Startseite - Zurück - Drucken

NachDenkSeiten – Die kritische Website
Titel: Was China wirklich will: Drei Werke, die den chinafeindlichen Konsens erschüttern, der den Westen in den Krieg treibt
Datum: 8. November 2025 um 13:00 Uhr
Rubrik: Außen- und Sicherheitspolitik, Länderberichte, Rezensionen, Wirtschaftspolitik und Konjunktur
Verantwortlich: Redaktion
David C. Kang, Professor für Internationale Beziehungen an der University of Southern California, hat allein und gemeinsam mit Kollegen eine Reihe von Forschungsarbeiten verfasst, welche die Annahmen, die die US-Strategie im Pazifikraum bestimmen, systematisch in Frage stellen. Insbesondere drei Werke bilden eine kohärente und vernichtende Kritik an der Anti-China-Hysterie im Westen – der Artikel „What Does China Want?“ in International Security, verfasst gemeinsam mit Jackie S. H. Wong und Zenobia T. Chan, die Bücher „American Grand Strategy and East Asian Security in the 21st Century“ und „Beyond Power Transitions: The Lessons of East Asian History and the Future of US-China Relations“, letzteres gemeinsam mit Xinru Ma. Eine Rezension von Michael Holmes.
Zusammengenommen wird in diesen Werken argumentiert, dass die westlichen Politikeliten sowohl die Absichten Chinas als auch die Dynamik in der Region, die sie zu stabilisieren vorgeben, grundlegend falsch einschätzen. Im Artikel „What Does China Want?“ werden computergestützte Textanalyse und eine genaue Lektüre chinesischer offizieller Dokumente genutzt, um zu zeigen, dass die von Peking erklärten Prioritäten überwiegend innenpolitischer Natur sind: Stabilität des Regimes, territoriale Integrität über historisch umstrittene Gebiete und wirtschaftliche Entwicklung. Die Sprache globalen Hegemoniedenkens, die die amerikanischen Bedrohungsanalysen dominiert, fehlt weitgehend im chinesischen Diskurs. In „American Grand Strategy and East Asian Security in the 21st Century“ wird anhand einer empirischen Analyse der Verteidigungsausgaben, Handelsströme und diplomatischen Aktivitäten gezeigt, dass Ostasien heute stabiler und weniger militarisiert ist als jemals zuvor – dennoch behandelt die US-Politik die Region wie ein Pulverfass. Keines der großen ostasiatischen Länder fürchtet eine chinesische Invasion. In „Beyond Power Transitions“ wird ein Jahrtausend vormoderner ostasiatischer internationaler Beziehungen nachzeichnet und gezeigt, dass Machtverschiebungen in der Region historisch gesehen meist friedlich verliefen und eher durch Hierarchien und Diplomatie als durch Kriege geregelt wurden.
Was aus dieser Trilogie hervorgeht, ist kein naives Bild chinesischen Wohlwollens, sondern eine streng dokumentierte Argumentation dafür, dass die Bedrohung, die die westliche Politik antreibt, weitgehend imaginär ist. Kang und seine Co-Autoren leugnen nicht, dass es durchaus Konfliktbereiche gibt – allen voran Taiwan –, aber sie bestehen darauf, dass diese Streitigkeiten beherrschbar sind und ihre Wurzeln in spezifischen, geschichtlich gewachsenen Missständen haben, nicht in einem unerbittlichen Streben nach Vorherrschaft. Die wirkliche Gefahr, so warnen sie, besteht darin, dass westliche Fehlwahrnehmungen genau die Konfrontation hervorrufen, die sie eigentlich verhindern wollen. Die Alternative – eine Strategie, die auf einer genauen Einschätzung dessen basiert, was China tatsächlich sagt und tut – erfordert die Akzeptanz von Grenzen und die Bereitschaft zur Diplomatie.
