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Titel: Faktencheck der Faktenchecker: Wie der ARD-„Faktencheck“ zum russischen Botschafter sich selbst ad absurdum führt

Datum: 14. Mai 2025 um 10:09 Uhr
Rubrik: Medien und Medienanalyse, Medienkritik, Strategien der Meinungsmache
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Die ARD hat am 7. Mai einen „Faktencheck“ sowie eine „Einordnung“ zum Interview von Anne Will mit dem russischen Botschafter Sergej J. Netschajew veröffentlicht. Mit seiner pseudo-jugendlichen Sprache („Wir posten hier …“), seinem absoluten Wahrheitsanspruch („Richtig ist …“) sowie seinen faktischen, handwerklichen und sprachlichen Fehlern steht der besagte Faktencheck exemplarisch für den aktuellen Zustand dieser Form von Journalismus. Unfreiwillig komisch wird das Ganze noch dadurch, dass die ARD-Faktenchecker als Quellenbeleg für ihre Darstellung auf einen NDR-Beitrag von 2014 verweisen, der allerdings die kritisierte Darlegung des Botschafters und nicht die der Faktenchecker („Es gab keinen „Staatsstreich“ in der Ukraine“) stützt. Von Florian Warweg.

Der ARD-„Faktencheck“ unter dem Titel „Aussagen des russischen Botschafters im Faktencheck“ widmet sich unter anderem folgender Aussage des russischen Botschafters:

„Wir haben mit diesem Krieg überhaupt nicht angefangen. Es ging los ab 2014 mit einem Staatsstreich in der Ukraine, mit einem absolut verfassungswidrigen Staatsstreich.”

Daraufhin erklärt der „Faktencheck“ der ARD, dies sei eine Falschdarstellung, denn es hätte „keinen Staatsstreich“ gegeben:

„Richtig ist: Es gab keinen „Staatsstreich“ in der Ukraine. Ab Ende 2013 protestierten Ukrainerinnen und Ukrainer für einen pro-europäischen Kurs und gegen den russlandfreundlichen Präsidenten Viktor Janukowitsch. Dieser floh infolge der Proteste außer Landes. Das Parlament enthob ihn seines Amtes. Viele Ukrainerinnen und Ukrainer wollten eine Annäherung an die EU. Sie wählten den Pro-Europäer Petro Poroschenko zum Präsidenten. Russland drohte daraufhin mit „Konsequenzen“ und Ende Februar 2014 begann die Annektion der Krim durch russische Soldaten.“

Wenn „Faktenchecker“ die eigenen Quellenverweise nicht lesen…

Als Beleg für die Behauptung, dass es 2014 keinen Staatsstreich in der Ukraine gegeben hätte, verweisen die ARD-Faktenchecker ausgerechnet als erste Quelle auf einen Beitrag aus dem eigenen Haus, eine „Panorama“-Sendung vom 6. März 2014. Doch schon der Titel hätte die Faktenchecker stutzig machen sollen, denn der lautet (heute undenkbar): „Putsch in Kiew: Welche Rolle spielen die Faschisten?

Der „Panorama“-Beitrag belegt detailliert die zentrale Rolle von rechtsextremen Parteien- und paramilitärischen Gruppierungen beim gewalttätigen Maidan-„Umsturz“ sowie deren Verbindungen nach Deutschland zur NPD und verweist darauf, wie die Anführer dieser Neonazi-Gruppierungen mit Stand Frühling 2014 in zentrale Führungspositionen des ukrainischen Staates aufgerückt sind:

„Swoboda selbst stellt nun mehrere Regierungsmitglieder, darunter den Vizechef der Regierung und den Generalstaatsanwalt. Der Chef des “Rechten Sektor”, Dmitrij Jarosch, ist nun Vizechef des nationalen Sicherheitsrates, der wiederum vom Sicherheitsbeauftragten des Maidan, Andrej Parubi, geleitet wird – auch er ein Swoboda Gründungsmitglied. Parteichef Oleh Tjahnibok schimpfte einst über die “russisch-jüdische Mafia”, die die Ukraine kontrolliere.“

Als Experten befragte die „Panorama“-Redaktion in diesem Kontext, im heutigen Zeitenwende-Zeitgeist ebenso völlig undenkbar geworden, den deutsch-russischen Politologen Alexander Rahr und zitiert ihn wie folgt:

„Auch der Osteuropa-Experte Alexander Rahr sieht den “Rechten Sektor” als einen der wichtigen Akteure des Maidan: “Der rechte Sektor war aus meiner Sicht entscheidend für den Umsturz, weil er eine Organisation ist, die auch bereit war, in Kampfhandlungen mit den Polizisten, mit den Sicherheitskräften einzutreten. Sie waren gut organisiert, sie hatten auch immer wieder einen Plan, wie sie angriffen, wie sie sich verteidigten, sodass sie einen großen Anteil am Erfolg des Maidans gehabt haben.”

