Armes Deutschland. Der Standort ist schlapp, der russische Gashahn zugedreht, horrende Lebenshaltungskosten, immer mehr Firmenpleiten und steigende Arbeitslosigkeit drücken auf die Stimmung. Wer ist Schuld an allem? Ganz klar: Die Beschäftigten, die einfach nicht die nötige Leistungsbereitschaft zeigen. Helfen kann da nur noch mehr Arbeit, bei noch weniger Geld, denkt der Bundeskanzler und setzt verbal auf noch mehr Spaltung nach dem Motto: Work-Life-Balance ist was für Drückeberger. Über eine kranke und krankmachende Debatte schreibt Ralf Wurzbacher.
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Der Bundeskanzler hat gesprochen. „Wir müssen in diesem Land wieder mehr und vor allem effizienter arbeiten“, findet Friedrich Merz (CDU) und: „Mit Viertagewoche und Work-Life-Balance werden wir den Wohlstand dieses Landes nicht erhalten können.“ Gesagt hat er dies Mitte Mai beim CDU-Wirtschaftstag und damit, wie es so schön heißt, einen Nerv getroffen. Autsch! Aber der Schmerz hört nicht auf. Dieser Tage bohrte CDU-Generalsekretär Carsten Linnemann nach: Man habe „manchmal den Eindruck, dass es nicht mehr um Work-Life-Balance geht, sondern um Life-Life-Balance“. Gerade für junge Menschen sei es wichtig, „erstmal eine Ausbildung zu machen und einen Beruf zu erlernen. Da müssen wir wieder hinkommen: Sich etwas selbst zu erarbeiten.“
Damit ist der Ton gesetzt: Die Deutschen sind einfach zu bequem geworden, zu selbstbezogen, ohne Sinn fürs Große und Ganze, das da lautet: Was kannst Du für Dein Land tun? Nicht nur zu seiner Verteidigung, auch auf dem Arbeitsmarkt. Vor allem der Nachwuchs frönt dem Schlendrian, also die sogenannte Generation Z der nach 1995 Geborenen. Die wollen es sich nur gutgehen lassen, haben mit Leistung nichts am Hut und setzen mit ihrer Faulheit die Zukunft der Republik aufs Spiel. Wie es der Zufall will, hat die Koalition die „richtigen“ Rezepte schon im Köcher, sprich im Koalitionsvertrag: Steuerfreie Überstundenzuschläge, Anreize, um Teilzeitbeschäftigung zu überwinden, eine Aktivrente für die, die über das gesetzliche Regelaltersgrenze hinaus weiterarbeiten, und natürlich die Ablösung des Acht-Stunden-Tages durch „eine wöchentliche Höchstarbeitszeit“.
Zugleich dreht sich die Kampagnentrommel immer schneller. Umfragen werden lanciert, wonach eine Mehrheit der Bevölkerung Lust auf Mehrarbeit hat. Die Wissenschaft liefert die passenden Befunde, etwa den, dass jene, die lange arbeiten, nicht erschöpfter, ungesünder und gestresster sind als Teilzeitkräfte. Deshalb: „Um unseren Wohlstand zu sichern, müssen wir längere Arbeitszeiten wieder attraktiver machen.“ Freilich darf auch der Vergleich mit den deutschen Wettbewerbern nicht fehlen. Wie das Institut der deutschen Wirtschaft (IW) ermittelt haben will, belegen die Deutschen in puncto Arbeitseifer bei jährlich im Jahresschnitt „nur“ 1.036 geleisteten Stunden den drittletzten Rang unter allen Industriestaaten. Bloß die Franzosen und Belgier seien träger, während die Neuseeländer fast 400 Stunden mehr abreißen würden. „Umso wichtiger dürfte es deshalb werden, die individuelle Arbeitszeit in Deutschland zu erhöhen“, folgerten die Forscher.
Die Diskussion ist in ihrer Dumpfheit schwer zu ertragen und die Argumente der Akteure leicht zu entkräften.