I. Der Mythos der chinesischen Expansion
David C. Kang, Jackie S. H. Wong und Zenobia T. Chan widerlegen anhand statistischer Analysen systematisch die weit verbreitete Meinung, dass China nach globaler Vorherrschaft strebt. In ihrem sorgfältig recherchierten Artikel in International Security mit dem Titel „What Does China Want?“, der frei verfügbar ist, haben diese drei China-Experten etwas Einfaches und zugleich Subversives getan: Sie haben tatsächlich untersucht, was China nach eigenen Angaben will, was es tut – und warum. Das Bild, das dabei entsteht, hat wenig mit der globalen Bedrohung zu tun, die den politischen Diskurs im Westen dominiert. Anstelle einer expansionistischen Macht, die darauf aus ist, die Vereinigten Staaten als globale Hegemonialmacht zu verdrängen, erscheint China als eine Status-quo-Macht, die von Regimestabilität besessen ist, sich überwiegend auf innenpolitische Herausforderungen konzentriert und territoriale Ansprüche hat, die keine neuen imperialen Ambitionen sind, sondern seit Jahrhunderten bestehen.
Kang, Wong und Chan argumentieren, dass der kriegstreiberische Konsens in den westlichen Hauptstädten auf einer tiefgreifenden Fehlinterpretation der chinesischen Absichten beruht. Ihre Methodik ist einfach, aber wirkungsvoll. Anstatt über geheime Ambitionen zu spekulieren oder aus theoretischen Modellen des Verhaltens von Großmächten zu extrapolieren, analysieren sie systematisch Chinas eigene Aussagen zu seinen Zielen und Prioritäten. Sie untersuchen die maßgeblichsten Quellen im chinesischen politischen System: Leitartikel in der People’s Daily, der offiziellen Zeitung des Zentralkomitees der Kommunistischen Partei; Reden von Xi Jinping und anderen Spitzenpolitikern; und Artikel in Qiushi, der führenden theoretischen Zeitschrift der Partei. Mithilfe genauer Lektüre und computergestützter Textanalyse verfolgen sie, was China nach eigenen Angaben wichtig ist, wie sich diese Anliegen im Laufe der Zeit entwickelt haben und wie sich die chinesische Rhetorik im Vergleich zur amerikanischen Rhetorik über die globale Führungsrolle darstellt. Das Ergebnis ist eine Argumentation, die das gesamte Rahmenwerk, durch das westliche Eliten Peking verstehen, in Frage stellt.
Was China nach eigenen Angaben will – eine statistische Analyse
Die Autoren beginnen mit der grundlegendsten Frage: Was definiert China als seine Kerninteressen? Die Antwort, die seit 2009 in offiziellen Dokumenten klar formuliert und 2011 in einem Weißbuch der Regierung formalisiert wurde, besteht aus drei Prioritäten. Erstens: innenpolitische Stabilität – das Überleben und die Legitimität der Herrschaft der Kommunistischen Partei. Zweitens: Souveränität und territoriale Integrität über Gebiete, die China historisch als chinesisch betrachtet. Drittens: nachhaltige wirtschaftliche und soziale Entwicklung. Wenn Xi Jinping seit seiner Machtübernahme im Jahr 2012 über Kerninteressen spricht, verwendet er fast identische Formulierungen: Souveränität, Sicherheit und Entwicklung. Das sind nicht die Ambitionen einer Macht, die die internationale Ordnung umstürzen will.
