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Titel: Die russische Wirtschaft im Umbruch: Resilienz, Neuausrichtung und die Zukunft der Beziehungen (Teil 2)
Datum: 29. Juli 2025 um 14:33 Uhr
Rubrik: Außen- und Sicherheitspolitik, Audio-Podcast, Interviews, Veranstaltungshinweise/Veranstaltungen, Wirtschaftspolitik und Konjunktur
Verantwortlich: Redaktion
Im ersten Teil unseres Interviews mit Christoph Polajner von der Eurasien Gesellschaft haben wir über Russlands Sicht auf die sich wandelnde Weltordnung und die veränderten Beziehungen zum Westen gesprochen, wie sie auf dem Sankt Petersburger Wirtschaftsforum (SPIEF) diskutiert wurden. Im folgenden zweiten Teil beleuchtet Polajner die Rolle des Ukraine-Kriegs, die Resilienz der russischen Wirtschaft angesichts der Sanktionen und Russlands langfristige strategische Neuausrichtungen. Das Interview führte Éva Péli am 14. Juli 2025.
Dieser Beitrag ist auch als Audio-Podcast verfügbar.
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Éva Péli: Herr Polajner, war der Ukraine-Krieg ein dominantes Thema auf dem Forum, und welche Facetten des Konflikts wurden dabei von russischer Seite diskutiert?
Christoph Polajner: Ja, selbstverständlich, in den vergangenen und auch in diesem Jahr war der Konflikt ein großes Thema, sowohl seine Ursachen als auch seine Auswirkungen auf Russland und die internationale Sicherheit und Ordnung. Es gab Diskussionen darüber, wie man Rückkehrer aus den Kämpfen – also demobilisierte Soldaten oder Verwundete – wieder in die russische Gesellschaft und Wirtschaft integrieren kann. Es wurden auch die Probleme für die russische Wirtschaft angesprochen – wie weggebrochene Lieferketten oder die hohen Zinsen, die vielen Firmen die Kreditaufnahme erschweren – als auch die aus den Sanktionen resultierenden Vorteile. Ich habe eine ganze Reihe von Personen getroffen, die sagten, die Sanktionen seien unterm Strich gut für die russische Wirtschaft gewesen. Nach der Deindustrialisierung in den 90er-Jahren hatte Russland seine Wirtschaft stark auf den Export von Rohstoffen und den Import vieler benötigter Güter ausgerichtet. Mehrere Teilnehmer äußerten, dass die EU und die USA Russland durch die Sanktionen gezwungen hätten, „die Ärmel hochzukrempeln“ und die Dinge selbst herzustellen.
Ich glaube, das ist eine wesentliche Lehre, die die Russen aus den Sanktionen gezogen haben: Sie müssen in vielen wesentlichen Wirtschaftsbereichen weitestgehend souverän werden. Das bedeutet, eine eigene industrielle Basis aufzubauen und viele Dinge auch im Bereich der Hochtechnologie selbst herzustellen, wie zum Beispiel eine eigene russische Cloud. Ziel ist es, nie wieder in die Abhängigkeit zu geraten, in der man sich zwischenzeitlich befand.
Wie beurteilen Sie den Zustand der russischen Wirtschaft? Welche Resilienz und welche Herausforderungen wurden dabei sichtbar?
Ich kann den Zustand der russischen Wirtschaft nur auf Basis meiner Eindrücke und der Diskussionen vor Ort bewerten. Doch generell, und das hat sich mittlerweile auch hierzulande herumgesprochen, war die russische Wirtschaft in den letzten Jahren wesentlich resilienter als viele vermuteten. 2022 herrschte hier die weit verbreitete Annahme, die russische Wirtschaft würde kollabieren und dies zu politischen Veränderungen in Russland führen. Dies ist erkennbar nicht eingetreten; Russland verzeichnete in den vergangenen beiden Jahren Wirtschaftswachstumszahlen von über vier Prozent. In diesem Jahr geht die Regierung von 2,5 Prozent aus.
Auf den ersten Blick sind kaum Auswirkungen der Sanktionen erkennbar. Bei genauerer Betrachtung gibt es jedoch in Teilbereichen Probleme: Nicht alles kann substituiert werden, oder nur zu hohen Preisen. Gewisse Investitionen konnten zwar einige Jahre aufgeschoben werden, doch wie bei einem Gummiband, das man nicht beliebig weit dehnen kann, gibt es auch hier Grenzen. Die Auswirkungen der hohen Zinsen sind klar spürbar. Der Leitzins der Zentralbank hat sich seit Anfang 2022 auf zwischenzeitlich 21 Prozent fast verdreifacht und wurde kürzlich auf 20 Prozent gesenkt (Anm. d. Red.: In der Zeit zwischen dem Interview und der Veröffentlichung wurde der Leitzins um weitere zwei Prozentpunkte auf 18 Prozent gesenkt. Die grundsätzliche Problematik bleibt bestehen).
