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Titel: Qualität „Made for Germany“ – mit Ausbeutung, Kinderarbeit, Naturzerstörung

Datum: 10. September 2025 um 16:02 Uhr
Rubrik: Bundesregierung, Wertedebatte, Wirtschaftspolitik und Konjunktur
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Hätte, hätte, Lieferkette. Solange der öffentliche Druck da war und die Wirtschaft gut im Saft stand, konnte sich Deutschland sogar ein Gesetz zur Achtung von Menschenrechten beim Produzieren im Ausland leisten. Damit ist es jetzt vorbei: Das Regelwerk fällt dem Bürokratieabbau zum Opfer. Hoch lebe der Postkolonialismus, während in indischen Steinbrüchen Minderjährige mit Staublunge sterben, damit bei uns die Gräber nett aussehen. Von Ralf Wurzbacher.

Bürokratie hat einen schweren Stand in diesen Zeiten. Eigentlich werden ihr bloß noch zwei Behandlungen zuteil: Zunächst mit übler Nachrede belegt, wird sie, im nächsten Schritt, kurzerhand abgebaut. Wo es sie noch gibt beziehungsweise es zu viel von ihr gibt, sie also „überbordet“, ergeht wie selbstverständlich das Urteil, sie sei störend, hemmend, teuer. Und dass sie deshalb wegmüsse, in unser aller Interesse, im Speziellen zum Wohle der deutschen Wirtschaft, damit die endlich „wieder wettbewerbsfähig“ wird. Bürokratie ist längst zu einem Kampfbegriff geworden. Keine Rede mehr davon, dass es verschiedene Ausformungen von ihr gibt, sie durchaus von Sinn und Nutzen sein kann, sie in vielen gesellschaftlichen Sphären überhaupt erst so etwas wie Struktur, Ordnung und Planbarkeit ermöglicht. Aber nein, heute ist da nur noch „die“ Bürokratie, ein Laster, das es auszumerzen gilt.

Der Bundeskanzler und die schwarz-rote Koalition betreiben das Projekt Bürokratieabbau mit geradezu missionarischem Eifer, ein bisschen so wie ehedem die mittelalterlichen Kreuzritter. Soll heißen: Mithin geht die Bundesregierung über Leichen. Zum Beispiel gehört Kinderarbeit in den Kobaltminen und auf den Kakaoplantagen dieser Welt zur Tagesordnung. Und Grabsteine auf deutschen Friedhöfen stammen in riesigen Mengen aus zahllosen, illegalen Steinbrüchen in Indien, wo Minderjährige sie in sengender Hitze und unter lebensgefährlichen Bedingungen aus dem Fels schlagen. Nach Angaben von Terre des Hommes entwickeln sie dabei die sogenannte Staublunge. Zitat: „Die Lebenserwartung von Arbeitern in Steinbrüchen im indischen Rajasthan liegt bei etwa 40 Jahren.“

Augen zu und Kasse machen

Vor einer Woche haben Union und SPD Bescheid gegeben, dass ihnen das ziemlich egal ist. Am 3. September winkte das Bundeskabinett eine Vorlage von Bundesarbeitsministerin Bärbel Bas (SPD) durch, die gravierende Änderungen am bestehenden Lieferkettensorgfaltspflichtengesetz (LkSG) vorsieht. Zentrale Vorgaben wie eine Berichtspflicht von Unternehmen werden abgeräumt, Sanktionen auf ein Minimum reduziert und nur noch bei schweren Verstößen wirksam. Angesichts der Pläne beklagen Kritiker wie das katholische Hilfswerk Misereor einen „völkerrechtlich unzulässigen Rückschritt“ und eine „offene Einladung“ an im Ausland tätige deutsche Firmen, „es mit den Menschenrechten nicht mehr so genau zu nehmen“. Ziel sei es, „Unternehmen von Bürokratie zu entlasten“, heißt es dagegen in einer Mitteilung der Regierung, wobei die Versicherung auf dem Fuß folgt, man werde „beim Kampf gegen Kinder- und Zwangsarbeit sowie dem Schutz vor Arbeitsausbeutung nicht nachlassen“.