Um dieses Muster systematisch aufzuzeigen, führten die Autoren eine quantitative Analyse des offiziellen chinesischen Diskurses durch. Sie identifizierten über 12.000 Artikel in der People’s Daily zwischen 2012 und 2024, die den Begriff „Kampf” enthielten – ein Konzept mit tiefer ideologischer Bedeutung in der marxistisch-leninistischen Tradition Chinas, das in der chinesischen Propaganda häufig verwendet wird, um zentrale Prioritäten zu signalisieren. Worum ging es bei diesen Kämpfen? Zwischen 68 und 85 Prozent der Artikel konzentrierten sich auf innenpolitische Herausforderungen: Wirtschaftsmanagement, Korruption, interne Parteidisziplin und soziale Stabilität. Streitigkeiten über das Ost- und Südchinesische Meer – die maritimen Krisenherde, die in amerikanischen Bedrohungsanalysen überwiegend besprochen werden – machten nur einen kleinen Teil des Diskurses aus. Selbst wenn chinesische Führer den Begriff „Kampf” verwendeten, sprachen sie überwiegend über Probleme im Inland und nicht im Ausland. Dies ist keine triviale Erkenntnis. Wenn China wirklich auf externe Expansion und globale Vorherrschaft ausgerichtet wäre, würde man erwarten, dass die offizielle Zeitung der Partei diese Prioritäten widerspiegelt.
Die Autoren untersuchten dann einen weiteren Schlüsselbegriff, der in westlichen Kreisen große Aufmerksamkeit erregt hat: den Aufstieg des Ostens und den Niedergang des Westens. Diese Formulierung, die seit Xi Jinpings Amtsantritt nur in 32 Artikeln der People’s Daily vorkam, wird oft als Beweis für chinesischen Triumphalismus angeführt. Als die Autoren jedoch nachverfolgten, wie der Begriff tatsächlich verwendet wurde, stellten sie etwas anderes fest. Chinesische Beamte beriefen sich auf den Aufstieg des Ostens und den Niedergang des Westens in erster Linie, um innenpolitische Maßnahmen zu rechtfertigen – um für die Fortsetzung der Parteiführung zu werben, Chinas Entwicklungsmodell zu verteidigen oder eine vertiefte internationale Zusammenarbeit zu fordern. Es handelt sich um eine Behauptung die Überlegenheit der chinesischen Regierungsführung im Inland betreffend, nicht um einen Entwurf für eine Expansion im Ausland. In seiner maßgeblichsten Stellungnahme zu diesem Thema verwendete Xi den Ausdruck, um zu verdeutlichen, dass Chinas Modernisierung ein Vorbild für andere Entwicklungsländer sei – aber er erklärte ausdrücklich, dass China nicht die Absicht habe, sein Modell zu exportieren oder die USA zu ersetzen. Die Rhetorik war defensiv und nach innen gerichtet, nicht expansionistisch.
Die Analyse der Reden von Xi Jinping liefert ähnlich auffällige Ergebnisse. Die Autoren sammelten 176 Reden aus den Jahren 2012 bis 2024, in denen Xi auf die Vereinigten Staaten Bezug nahm. Als sie diese Reden nach Themen kodierten, stellten sie fest, dass das dominierende Thema Zusammenarbeit und nicht Konfrontation war. Selbst wenn Xi sensible Themen wie Taiwan, die Einmischung der USA in die inneren Angelegenheiten Chinas oder maritime Streitigkeiten ansprach, lag der Schwerpunkt weiterhin auf Dialog und Zusammenarbeit. Xi erklärte wiederholt, dass China ein selbstbewusstes, offenes und prosperierendes Amerika begrüße, lehnte Nullsummen-Denken ab und bestand darauf, dass der Wettbewerb der Großmächte nicht die Ära bestimmen sollte. Das sind nicht die Worte eines Führers, der sein Land auf einen Kampf zur Umwälzung der internationalen Ordnung vorbereitet. Es sind die Worte eines Führers, der versucht, eine komplexe Beziehung zu einem mächtigeren Rivalen zu managen.