Ein Staatsstreich per definitionem

Die Brockhaus Enzyklopädie definiert Staatsstreich als „einen planmäßig gegen die Verfassung gerichteten Umsturz“. Und ein „Tagesschau“-Faktenfinder von 2023 zitiert den Direktor des Instituts für Osteuropäische Geschichte und Landeskunde an der Universität Tübingen, Klaus Gestwa, mit folgender Definition, wobei Putsch und Staatsstreich als Synonym genutzt werden:

„Unter einem Putsch versteht man, dass politische Funktionsträger die Möglichkeit einer instabilen politischen Situation nutzen, um (verfassungswidrig) an die Regierung zu kommen.”

Und genau dies geschah:

Nach der damals gültigen ukrainischen Verfassung (Artikel 108) konnte die Amtsperiode des Präsidenten nur aus vier Gründen vorzeitig beendet werden: wegen Rücktritts, aus gesundheitlichen Gründen, im Zuge eines Amtsenthebungsverfahrens oder, wenn der Amtsinhaber verstirbt. Doch keiner der vier Gründe traf auf die Absetzung von Janukowitsch zu. Weder war er zurückgetreten noch schwer erkrankt, und ein Amtsenthebungsverfahren hatten die damaligen Oppositionsführer Vitali Klitschko, Arsenij Jazenjuk und Oleg Tjagnibok auch nicht durchgeführt. Selbst ein Faktencheck des SPIEGEL zu der Thematik kommt zu dem Ergebnis, dass der Sturz von Janukowitsch verfassungswidrig war. Das Hamburger Magazin, Bezug nehmend auf eine entsprechende Aussage des russischen Präsidenten Wladimir Putin („Der einzig legitime Präsident der Ukraine ist juristisch gesehen zweifelsohne Janukowitsch”), schließt seinen Faktencheck mit dem Satz:

„Betrachtet man den Präsidentschaftswechsel in der Ukraine „rein juristisch“, hat Putin recht.“

Wissenschaftliche Dienste des Bundestags und Co-Verfasser der ukrainischen Verfassung decken Darstellung des russischen Botschafters

DIE ZEIT lässt im März 2014 in einem Artikel mit dem Titel „Kein Deal ohne Janukowitsch“ Malinkowitsch, Mitverfasser der ukrainischen Verfassung aus dem Jahr 2004 und vehementer Gegner von Janukowitsch, wie folgt zu Wort kommen:

„Der fatalste Verstoß war, Präsident Viktor Janukowitsch aus dem Amt zu entfernen, ohne dass dieser zurückgetreten wäre oder es eine formale Amtsenthebungsklage gab. Sein Nachfolger Alexander Turtschinow hat zwar auf legitimem Wege und im Rahmen des Abkommens das Amt des Parlamentssprechers erlangt, aber die Vollmachten des Präsidenten des Landes zu übernehmen, dazu hatte er kein Recht.

Folglich hatte auch das Parlament nicht die Legitimation, die Verteidigungs- und Außenminister zu ernennen sowie unter anderem den Generalstaatsanwalt, den Vorsitzenden der Staatssicherheit, die Gouverneure, die Zusammenstellung des Rates für Nationale Sicherheit und Verteidigung zu bestimmen und fast sämtliche Verfassungsrichter zu entlassen. Turtschinow hat kein Recht, vor der Amtsenthebung Janukowitschs das Amt des obersten Befehlshabers der ukrainischen Armee und des Vorsitzenden des Rates für Nationale Sicherheit und Verteidigung zu übernehmen. Die Anführer der Opposition (und somit auch die dazu gehörenden Rechtsradikalen) haben in ihren Händen die gesamte Staatsgewalt konzentriert.“

Zu einem ähnlichen Ergebnis gelangt auch ein juristischer Sachstand der Wissenschaftlichen Dienste des Bundestages von 2016. Unter dem Titel „Verfassungsrechtliche Fragen der Amtsenthebung des Präsidenten der Ukraine“ kommen die Rechtswissenschaftler des Bundestages zu folgender Einschätzung:

„Die Verfassung der Ukraine sieht in Art. 108 vier Möglichkeiten des vorzeitigen Amtsverlustes des Präsidenten vor: 1. Rücktritt; 2. Amtsunfähigkeit aus gesundheitlichen Gründen; 3. Amtsenthebung im Wege der Präsidentenanklage; 4. Tod.