Die Initiative zu einem deutschen Lieferkettengesetz entstand in einer Zeit, als das gesellschaftliche Bewusstsein im besten Sinne fortschrittlich war, als etwa auch die Klimabewegung große Erfolge vorweisen konnte. Die damalige große Koalition brachte es zwar eher widerwillig auf den Weg und Lobbyisten taten ihr Bestes, die praktischen Konsequenzen zu minimieren. Gleichwohl konnte sich das Ergebnis sehen lassen, weil der bis dahin grassierenden Verantwortungslosigkeit deutscher Unternehmer gegenüber denen, die ihre Produkte ernten, nähen oder schürfen, erstmals Grenzen gesetzt wurden. Letztlich ging es darum, sicherzustellen, dass an Waren und Dienstleistungen, mit denen der reiche Westen seine Profite macht, nicht das Blut und der Angstschweiß der Armen und Ausgebeuteten aus den Elendsvierteln dieser Erde kleben; und dass dort, wo dies weiter passiert, Leidtragende vor Gericht klagen und Schadensersatzansprüche durchzusetzen können.

Habeck hat vorgedacht

Diesen Ansprüchen wurde das zu Jahresbeginn 2023 durch die Ampelregierung in Kraft gesetzte Regelwerk längst nicht gerecht. Dafür ist dessen Reichweite zu gering. Zunächst fielen lediglich 600 Unternehmen, seit 2024 dann rund 2.900 mit einer Mitarbeiterzahl von 1.000 und mehr in den Anwendungsbereich. Alle Firmen unterhalb dieser Grenze fallen durch das Raster. Dazu bietet der Gesetzestext allerhand Interpretationsspielraum und Schlupflöcher. Zum Beispiel werden umweltbezogene Pflichten wie Biodiversität und Auswirkungen aufs Klima gar nicht berücksichtigt. Aber es war ein Anfang gemacht, auf dem sich hätte aufbauen lassen, um den verbreiteten Nöten in den Postkolonien der kapitalistischen Hochburgen wenigstens in Ansätzen beizukommen.

Nun aber stehen die Zeichen auf Rollback. Schon in ihrem Koalitionsvertrag verkündete Schwarz-Rot, „(wir) schaffen (…) das nationale Lieferkettensorgfaltspflichtengesetz (LkSG) ab“, um es durch ein „Gesetz über die internationale Unternehmensverantwortung“ zu ersetzen, „das die Europäische Lieferkettenrichtlinie (CSDDD) bürokratiearm und vollzugsfreundlich umsetzt“. Davor hatte schon einmal Robert Habeck (Grünen-Partei) als Bundeswirtschaftsminister angeregt, die deutschen Bestimmungen bis zum Inkrafttreten jener auf EU-Ebene für zwei Jahre auf Eis zu legen. Das wäre ein „richtiger Befreiungsschlag“, meinte er damals, wegen der erdrückenden Bürokratie für deutsche Kapitalisten. Er hätte auch sagen können, „lasst uns auf Menschenrechte pfeifen“. Hat er aber nicht, auch weil das Problem mit der Bürokratie für ihn offenbar schwerer wiegt.

Rolle rückwärts

Keine Frage: Die qua Gesetz verlangte Einhaltung der sogenannten Sorgfaltspflichten sowie deren Dokumentation sind mit Aufwand und Kosten verbunden. Allerdings holen sich Unternehmer das Geld in aller Regel zurück, durch höhere Preise beim Endverbraucher. Sollte es uns das nicht wert sein, damit etwa ein Kokosnussbauer auf den Philippinen ein menschenwürdiges Leben leben kann? Das ist auch mit dem LkSG keineswegs ausgemacht, dafür ist das Kontrollsystem noch viel zu löchrig. Aber ganz ohne Kontrolle droht der Rückfall in koloniale Zeiten. Laut Misereor hat das Gesetz „konkrete Verbesserungen für Betroffene“ gebracht. Beispielsweise musste auf seiner Grundlage der Handelsriese REWE Vorkehrungen treffen, damit in einem ecuadorianischen Zulieferbetrieb die Löhne für Bananenarbeiter angehoben wurden.

Ohne die Berichtspflicht der Unternehmen blieben Menschenrechtsverstöße allerdings weitgehend unerkannt. Sie schafften „Transparenz“ und seien „eine zentrale Voraussetzung“, damit das Bundesamt für Wirtschaft und Ausfuhrkontrolle (BAFA) sowie zivilgesellschaftliche Akteure die Einhaltung des LkSG „überprüfen, Hinweise auf fehlende Aspekte geben und dadurch zur Behebung von Missständen in den Lieferketten beitragen können“, hält die Initiative Lieferkettengesetz fest, ein breites Bündnis aus Menschenrechts- und Umweltschutzorganisationen. „Statt das Gesetz weiter zu schärfen und dessen Wirksamkeit zu erhöhen, entscheidet sich die neue Bundesregierung für eine Rolle rückwärts“, moniert die Initiative in einer Medienmitteilung.