Xi und andere Regierungsvertreter haben wiederholt erklärt, dass China nicht danach strebt, die USA als globale Hegemonialmacht abzulösen, und keine regionale Vorherrschaft anstrebt. In seiner Rede zum hundertjährigen Jubiläum der Gründung der Kommunistischen Partei im Jahr 2021 – einer der wichtigsten Ansprachen seiner Amtszeit – forderte Xi keine globale Führungsrolle Chinas. Stattdessen sagte er, dass China mit allen fortschrittlichen Kräften zusammenarbeiten wolle und sich für Zusammenarbeit statt Konfrontation einsetze. Er sprach sich ausdrücklich gegen Hegemonie und Machtpolitik aus. Er erklärte, dass die chinesische Nation keine aggressiven oder hegemonialen Züge in ihren Genen trage und dass China niemals die Bevölkerung eines anderen Landes schikaniert, unterdrückt oder unterworfen habe und dies auch niemals tun werde. Bei seinem Treffen mit Präsident Biden im Jahr 2024 wiederholte Xi, dass China nicht die Absicht habe, mit den Vereinigten Staaten um die globale Vorherrschaft zu konkurrieren, und warnte davor, eine neue Dynamik des Kalten Krieges zu fördern.
Die Autoren sind vorsichtig genug, diese Aussagen nicht für bare Münze zu nehmen. Sie erkennen an, dass Politiker Dinge sagen, die möglicherweise nicht ihre wahren Präferenzen widerspiegeln, und dass Rhetorik aus billigen Worten bestehen kann, die der Täuschung dienen. Sie weisen jedoch darauf hin, dass es sich hierbei nicht um vereinzelte oder improvisierte Äußerungen handelt. Sie tauchen wiederholt in den maßgeblichen Parteidokumenten, in Reden vor nationalem und internationalem Publikum, auf Mandarin und Englisch sowie in Lehrmaterialien auf, die zur Ausbildung chinesischer Schüler von der Grundschule bis zum Hochschulstudium verwendet werden. Wenn Chinas Führer heimlich expansionistische Ambitionen hegen würden, wäre es seltsam, ihren eigenen Bürgern und 100 Millionen Parteimitgliedern jahrzehntelang das Gegenteil beizubringen. Die Wiederholung und Institutionalisierung dieser Themen deuten darauf hin, dass sie echte Prioritäten widerspiegeln – oder zumindest offenbaren sie, was China seiner Bevölkerung über die Rolle des Landes in der Welt glauben machen will. Wenn es sich wirklich um ein Regime handeln würde, das auf die Weltherrschaft aus ist, würde man eine weitaus umfangreichere und aggressivere Rhetorik in den streng kontrollierten und offiziellen Kommunikationskanälen der Partei erwarten.
Der Kontrast zur amerikanischen Rhetorik ist aufschlussreich. Wenn US-Politiker über die globale Rolle ihres Landes sprechen, beschreiben sie Amerika routinemäßig als die unverzichtbare Nation, den Führer der freien Welt, den Garanten der liberalen internationalen Ordnung. Diese Sprache der globalen Mission und moralischen Einzigartigkeit fehlt weitgehend im chinesischen Diskurs. Wo Amerikaner von Führung sprechen, sprechen chinesische Beamte von Zusammenarbeit. Wo Amerikaner universelle Werte beschwören, betonen chinesische Führer chinesische Besonderheiten – eine Formulierung, die die Beschränkung ihrer Ambitionen ausdrücklich auf China selbst suggeriert. Der Ausdruck „Sozialismus mit chinesischen Besonderheiten” ist keine Ideologie für den Export. Er ist eine Rechtfertigung dafür, warum Chinas politisches und wirtschaftliches System für China funktioniert, und keine Forderung, dass andere Länder es übernehmen sollten. Dies ist nicht die Sprache einer Macht, die sich als rechtmäßiger Architekt einer neuen Weltordnung versteht.
Was China historisch gesehen wollte
Wenn Chinas Ambitionen heute eher begrenzt und defensiv als expansiv und aggressiv erscheinen, so ist dies nach Ansicht der Autoren keine neue Entwicklung oder taktische Finte. Es spiegelt Kontinuitäten wider, die Jahrhunderte zurückreichen. Fast alle Territorialfragen, die die Volksrepublik heute beschäftigen – Taiwan, Tibet, Xinjiang, Hongkong und die umstrittenen Seegrenzen im Ost- und Südchinesischen Meer – reichen bis in die Qing-Dynastie oder noch weiter zurück. Es handelt sich dabei nicht um neue Ansprüche, die von der Kommunistischen Partei nach 1949 erfunden oder von Xi Jinping nach 2012 eskaliert wurden. Die Autoren bezeichnen sie als transdynastische Anliegen: Streitigkeiten, die trotz radikaler Veränderungen der politischen Macht, von der kaiserlichen Herrschaft über die republikanische Regierung bis hin zur kommunistischen Diktatur, fortbestehen. Das Verständnis dieser Geschichte ist unerlässlich, um zu verstehen, was China heute will – und was es nicht will.
