat also der Krieg zwischen Russland und der Ukraine? Ich glaube, man muss schon von recht einfältiger Natur sein, perzipiert man den russisch-ukrainischen Krieg als einen bloßen Regionalkrieg zwischen beiden Staaten, statt eines auch globalen Stellvertreterkrieges. Auch die Äußerungen westlicher Politikentscheider können dem aufmerksamen Beobachter trotz der omnipräsenten Werterhetorik und dem stets hervorgehobenen und selbstverständlichen Recht der Ukraine auf Selbstverteidigung nicht verborgen bleiben: Es ist auch ein – noch mühevoll verdeckter – Krieg zwischen dem kollektiven Westen und dem Nicht-Westen, an dessen Spitze Russland und zunehmend auch China steht.

Es geht ums Ganze! Es geht um die Entscheidung zur künftigen Weltordnung: Eine Rückkehr zur bedingungslosen pax americana – also der US-geführten Unipolarität – oder um Durchsetzung einer multipolaren Weltordnung, in der China, Russland und andere Staaten der nicht-westlichen Welt auch ihren Gestaltungsanspruch geltend machen können. Dass nicht nur Russland, sondern auch die übrigen BRICS-Staaten und weitere Staaten des Nicht-Westens eine multipolare Weltordnung einfordern, wird nicht zuletzt an deren Verweigerungshaltung deutlich, sich westlichen Sanktionsforderungen gegen Russland zu unterwerfen. Ja, nicht einmal das NATO-Land Türkei beteiligt sich an den Sanktionen. Und auch das NATO- und EU-Mitgliedsland Ungarn widersetzt sich im Rahmen seiner Möglichkeiten der Sanktionspolitik. Diese Staaten akzeptieren ganz offensichtlich nicht länger das seit Jahrhunderten währende westzentrierte Weltbild und die westzentrierte Weltordnung in den internationalen Beziehungen. Der Ukraine-Krieg ist nicht ihr Krieg, wie es indessen der Westen in seinen Vorstellungen einer globalen Isolation Russlands fordert.

Es ist aber indirekt ihr Krieg, da es sich eben auf der globalstrategischen Ebene um die Neugestaltung der internationalen Ordnung handelt, an der sie partizipieren und auch partizipieren wollen. Und es ist auch ihr Krieg, da sie der Westen mit seiner Sanktionspolitik gegen Russland und den damit einhergehenden Sekundärsanktionen sowie der Androhung direkter Sanktionen gegen diese Staaten, sollten sie die westlichen Sanktionen gegen Russland unterlaufen, in den Krieg als Beteiligte gegen ihren Willen zwingt. Die westlichen unilateralen Sanktionen werden durch das Instrument der Sekundärsanktionen de facto zu multilateralen Sanktionen unter Ausschaltung des UN-Sicherheitsrates. Diese Sanktionspolitik des Westens schränkt die souveränen politischen und ökonomischen Handlungsfreiheiten der Staaten des Nicht-Westens ein, was eine weitere Entfremdung zwischen beiden Staatengruppen geradezu provoziert.

Interregnum im Nuklearzeitalter

Die Welt befindet sich nun sichtbar für alle in der Übergangsphase, einem globalen Interregnum: Die alte Epoche geht zu Ende, die neue Epoche ist erst in Umrissen erkennbar, die Entwicklungsrichtung scheint in den Augen des Westens indessen noch nicht entschieden zu sein – im Gegensatz zur nicht-westlichen Welt, wie die Studie des ECFR auch darlegt. Allein das westliche Selbstverständnis, basierend auf jahrhundertelanger Globaldominanz, erlaubt es schlichtweg nicht, den eigenen auch nur relativen Machtverlust ernsthaft zur Kenntnis zu nehmen.

Realität und Realitätswahrnehmung divergieren zunehmend, das zeigt auch die Studie des European Council on Foreign Relations: Während im Westen das Selbstverständnis als Nabel der Welt zumindest in den hiesigen Eliten ungebrochen ist, wendet sich der Rest der Welt von uns ab. Statt den Epochenbruch zu akzeptieren und diesen konstruktiv und kooperativ zu begleiten, um zu retten, was noch zu retten ist, nämlich die Verhinderung einer anti-westlichen Weltordnung, wird auf Konfrontation mit ungewissem Ausgang – inklusive der Gefahr eines Nuklearkrieges – gesetzt. Es soll abgewendet werden, was wahrscheinlich nicht mehr abwendbar ist. Und der Wandel zur multipolaren Ordnung ist meiner Auffassung nach nicht mehr abwendbar, ungeachtet des Ausgangs des Ukraine-Krieges. Eine kluge strategische Politik, zumindest in den europäischen Hauptstädten, sähe die Notwendigkeit einer konstruktiven und auf Schadensbegrenzung orientierten Politik – eine kluge Politik. Die aber scheint derweil keine Chance zu haben.

Die Entscheidungsschlacht über die künftige Ordnung überlagert derweil alle anderen regionalen und globalen Probleme – selbst die sich breitmachende Klimakatastrophe, die die Existenzfrage unseres Planeten zunehmend und spürbar berührt, wird in der Prioritätensetzung untergeordnet, was für das menschliche Schicksal fatal ist. Der Krieg selbst, die massive Aufrüstung dies- und jenseits der Frontlinie beschleunigen den Klimawandel sogar noch signifikant. Wertvolle Ressourcen, seien es menschliche, seien es finanzielle oder natürliche Ressourcen, werden für einen wahnsinnigen Hegemonialkrieg geopfert. Und damit meine ich ganz explizit beide Konfliktseiten in diesem Stellvertreterkrieg.

Titelbild: shutterstock / red-feniks


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