Digitalisierung – gerne komplex und teuer

Allein durch die Berichte könne die Öffentlichkeit erfahren, „was sich entlang der weltumspannenden Lieferketten der Unternehmen so tut. Und das ist mitunter eine ganze Menge“, heißt es in einem Pressestatement der Coordination gegen BAYER-Gefahren (CBG). Demnach hat der weltweit operierende Chemieriese mit Hauptsitz in Leverkusen für das zurückliegende Jahr „63 Fälle von ‚Missachtung von Arbeitsschutz und arbeitsbedingten Gesundheitsgefahren‘, fünf Verstöße gegen das ‚Verbot der Ungleichbehandlung von Beschäftigten‘ und elf Verstöße gegen das ‚Verbot des Vorenthaltens eines angemessenen Lohns‘“ dokumentiert. „2023 kam es sogar zu Kinderarbeit und zur Behinderung gewerkschaftlicher Betätigung.“ Von dem, was der ehemalige Entwicklungshilfeminister Gerd Müller (CSU) einen „Meilenstein zur Bekämpfung moderner Sklaverei und der Ausbeutung von Kindern“ nannte, werde „nicht mehr viel übrig bleiben“, warnt CBG und bekräftigt „Die Menschenrechte sind kein Bürokratie-Monster.“

Mit diesem Schlagwort lässt sich inzwischen praktisch jede Maßnahme rechtfertigen, um dem Standort Deutschland irgendwie auf die Sprünge zu helfen, sowohl außerhalb als auch innerhalb der Landesgrenzen. Klimaschutz? Viel zu bürokratisch. Arbeitsrecht? Viel zu bürokratisch. Baugesetze? Dito. Deshalb: Klimaschutz schleifen, Arbeitsschutz schleifen und Bauen ohne Sinn und Verstand. Über die Lasten der Digitalisierung – der allmächtige Antagonist der Bürokratie – will dagegen keiner nachdenken, geschweige denn sprechen. Weltumspannend wird eine monströse Kontroll- und Überwachungsarchitektur zu obszönen Kosten und mit verheerender Umweltbilanz hochgezogen, gefüttert mit den Daten von Milliarden Menschen, wodurch die düsteren Ahnungen eines Franz Kafka und George Orwell im Rückblick minimalistisch anmuten.

Für die Katz

Warum zum Beispiel ist die elektronische Patientenakte (ePA), die 75 Millionen gläserne Patienten und Versicherte schaffen soll und die Ärzteschaft wegen des Betreuungsaufwands und der Störanfälligkeit in Atem hält, nicht als „Bürokratie-Monster“ verrufen? Antwort: Weil mit ihr die Interessen der kommerziellen Gesundheitsökonomie und der Pharmaindustrie bedient werden. Da darf sich die politische Verwaltung bei der Umsetzung gerne verzetteln, solange das Ziel nicht gefährdet ist. Menschenrechte sind bestenfalls so lange wichtig, wie sie die Geschäfte nicht gefährden.

Ein vielversprechendes Projekt drohe „als Papiertiger zu enden“, hat Misereor in der Wortwahl unglücklich die Entkernung des LkSG beanstandet. Zu viel Papierkram will die Bundesregierung der Wirtschaft ja gerade ersparen, weshalb ein schon ziemlich zahnloses Regelwerk demnächst praktisch komplett für die Katz sein wird. Das ist spätestens dann so weit, wenn das entsprechende EU-Recht zu nationalem Recht wird, was schrittweise ab Sommer 2028 geschehen soll. Inzwischen wurde die fragliche Richtlinie, die davor schon hinter die windelweichen Klauseln des deutschen Pendants zurückfiel, vollends ausgehöhlt. Im Falle der Umsetzung wären nur noch Konzerne mit mehr als 5.000 Beschäftigten und einem Jahresumsatz ab 1,5 Milliarden Euro betroffen. Und sie hätten lediglich über das Geschäftsgebaren ihrer direkten Handelspartner zu wachen, nicht länger über das von Subunternehmern. Ende Juni hatte die BRD für diese Marschrichtung im EU-Ministerrat den Finger gehoben.

Die Frankfurter Allgemeine Zeitung hat errechnet, wie viele deutsche Unternehmen dann den Regularien unterlägen: 276. Viel weniger Bürokratie geht kaum – dafür aber wieder viel mehr Ausbeutung.

Titelbild: FrankHH / Shutterstock


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