Betrachten wir Taiwan, das Thema, das die amerikanischen Ängste vor einer Expansion Chinas dominiert und das viele Analysten als potenzielles Sprungbrett für eine umfassendere Aggression beschreiben. Die Autoren verfolgen Taiwans Platz im politischen Bewusstsein Chinas bis ins 17. Jahrhundert zurück. Nach dem Zusammenbruch der Ming-Dynastie errichtete ein Piratenkönig und Ming-Loyalist namens Zheng Chenggong eine Basis auf Taiwan und nutzte sie, um jahrzehntelang Krieg gegen die neue Qing-Dynastie zu führen. Als die Qing Ende des 17. Jahrhunderts schließlich Zhengs Streitkräfte besiegten, gliederten sie Taiwan in ihr Reich ein und verwalteten es zunächst als Präfektur der Provinz Fujian und später, ab 1886, als eigenständige Provinz. Taiwan blieb bis 1895 Teil des Qing-Reiches, bis China es nach dem Ersten Chinesisch-Japanischen Krieg im Vertrag von Shimonoseki an Japan abtrat. Der Qing-Unterhändler Li Hongzhang warnte damals, dass die Abtretung von seit Jahrhunderten gehaltenem Territorium zu einer Quelle dauerhafter Unzufriedenheit werden würde. Er hatte recht.
Taiwan blieb 50 Jahre lang unter japanischer Kolonialherrschaft, bis Japan im Zweiten Weltkrieg besiegt wurde. Auf der Kairoer Konferenz 1943 einigten sich die Vereinigten Staaten, Großbritannien und das nationalistische China darauf, dass alle Gebiete, die Japan China geraubt hatte – einschließlich Taiwan – wieder unter chinesische Souveränität gestellt werden sollten. Als Japan 1945 kapitulierte, forderte die Republik China unter der Kuomintang Taiwan zurück, was die Chinesen als „Rückführung” bezeichnen, also die ehrenvolle Rückgewinnung verlorener Gebiete. Vier Jahre später, als die Kommunisten den chinesischen Bürgerkrieg gewannen, floh die besiegte Kuomintang nach Taiwan und beanspruchte weiterhin die Legitimität als Regierung ganz Chinas. Die neue kommunistische Regierung auf dem Festland erhob denselben Anspruch in umgekehrter Richtung: Sie sei die legitime Regierung ganz Chinas, einschließlich Taiwans. Seit mehr als sieben Jahrzehnten dauert diese Pattsituation an. Aber während dieser ganzen Zeit waren sich sowohl die Regierung in Peking als auch die Regierung in Taipeh in einem Punkt einig: Taiwan ist Teil Chinas. Erst nach den ersten demokratischen Wahlen in Taiwan im Jahr 1996 kam die Möglichkeit eines anderen Status auf – und genau diese Möglichkeit, nicht etwa neue imperiale Ambitionen, ist es, die Peking unerträglich findet.