Historie
Geregelte Arbeitszeiten, im Speziellen der Acht-Stunden-Tag, sind eine zentrale Errungenschaft der Arbeiterbewegung. In Deutschland 1918 gesetzlich festgeschrieben, hat die Regelung der Ausbeutung menschlicher Arbeitskraft Grenzen gesetzt und einen verlässlichen Rahmen für Freizeit und Erholung von Werktätigen abgesteckt und dafür, sich mehr um ihre Familie kümmern zu können. Weniger Lohnarbeit ist insofern ein Ausdruck gesellschaftlichen Fortschritts. Als solcher wurde später dann auch die Einführung der 35-Stunden-Woche in der Elektro- und Metallindustrie und anderen Branchen verstanden. Mehrarbeit forciert die ohnehin schon grassierenden Belastungs- und Überlastungsphänomene der modernen Arbeitswelt noch und stellt aus emanzipatorischer Sicht einen gesellschaftlichen Rückschritt dar.
Rationalisierung
Die fortschreitende Rationalisierung ersetzt sukzessive menschliche Arbeitskraft. Angesichts von Digitalisierung und dem Siegeszug der Künstlichen Intelligenz werden absehbar Millionen mehr Industriearbeitsplätze verloren gehen. In praktisch allen Bereichen der Gesellschaft wird der Mensch Maschinen das Feld räumen müssen. Schon heute gibt es hierzulande wieder rund drei Millionen Arbeitslose, Tendenz steigend. Mittel- und langfristig wird man nicht umhin kommen, die begrenzte Arbeit auf mehr Schultern zu verteilen. Andernfalls werden die sozialen Sicherungssysteme dem Ansturm Bedürftiger nicht gewachsen sein und Massen in Armut und Elend landen. Sozialkürzungen, worauf die neue Regierung setzt, werden auf Dauer keine Lösung sein. Wenn doch, stehen der BRD massive gesellschaftliche Verwerfungen ins Haus.
Fachkräftemangel
Engpässe an Arbeitskräften bestehen vor allem in gering vergüteten Beschäftigungsfeldern oder bei Tätigkeiten mit hohen Verschleißfaktoren, etwa im Einzelhandel, bei der Pflege oder im Bildungsbereich, zum Beispiel in Kitas und Schulen. Den Betroffenen noch mehr Lasten aufzubürden, wird die Lage verschärfen, viele endgültig aus dem Beruf vergraulen, während noch weniger Berufseinsteiger nachrücken. Die Gewerkschaft Erziehung und Wissenschaft (GEW) hält dazu fest: „Wenn es um eine nachhaltige Fachkräftesicherung geht, dann spielen lebensphasen- und gesundheitsgerechte sowie insgesamt kürzere Arbeitszeiten eine zentrale Rolle: Sie sind wesentliche Elemente, wenn nicht gar der Schlüssel zum Erhalt der Beschäftigungsfähigkeit, von gesunden sowie attraktiven Arbeitsbedingungen.“
Täuschen mit Zahlen
Der Verweis des Instituts der deutschen Wirtschaft (IW) auf eine Statistik der Organisation für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung (OECD), um so die These von den arbeitsscheuen Deutschen zu belegen, ist irreführend. Die Erhebung von 2023 vermengt Daten zur Voll- und Teilzeitbeschäftigung und leitet daraus einen Pro-Kopf-Wert an geleisteten Arbeitsstunden ab. Vor zwei Jahren arbeiteten hierzulande rund 30 Prozent der Erwerbstätigen in Teilzeit, in Italien waren es rund 18 Prozent, in Polen nur sechs Prozent. „Das ist Äpfel mit Birnen vergleichen, die Statistik ist daher relativ wertlos“, moniert die Vorsitzende des Deutschen Gewerkschaftsbundes (DGB), Yasmin Fahimi. Schaut man sich die Vollzeitbeschäftigten an, liegt Deutschland mit mehr als 40 Arbeitsstunden pro Woche im EU-Durchschnitt.
