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Titel: Das gebrochene Gesellschaftsversprechen: Wie der Staat die Überreichen schützt
Datum: 16. Juli 2025 um 13:00 Uhr
Rubrik: Audio-Podcast, Erosion der Demokratie, Lobbyismus und politische Korruption, Soziale Gerechtigkeit, Steuern und Abgaben, Ungleichheit, Armut, Reichtum
Verantwortlich: Redaktion
Die Bundesrepublik versteht sich als soziale Marktwirtschaft, als Rechtsstaat und als Demokratie. Ihre Verfassung verpflichtet sie zur Sicherung gleichwertiger Lebensverhältnisse und zur Besteuerung nach Leistungsfähigkeit. Doch diese Versprechen sind eine Verhöhnung der Urteilskraft unserer Bürger – und das nicht zufällig. Hinter der Fassade ordnungspolitischer Rhetorik hat sich ein System etabliert, das Reichtum schützt, Umverteilung nach oben organisiert und demokratische Einflussmöglichkeiten systematisch untergräbt. Von Detlef Koch.
Dieser Beitrag ist auch als Audio-Podcast verfügbar.
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Wir erleben ein System, das den Interessen der finanzstarken Minderheit dient – nicht dem Gemeinwohl. In seiner Ausgestaltung ist es nicht nur ungerecht, sondern zutiefst verfassungswidrig und demokratiezersetzend. Die AfD wird es uns danken! Dieser Artikel rekonstruiert, wie kleine Machtzirkel aus Wirtschaft, Politik und Medien das Steuerrecht zur strategischen Selbstentlastung instrumentalisiert – und wie dabei ein Gesellschaftsvertrag zerfällt, der ohnehin nur für wenige galt.
Besonders drastisch ist die Umgehung der Grunderwerbsteuer durch sogenannte Share Deals: Während jede Privatperson beim Immobilienkauf zwischen 3,5 und 6,5 Prozent an den Fiskus zahlt, kaufen Großinvestoren Anteile an Immobiliengesellschaften – steuerfrei. Ja, richtig gehört – steuerfrei[1]. Die Regelung war politisch gewollt und blieb trotz Kritik jahrelang unangetastet. Auch im Erbschaftssteuerrecht offenbart sich die doppelte Moral: Große Unternehmensvermögen können über die sogenannten Verschonungsregelungen nahezu steuerfrei übertragen werden. Die Bedürftigkeitsprüfung, eingeführt nach einem Urteil des Bundesverfassungsgerichts, ist so konzipiert, dass sie selbst von Milliardenerben mit Leichtigkeit bestanden wird. Der Steuerstaat schützt dynastische Vermögensübertragung[2] – er unterbindet sie nicht. Wer bei „dynastische Vermögensübertragung“ an feudale Zeiten erinnert wird … Ja, so ist das auch gedacht!
Auch international bekannte Skandale wie Cum-Ex oder Cum-Cum waren keine Randphänomene, sondern Ausdruck einer Haltung: Steuervermeidung ist kein Notbehelf, sondern Bestandteil eines feudalen, ideologisch aufgeladenen Selbstverständnisses, das öffentliches Eigentum als Beute begreift, auf das man aufgrund seines Standes Anspruch hat. Die juristische Umgehung geht Hand in Hand mit der politischen: Lobbyisten aus Banken und Kanzleien schreiben mit an Gesetzestexten. Ex-Minister finden sich wenige Monate nach Amtsende in Aufsichtsräten. Eine Trennung zwischen legislativer Sphäre und wirtschaftlichen Interessen existiert allenfalls nur auf dem Papier.
Der politische Erfolg dieser Netzwerke zeigt sich nicht nur im Gesetzeswortlaut, sondern auch im Unterlassen: Share Deals wurden jahrelang nicht verhindert, die Abgeltungsteuer trotz verfassungsrechtlicher Zweifel nicht reformiert, die Gemeinnützigkeit wirtschaftslobbyistischer Stiftungen nicht hinterfragt. Die Vorstellung, dass es sich bei all dem um technische Details handele, ist gelinde gesagt naiv. Steuerpolitik ist Machtpolitik – und ihre Ausgestaltung Ausdruck gesellschaftlicher Kräfteverhältnisse.
Die Erzählung vom bedrohten Mittelstand ist ein weiterer Baustein. Reiche Familienunternehmen inszenieren sich als Rückgrat der Gesellschaft, obwohl ihre Eigentumsverhältnisse und Steuerstrukturen mit dem klassischen Mittelstand nichts mehr zu tun haben. Diese rhetorische Gleichsetzung vernebelt die Realität: Dass sich in Deutschland rund ein Drittel des gesamten Nettovermögens in den Händen des obersten Prozents konzentriert, bleibt in der öffentlichen Debatte weitgehend ausgeblendet.
Die Verfassungswidrigkeit wird hingenommen, wenn sie den Richtigen dient. Die Rechtsordnung erscheint selektiv. Während Sozialleistungsbeziehende unter Generalverdacht stehen, wird bei Steuervermeidern auf Augenhöhe verhandelt. Es ist ein doppelter Standard, der das Vertrauen in den Rechtsstaat untergräbt und manche Menschen in die Arme des Faschismus treibt.