Die anderen großen Territorialstreitigkeiten folgen ähnlichen Mustern. Hongkong wurde 1841 während des ersten Opiumkrieges von Großbritannien erobert und bis zu seiner Rückgabe an China 1997 als britische Kolonie verwaltet. Macau, das seit dem 16. Jahrhundert unter portugiesischer Kontrolle stand, kehrte erst 1999 zurück. Tibet kam 1720 unter die Kontrolle der Qing-Dynastie und blieb bis zum Zusammenbruch der Dynastie Teil des chinesischen Reiches. Xinjiang wurde Ende des 19. Jahrhunderts als Provinz eingegliedert. Die Streitigkeiten im Ost- und Südchinesischen Meer um kleine Inseln und Seegrenzen entstanden in der chaotischen ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts, als der Zusammenbruch der Qing-Dynastie, der japanische Imperialismus und die Einführung westfälischer Souveränitätskonzepte die politische Landkarte Asiens neu zeichneten. Die berühmte Neun-Striche-Linie, mit der China seine Ansprüche im Südchinesischen Meer geltend macht, stammt nicht aus der Volksrepublik. Sie tauchte erstmals auf einer offiziellen Karte auf, die 1948 von der Republik China veröffentlicht wurde – der von den USA unterstützten Kuomintang-Regierung, die von den Kommunisten besiegt wurde. Als die Volksrepublik diese Ansprüche übernahm, erfand sie keine neuen territorialen Ambitionen. Sie übernahm Streitigkeiten, die seit Jahrzehnten oder Jahrhunderten schwelten.
Diese historische Kontinuität ist wichtig, weil sie die Darstellung grundlegend in Frage stellt, dass Chinas derzeitige Selbstgewissheit die Ambitionen einer aufstrebenden Macht widerspiegelt, die von ihrer neu gewonnenen Stärke berauscht ist. China ist keineswegs eine neue Macht. Es ist eine wiederbelebte Macht, die eine Position zurückerobert, die sie während eines Großteils der aufgezeichneten Geschichte innehatte. Und die Themen, die ihr am meisten am Herzen liegen, sind nicht das Ergebnis jüngster geopolitischer Kalküle, sondern das Erbe eines traumatischen Jahrhunderts voller ausländischer Invasionen, innerer Zusammenbrüche und territorialer Verluste. Die chinesischen Führer und Bürger glauben aufrichtig, dass diese Gebiete chinesisch sind – nicht wegen der kommunistischen Propaganda, sondern weil sie über mehrere Jahrhunderte hinweg von mehreren Regierungen als chinesisch behandelt wurden. Die Autoren zeigen, dass das demokratische Taiwan fast identische territoriale Ansprüche wie das autoritäre China stellt – einschließlich derselben Neun-Striche-Linie im Südchinesischen Meer. Niemand im Westen betrachtet Taiwans Ansprüche als aggressiven Imperialismus. Bei diesen Streitigkeiten geht es nicht um Ideologie. Es geht um Grenzen und Souveränität in einer Region, in der diese Fragen nie vollständig geklärt wurden.
Was China nicht will
Wenn Chinas Ziele so begrenzt und historisch verwurzelt sind, wie die Autoren argumentieren, dann ist die logische Folge ebenso wichtig: Es gibt vieles, was China nicht will und nicht anstrebt. Es will weder Vietnam noch Japan noch Südkorea erobern. Es will weder in die Philippinen oder Indien einmarschieren noch die territoriale Kontrolle über Südostasien erlangen. Es will weder sein politisches System exportieren noch die Entwicklungsländer zum chinesischen Sozialismus bekehren. Es will weder die Vereinigten Staaten als Weltpolizist ablösen noch die internationale Ordnung umstürzen.
Seit 1949 hat die Volksrepublik weit mehr territoriale Streitigkeiten beigelegt, als sie eskaliert hat. Auf dem Höhepunkt ihrer Macht kontrollierte die Qing-Dynastie ein Gebiet von rund 13 Millionen Quadratkilometern. Die Volksrepublik umfasst heute etwa 9,5 Millionen Quadratkilometer. Die Differenz von fast vier Millionen Quadratkilometern entspricht Gebieten, die China ausdrücklich als zu anderen souveränen Staaten gehörig anerkannt hat. China hat diese Grenzen in Verträgen mit seinen Nachbarn in Zentralasien, Südostasien und Nordostasien festgeschrieben. Dies ist nicht das Verhalten einer irredentistischen Macht, die ein verlorenes Imperium zurückerobern will. Es ist das Verhalten eines Staates, der die Souveränität seiner Nachbarn anerkennt und bereit ist, Grenzen zu formalisieren, selbst wenn diese Grenzen territoriale Verluste bedeuten.