Für Unternehmen bedeutet das, dass sie rund 25 Prozent Zinsen für neue Kredite bezahlen. Kaum eine Firma kann dies erwirtschaften, besonders in kapitalintensiven Branchen oder bei mehrjährigen Projekten. Dies führt zu Problemen in bestimmten Sektoren und hemmt die Investitionsbereitschaft. Auch wenn das Eigenkapital vorhanden ist, braucht es eine außergewöhnlich gute Geschäftsidee, um das Risiko einer Investition einzugehen und noch höhere Erträge zu erzielen, wenn man das Geld auch zu 20 Prozent Verzinsung bei der Bank anlegen kann. Dies ist sehr deutlich wahrnehmbar. Der Staat versucht, die hohen Zinsen mit Instrumenten wie Förderkreditprogrammen oder Innovationsförderprogrammen teilweise abzufedern. Gleichzeitig ermöglicht die Situation vielen Menschen, sich mit guten Geschäftsideen selbstständig zu machen, oder bestehenden Unternehmen, ihre Geschäftsfelder auszudehnen. Dies geschieht oft in einem temporären „Schutzraum“, da ein Teil der ausländischen Konkurrenz den Markt verlassen hat.
Welche langfristigen Zukunftsperspektiven und strategischen Neuausrichtungen Russlands wurden auf dem Forum diskutiert?
Wir haben bereits einige Punkte angesprochen. Erstens, die unumkehrbare Veränderung des internationalen Systems. Russland ist überzeugt, dass eine Rückkehr zur Ordnung von 2021 ausgeschlossen ist; die Weltordnung der nahen und mittleren Zukunft wird eine andere sein. Präsident Putin betonte bereits 2022 auf dem Forum, dass Russland diese neue Ordnung aktiv mitgestalten müsse, um seine staatliche Souveränität zu bewahren. Diese Souveränität sei unteilbar und müsse in allen Bereichen vorangetrieben werden. Abzuwarten und die Dinge geschehen zu lassen, wäre das Gefährlichste.
Zweitens: Russland hat dafür eine Reihe von Partnern identifiziert und baut diese Beziehungen intensiv aus, allen voran mit China, aber auch mit vielen Staaten aus Zentral- und Südostasien, Afrika, der arabischen Welt und Lateinamerika, dem sogenannten Globalen Süden. Diese Formate entwickeln sich erst mit der Zeit. Ich habe 2022 sehr deutlich wahrgenommen, dass es noch ein großer Findungsprozess war. Das Forum im Juni 2022 war von der Notwendigkeit geprägt, zu analysieren, was in den Monaten zuvor geschehen war, wie es einzuordnen ist und welche Möglichkeiten bestehen.
Einiges ist in den letzten Jahren sicherlich besser gelungen, als viele damals dachten, manches aber auch schlechter. Ich habe beispielsweise eine gewisse Enttäuschung wahrgenommen: Trotz der vielen Partner, die Russland gefunden hat, ist der Zugang zu den Finanzmärkten schwierig geblieben, da viele Staaten Angst vor US-amerikanischen oder europäischen Sekundärsanktionen haben.
Bereits 2022 wurde intensiv darüber diskutiert, Alternativen zum US-Dollar als Reserve- und Handelswährung zu etablieren und den Handel zwischen einzelnen Staaten verstärkt in nationalen Währungen abzuwickeln. Auch die Suche nach Alternativen zum SWIFT-System, von dem viele russische Banken ausgeschlossen wurden, war ein zentrales Thema. Solche Entwicklungen geschehen nicht über Nacht. Es gab Diskussionen innerhalb der BRICS-Staaten, wo es durchaus unterschiedliche Positionen dazu gibt. Mein Eindruck ist jedoch, dass gerade die massiven Sanktionen der EU und der USA einen Katalysator-Effekt hatten und diese Prozesse, die vielleicht ohnehin stattgefunden hätten, deutlich beschleunigt haben.
Was waren die Schlüsselthemen, die für die zukünftigen deutsch-russischen und europäischen Wirtschaftsbeziehungen von besonderer Relevanz waren, und welche grundlegenden Veränderungen zeichnen sich hier ab?