Dazu kommt: Für 2022 hatte das IW noch 1.031 Arbeitsstunden pro Beschäftigtem in Deutschland ermittelt, fünf weniger als im Jahr darauf. Das deckt sich mit einer Studie des Deutschen Instituts für Wirtschaftsforschung (DIW). Demnach habe das Gesamtarbeitsvolumen 2023 mit 55 Milliarden Stunden „seinen bisherigen Höhepunkt“ erreicht. 2005 seien es lediglich 47 Milliarden Stunden gewesen. Von Rekord zu Rekord klettert seit Jahren auch die Zahl der hiesigen Erwerbstätigen, 2024 waren es 46,1 Millionen. Nach IW-Angaben sind knapp 77 Prozent der Bevölkerung im Erwerbsalter berufstätig, im OECD-Durchschnitt jedoch bloß 69 Prozent. Insgesamt arbeiten in der BRD also im Verhältnis mehr Menschen tendenziell mehr als noch vor drei Jahren. Damals war vom faulen Deutschen keine Rede …
Die Teilzeitfalle
Teilzeitarbeit, Minijobs, Leiharbeit und andere prekäre Beschäftigungsverhältnisse suchen sich die Betroffenen in der Regel nicht aus freien Stücken aus. Vor allem für Frauen sind sie oft der saure Apfel, in den sie beißen müssen, um Familie und Berufstätigkeit vereinbaren zu können oder als Alleinerzieherin oder Pflegende von Angehörigen irgendwie über die Runden zu kommen. Häufig sind die entsprechenden Jobs – in Einzelhandel, Gesundheitswesen oder Gastronomie – schlecht bezahlt und stressig. „Dass – meist weibliche – Beschäftigte aufgrund von Arbeitsverdichtung in Teilzeit wechseln, sei beispielsweise in der Pflege längst zu beobachten, wodurch sich der Fachkräftemangel dort vergrößere“, heißt es dazu in einer Studie des Wirtschafts- und Sozialwissenschaftlichen Instituts (WSI) der Hans-Böckler-Stiftung von 2022.
Es war eine bewusste politische Entscheidung, ausgehend von den Hartz-Reformen unter Gerhard Schröder (SPD), den Niedriglohnsektor in Deutschland massiv auszubauen und der allgemeinen Lohndrückerei Vorschub zu leisten. Nun so zu tun, als wäre das Unheil vom Himmel gefallen und es damit getan, das Heer an Billig- und Kurzzeitjobbern zu mehr Arbeit zu nötigen, ohne substanziell bei den Lohn- und Arbeitsbedingungen nachzubessern, ist dummdreist. Oder, wie es das WSI ausdrückt: „Die vermeintlich einfache Gleichung ‚längere Arbeitszeiten sorgen für höhere wirtschaftliche Leistung und mehr Geld in den Sozialkassen‘ funktioniert so nicht.“ Vielmehr spreche die empirische Evidenz für flexible Arbeitszeitmodelle, „um eine hohe, adäquate und nachhaltige Erwerbsbeteiligung in allen Gruppen sicherzustellen“.
Ungleichheit
Eine „hohe und nachhaltige Erwerbsbeteiligung aller Gruppen“ setzt die Überwindung der Ungleichheiten beim Zugang zu Bildung voraus. Wachsende Teile der Bevölkerung sind aufgrund ihrer Herkunft nahezu chancenlos, ihren sozialen Status mit guter Bildung und gut honoriertem Job zu verbessern. Zugleich ist es für Kinder aus reichem Elternhaus ein Leichtes, später auch beruflich zu reüssieren. Und manch einer muss sich gar nicht mehr anstrengen, um zu den oberen Zehntausend zu gehören. Möglich machen dies Erbschaften und das quasi leistungslose Vermehren von Vermögen an den Finanzmärkten. Angesichts dieser sozialen Unwuchten einfachen Arbeitnehmern noch mehr Arbeit aufbrummen zu wollen, zeugt von völliger Blindheit gegenüber der gesellschaftlichen Wirklichkeit.
Überstunden
Wer über Mehrarbeit spricht, sollte unbezahlte Arbeit nicht vergessen. Nach Zahlen des Instituts für Arbeitsmarkt- und Berufsforschung (IAB) der Bundesagentur für Arbeit wurden in Deutschland 2023 rund 1,3 Milliarden Überstunden geleistet, aber nicht einmal die Hälfte davon bezahlt. Für 775 Millionen Stunden sahen die Beschäftigten keinen Cent. Setzt man dafür nur den Mindestlohn an, entspricht das fast zehn Milliarden Euro, um die sie geprellt wurden. „Wir stellen umgehend Überstundenzuschläge steuerfrei, die über die tariflich vereinbarte beziehungsweise an Tarifverträgen orientierte Vollzeitarbeit hinausgehen“, verspricht die Regierung. Aber kein Wort verliert sie in ihrem Koalitionsvertrag zum augenscheinlich systematischen Lohnklau.