Festhalten lässt sich, dass nach dem dargestellten Wortlaut der Verfassung keiner der vier Beendigungstatbestände einschlägig zu sein scheint. Insbesondere ist nicht ersichtlich, dass das in Art. 111 Verfassung der Ukraine beschriebene mehrstufige Impeachment-Verfahren durchgeführt worden wäre. Auch hat keine persönliche Verlesung eines Rücktrittsgesuchs in einer Sitzung des Parlaments durch Janukowitsch stattgefunden, wie es der Wortlaut des Art. 109 Verfassung der Ukraine für einen wirksamen Rücktritt fordert.“

Fazit

Die damaligen Oppositionsführer Klitschko, Jazenjuk und Tjagnibok nutzten die instabile Situation Ende Februar 2014, um den amtierenden Präsidenten abzusetzen und eine neue Interimsregierung zu installieren – all dies, ohne die dafür in der Verfassung festgelegten Grundlagen zu erfüllen. Damit ist auch die dann auf dieser Basis eingesetzte Interimsregierung verfassungsrechtlich nicht legitimiert. Dieser Vorgang erfüllt folglich definitorisch alle Bedingungen, um de jure von einem Staatsstreich zu sprechen.

Es wirft kein gutes Licht auf die – bezeichnenderweise namentlich nicht genannten – Autoren des ARD-Faktenchecks, dass diese in ihrer „Einordung“ allem Anschein nach weder die eigenen verlinkten Quellen (siehe den erwähnten „Panorama“-Beitrag) wirklich gelesen noch die recht einhellig erfolgte kritische Einschätzung der Vorgänge in der Kiewer Rada vom 21. bis 23. Februar 2014 durch die Wissenschaftliche Dienste des Bundestages sowie durch Experten der ukrainischen Verfassung in Medien wie ZEIT, FAZ und SPIEGEL aufgegriffen haben.

Stattdessen beschränkt sich die ARD in ihrem angeblichen „Faktencheck“ nur auf die Wiedergabe eigener Behauptungen – „Es gab keinen „Staatsstreich“ in der Ukraine“ –, ohne dafür auch nur einen einzigen konkreten und nachprüfbaren Beleg anzuführen. Wie man so ein Vorgehen ernsthaft als „Faktencheck“ im Sinne der Wortbedeutung bezeichnen kann, bleibt wohl das Geheimnis der hierfür redaktionell Verantwortlichen.

Daneben gibt es aber auch noch weitere Unstimmigkeiten in dem „Faktencheck“. Allein die erfolgte Benennung von Viktor Janukowitsch als „russlandfreundlich“ entspricht nicht den politischen Realitäten seines damaligen Handelns. Beispielhaft sei auf einen Artikel des Osteuropa-Korrespondenten des Deutschlandfunks (DLF), Florian Kellermann, von 2007 verwiesen. Unter dem Titel „Die bitteren Früchte der orangenen Revolution“ führt er unter Verweis auf den ukrainischen Politologen Kost Bondarenko aus, dass Janukowitsch ein Pragmatiker sei, der „zwischen Russland einerseits und dem Westen andererseits“ balanciere und etwa die Pläne der USA, in Polen eine Basis für das geplante Raketen-Abwehrsystem zu errichten, begrüßt hätte, was „natürlich ein Affront gegenüber Putin“ gewesen sei. Sogar einen NATO-Beitritt der Ukraine hatte der laut ARD-Faktencheck angeblich so „russlandfreundliche“ Präsident nicht ausgeschlossen.

Für den sprachlichen Niedergang (und das fehlende Lektorat) bei dem ARD-Faktencheck steht wiederum exemplarisch die Schreibweise „Annektion der Krim durch russische Soldaten“. Die im Deutschen übliche Bezeichnung ist „Annexion“ oder „Annektierung“ – die von den ARD-Faktencheckern gewählte Schreibweise „Annektion“ gibt es laut Duden überhaupt nicht:

Das mag nur eine Kleinigkeit sein, ist aber zugleich sinnbildlich für die enorme Kluft zwischen dem Anspruch als „Faktenchecker“ und der tristen Realität, in der die selbsternannten „Faktenchecker“ und „Faktenfinder“ der gebührenfinanzierten ARD bereits an der korrekten Schreibweise von Fachbegriffen scheitern, von korrekter, faktenbasierter Recherche und Quellenarbeit sprechen wir hier erst gar nicht. Sonst wären sie auch darauf gestoßen, dass es in der völkerrechtlichen Debatte durchaus gewichtige Stimmen gibt, die verneinen, dass es sich im Falle der Krim um eine „Annexion“ gehandelt habe – beispielhaft sei auf die Argumentation von Reinhard Merkel in der FAZ verwiesen.

Und damit sind wir bei dem grundlegenden Problem des ganzen bisherigen Konzepts „Faktencheck“ angekommen, welches fast immer in Schwarz/Weiß-Schemata agiert und keinerlei Platz für Ambivalenzen zulässt. Doch politische und geschichtliche Prozesse laufen eigentlich nie nach wahr/falsch-Dogmen oder wie im konkreten Fall „Richtig ist…“ ab. Doch die aktuell dominierenden „Faktenchecker“ machen genau dies, sie versuchen gegenüber den Lesern den Eindruck zu erwecken, dass es einfache Antworten auf hochkomplexe Fragestellungen und politich-geschichtliche Entwicklungen gäbe – und am Ende immer das westliche Herrschaftsnarrativ das richtige sei.

Titelbild: Screenshot ARD-Faktencheck


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