Ein ganz klares Schlüsselthema war die deutliche Abwendung Russlands von der Europäischen Union. Mein Eindruck ist, dass Russland von den späten 1980ern bis in die 2000er-Jahre hinein stark daran interessiert war, Teil eines gemeinsamen europäischen Raums zu werden. Das war auch in den Anfängen der Amtszeit von Präsident Putin deutlich erkennbar. Dies hat im Laufe der Zeit etwas abgenommen, wie auch an seiner Rede auf der Münchner Sicherheitskonferenz 2007 deutlich wurde.
2014 markierten die Annexion der Krim sowie die darauffolgenden Sanktionen der EU und der USA gegen Russland einen weiteren deutlichen Einschnitt und eine klare Zuwendung Russlands zu China. Auch hier hatten die Sanktionen einen Katalysatoreffekt. Der Bau der Pipeline „Kraft Sibiriens 1“ zum Transport von Gas aus Russland nach China war lange Jahre zwischen beiden Staaten verhandelt worden. Erst unter dem Druck der Sanktionen kam es 2014 zum Durchbruch in den Verhandlungen und zur Unterzeichnung eines Vertrags mit 30-jähriger Laufzeit.
2022 hat sich die geopolitische Neuorientierung Russlands nochmals verstärkt: Russland hat, teils erzwungen, teils aus eigenem Antrieb, die Entscheidung getroffen, sich dem Globalen Süden zuzuwenden. Das hat strukturelle Konsequenzen für die Entwicklung von Organisationen wie den BRICS oder der Shanghaier Organisation für Zusammenarbeit (SOZ) und auch für die Infrastruktur. Es gibt vermehrte Investitionen im Fernen Osten und eine Zusammenarbeit auf allen Ebenen mit der Volksrepublik China. Auch hierzu gab es in diesem Jahr eine interessante Podiumsdiskussion.
Ein zweiter wichtiger Punkt war der Abzug europäischer Unternehmen aus Russland. Die russische Position hierzu ist klar: Man habe die Firmen nicht zum Verlassen des Landes gezwungen. Insbesondere seit der Wahl Donald Trumps zum US-Präsidenten wird in Russland und den USA zunehmend darüber diskutiert, unter welchen Bedingungen Firmen aus der EU oder den Vereinigten Staaten nach Russland zurückkehren könnten. Es gibt hierzu regelmäßige Diskussionen und verschiedene Vorschläge, wobei die Positionen sehr unterschiedlich sind. Einige wirtschaftlich erfolgreiche Russen wünschen keine europäische oder US-amerikanische Konkurrenz mehr. Präsident Putin selbst vertritt die Position, dass Konkurrenz für die russische Wirtschaft wichtig sei und eine Rückkehr der Firmen prinzipiell erlaubt werden solle. Man wolle jedoch prüfen, wie sich die Firmen in der Vergangenheit positioniert haben, wie wichtig sie für den russischen Markt seien, und dann über die Bedingungen einer Rückkehr sprechen.
Auch hier ist mein Eindruck, dass eine Rückkehr zur Situation von 2021 nicht möglich sein wird. Wie in den 1990er-Jahren muss man sich jetzt erst wieder neu finden und neu verhandeln, unter welchen Regeln man auf welchen Ebenen miteinander umgeht. Ich sehe hier, vielleicht auch aufgrund meiner früheren Arbeit in China, eine Tendenz Russlands zu einem kontrollierten Öffnungsmodell des Marktes, ähnlich dem chinesischen Modell. Der Marktzugang würde dann unter ganz anderen Bedingungen erfolgen als in den 1990er-Jahren. Wir hatten zu Beginn von der Entstehung des SPIEF in den Jahren nach der Schocktherapie gesprochen. Die Sanktionen sind eine zweite Schocktherapie für die russische Wirtschaft, aber dieses Mal vielleicht in Teilen heilsamer.
Lesen Sie auch den ersten Teil des Interviews: „Ein Blick hinter die Kulissen des SPIEF: Russlands Perspektive auf eine sich wandelnde Weltordnung“
Über den Interviewpartner: Christoph Polajner berät in den Schnittpunkten von Geopolitik, Geoökonomie, Außenpolitik und Wirtschaft und ist Gründungsmitglied und Stellvertretender Vorsitzender der Eurasien Gesellschaft mit Sitz in Berlin. Seine geographischen Schwerpunkte sind China und Russland, inhaltlich sind es Eurasien, die BRICS, die Shanghai Cooperation Organization, der Ukrainekonflikt und die chinesisch-russischen Beziehungen. Er war lange Jahre weltweit tätig: in Lateinamerika, Afrika, Südostasien, Zentralasien, der Ukraine, China und Russland, den Großteil der Zeit für eine humanitäre Organisation. Er hat einen Master-Abschluss in Chinese Studies mit den Schwerpunkten chinesischer Außenpolitik und Wirtschaft.
Titelbild: Christoph Polajner
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