Produktivität
Die entscheidende Größe zur Bemessung der menschlichen Arbeitskraft ist die Produktivität. In Deutschland werden pro Kopf im Jahr gut 45.000 Euro erwirtschaftet, in Polen sind es 31.000 Euro, in Griechenland 28.000 Euro – obwohl dort pro Kopf mehr Stunden abgerissen werden. Tatsächlich ist die Produktivität hierzulande immer noch sehr hoch, weit oben im EU-Ranking, wenngleich schwach rückläufig. Das liegt jedoch nicht an den Beschäftigten selbst, sondern dem Umfeld, in dem sie arbeiten, etwa auch der maroden Infrastruktur oder fehlenden Innovationen, zum Beispiel der deutschen Autobauer. Weil dem so ist, setzten diese aktuell in großem Stil Menschen auf die Straße oder schicken ihre Mitarbeiter in schlechter bezahlte Kurzarbeit. Ihnen vorzuhalten, zu wenig arbeiten zu wollen, ist der blanke Hohn.
Weniger ist mehr
Die Erfolgsformel lautet: Weniger Arbeit – mehr Leistung. Diesen Zusammenhang haben inzwischen etliche Untersuchungen nachgewiesen. Zum Beispiel ließ die Universität Münster im Rahmen eines bundesweiten Pilotprojekts 45 Organisationen aus verschiedenen Branchen sechs Monate lang eine Vier-Tage-Woche praktizieren. Ergebnis: „Das Wohlbefinden steigt, wenn die Arbeitszeit sinkt – bei gleichbleibender oder sogar leicht steigender Produktivität.“ Die Mitarbeiter berichteten von signifikanten Verbesserungen ihrer mentalen und körperlichen Gesundheit, weniger Stress und Burnout-Symptomen, höherem Aktivitätslevel und besserem Schlaf.
Eine neuere Umfrage des gewerkschaftsnahen WSI ergab, dass sich 80 Prozent der Beschäftigten in Vollzeit eine Vier-Tage-Woche wünschen, der Großteil davon jedoch nur bei gleichem Lohn. In der fraglichen Veröffentlichung wird auf entsprechende Evaluationsstudien verwiesen. „Aus diesen ist bekannt, dass Betriebe höhere Lohnausgaben durch eine erhöhte Produktivität der Beschäftigten kompensieren können.“ Insofern handelt es sich „um ein Arbeitszeitarrangement, das nicht nur betriebliche Gewinne verspricht, sondern auch individuell breit favorisiert wird“. Ein Toyota-Werk in Göteborg machte bereits 2003 die Probe aufs Exempel und führte den Sechs-Stunden-Tag bei vollem Lohnausgleich ein. Die Bilanz: Gleiche Produktivität, gesteigerter Umsatz und zufriedenere und gesündere Mitarbeiter.
Fazit
Praktisch alles spricht gegen eine Ausweitung der Arbeitszeiten, an erster Stelle der Mensch selbst, der dem kapitalistischen Verwertungsregime schon heute mit flagranten Symptomen körperlichen und mentalen Zerfalls mehr schlecht als recht gewachsen ist. Das Kalkül, durch mehr Deregulierung des Arbeitsrechts und Verbilligung des Faktors Arbeit der deutschen Wirtschaft auf die Sprünge zu helfen, mag mithin kurzfristige Effekte zeitigen. Auf lange Sicht geht die Sache nach hinten los, weil der Verschleiß zu groß und die gesellschaftlichen Folgekosten (Gesundheit, Arbeitsmarkt, Soziales) überhand nehmen werden. Angezeigt wäre im Gegenteil eine seriöse Debatte über eine gerechtere Verteilung der im Schwinden begriffenen Erwerbsarbeit im Zeichen von Digitalisierung und Rationalisierung.
Wenn heutzutage junge Menschen keinen Bock haben, sich im Hamsterrad von Fremd- und Selbstausbeutung für eine menschen- und naturverachtende Wirtschaftsordnung zu verdingen, ist das Anlass zur Hoffnung. Vielleicht entwickelt sich daraus über kurz oder lang eine Kraft des Umdenkens. Einstweilen haben leider noch die Babyboomer das Sagen. „Eine Vier-Tage-Woche mit vollem Lohnausgleich steht aktuell nicht auf der gewerkschaftlichen Forderungsliste“, ließ die Erste Vorsitzende der Industriegewerkschaft Metall (IGM), Christiane Benner, am Dienstag via Bild verbreiten. „Sinnvoll“ sei sie dennoch. Ach was?! Solche „Arbeiterführer“ halten sich Kahlschläger als Bettvorleger.
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