Besonders alarmierend ist die mediale Normalisierung dieser Zustände. Hans-Werner Sinn oder andere treten in Talkshows als „neutrale Experten“ auf, während kapitalismuskritische Stimmen marginalisiert oder als populistisch diffamiert werden. So entsteht eine Meinungshegemonie, die Reformforderungen schon im Vorfeld delegitimiert. Die Demokratie wird nicht per Staatsstreich beschädigt, sondern durch informelle Herrschaftsverhältnisse vernichtet – und das ganz ohne Beobachtung durch den Verfassungsschutz.
Denn das Vertrauen in die demokratische Ordnung erodiert nicht nur in sozialen Randgruppen, sondern auch in der Mitte. Wenn Gerechtigkeit zur Simulation verkommt, wenn Gesetze vor allem den Besitzenden dienen, wenn politische Macht käuflich wird, dann steht mehr auf dem Spiel als nur fiskalische Fairness. Dann ist die Idee der Demokratie selbst beschädigt.
Es braucht eine radikale Revision der Steuerpolitik – nicht als technokratische Maßnahme, sondern als gesellschaftspolitisches Signal. Progression, Vermögensbesteuerung, die Schließung von Schlupflöchern, solide Personaldecke für die Steuerfahndung: All das sind keine Neidprojekte, sondern Voraussetzungen für eine Gesellschaft, in der Gleichheit mehr ist als ein Wort im Grundgesetz.
Ein neuer Gesellschaftsvertrag ist überfällig. Einer, der nicht fragt, wie viel Reichtum möglich ist, sondern wie viel Konzentration von Reichtum eine Demokratie erträgt. Ein Gesellschaftsvertrag, der Eigentum nicht abschafft, aber seine Grenzen klar definiert, und einer, der den Anspruch erhebt, Politik für alle zu machen – nicht nur für jene, die es sich leisten können, mitzureden. Noch hält die Bevölkerung still, aber wie lange wird das Unrecht ertragen?
Titelbild: Thorsten Schier/shutterstock.com
[«1] Während Privatpersonen beim Immobilienkauf stets der vollen Grunderwerbsteuerpflicht (zwischen 3,5 Prozent und 6,5 Prozent) unterliegen, nutzen Großinvestoren sogenannte Share Deals, bei denen statt des Grundstücks Anteile an grundbesitzenden Gesellschaften übertragen werden. Solange die Beteiligung unter 90 Prozent bleibt (bis Juli 2021: unter 95 Prozent), fällt keine Grunderwerbsteuer an. Diese legalen Gestaltungen führen laut Bundesfinanzministerium jährlich zu Steuerausfällen von bis zu 1 Mrd. Euro. Vgl. Bundesministerium der Finanzen: Interview mit Staatssekretärin Sarah Ryglewski zum Gesetz gegen Share Deals, Monatsbericht Oktober 2021, online: bundesfinanzministerium.de (Zugriff: 11.07.2025).
[«2] Das deutsche Erbschaftsteuerrecht gewährt für Betriebsvermögen weitreichende Steuervergünstigungen, die in der Praxis häufig zur nahezu steuerfreien Übertragung großer Familienvermögen führen. Nach dem Urteil des Bundesverfassungsgerichts vom 17. Dezember 2014 (Az. 1 BvL 21/12) verstießen die damals geltenden Verschonungsregelungen gegen den Gleichheitssatz (Art. 3 Abs. 1 GG), insbesondere weil selbst große Unternehmensvermögen ohne Bedürfnisprüfung vollständig steuerfrei bleiben konnten. Zwar wurde das Gesetz 2016 novelliert, doch zentrale Begünstigungen – etwa die Optionsverschonung – blieben erhalten. Laut Bundesfinanzministerium entfällt der Großteil des übertragenen Betriebsvermögens weiterhin auf verschonungsfähige Fälle. Vgl. Bundesverfassungsgericht, Urteil vom 17.12.2014, 1 BvL 21/12; Bundesministerium der Finanzen: Entwurf eines Gesetzes zur Anpassung des Erbschaftsteuer- und Schenkungsteuergesetzes an die Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts, BT-Drs. 18/5923, S. 34 f.
[«3] Laut Auswertung der Rechenschaftsberichte der CDU, CSU und FDP durch Finanzwende e. V. gingen zwischen 2012 und 2017 mindestens 2,8 Mio. € aus dem Umfeld der Stiftung Familienunternehmen an diese Parteien (CDU: 1,898 Mio. €, CSU: 85.000 €, FDP: 974.000 €). Diese Spenden stammen von Kuratoriums- oder Geschäftsführungsmitgliedern der Stiftung und belegen eine regelmäßige politisch-finanzielle Zuwendung. Vgl. Finanzwende e. V.: Analyse Parteispenden aus dem Umfeld der Stiftung Familienunternehmen, August 2024, online: Lobbypedia-Eintrag „Stiftung Familienunternehmen – Hohe Spenden an CDU, CSU und FDP“
[«4] „Dem Deutschen Volke“? Die ungleiche Responsivität des Bundestags – Lea Elsässer · Svenja Hense · Armin Schäfer
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