Heute hat China fünf große ungelöste Territorialstreitigkeiten: Taiwan, die Grenze zu Indien, die Paracel-Inseln, die Senkaku-Inseln und die Spratly-Inseln. Diese Streitigkeiten sind bemerkenswert stabil geblieben, obwohl Chinas wirtschaftliche und militärische Macht in den letzten vier Jahrzehnten exponentiell gewachsen ist. Chinas territoriale Ansprüche sind heute im Wesentlichen dieselben wie in den 1950er-Jahren, als das Land noch bitterarm war. Die Macht ist gewachsen, die Ambitionen nicht.
Bemerkenswert ist, dass das einzige Thema, bei dem China keine Kompromisse eingeht – wo es Streitkräfte aufgebaut, Einschüchterungsmanöver durchgeführt und mit Gewalt gedroht hat –, Taiwan ist. Taiwan ist jedoch kein beliebiges Stück Land, das China aus strategischen Gründen begehrt. Es ist das unvollendete Geschäft eines Bürgerkriegs, der nie offiziell beendet wurde, ein Gebiet, das jede chinesische Regierung seit der Qing-Dynastie als Teil Chinas betrachtet hat, und ein symbolischer Test dafür, ob die Kommunistische Partei das vollenden kann, was sie als nationale Wiederbelebung bezeichnet. Diese Unterscheidung ist wichtig. Chinas Verhalten gegenüber Taiwan lässt keine Rückschlüsse auf sein Verhalten gegenüber anderen Ländern zu, da kein anderes Land denselben Platz in der historischen Erinnerung Chinas einnimmt. Wenn westliche Analysten aus Taiwan Rückschlüsse auf eine mögliche chinesische Aggression gegen Vietnam, Japan oder die Philippinen ziehen, ignorieren sie sowohl die Geschichte als auch die chinesische Rhetorik. Diese anderen Länder sind anerkannte souveräne Staaten, mit denen China diplomatische Beziehungen und Grenzabkommen unterhält und gegenüber denen es keine irredentistischen Ansprüche geltend macht. Taiwan ist anders.
Die westliche Fehlwahrnehmung
Die Autoren zitieren ausführlich aus Äußerungen von US-Außenministern, nationalen Sicherheitsberatern und hochrangigen Verteidigungsbeamten – Demokraten wie Republikaner –, die China als ein Land beschreiben, das die regelbasierte internationale Ordnung umstürzen und eine Hegemonie in Asien und darüber hinaus errichten will. Diese Einschätzungen führen zu einer Politik, die sich fast ausschließlich auf militärische Lösungen konzentriert. Die USA erhöhen ihre Verteidigungsausgaben, erweitern ihre Allianzen im indopazifischen Raum, führen Operationen zur Wahrung der Freiheit der Schifffahrt in umstrittenen Gewässern durch und bereiten sich auf einen möglichen Krieg um Taiwan vor. Die gängige Meinung lautet, dass Amerika Entschlossenheit zeigen, chinesische Aggressionen abschrecken, und eine Koalition aufbauen muss, die in der Lage ist, Peking in Schach zu halten. Die Wirtschaftspolitik folgt derselben Logik: Technologietransfers einschränken, Zölle erheben, Lieferketten entkoppeln und China die Ressourcen verweigern, die es benötigt, um die Vorherrschaft Amerikas in Frage zu stellen.
Die Autoren finden jedoch kaum Belege für die zugrunde liegende Bedrohungsanalyse. Bei der systematischen Untersuchung offizieller chinesischer Verlautbarungen – wobei sie nicht nur ausgewählte Zitate heranziehen, sondern Tausende von Dokumenten mit qualitativen und quantitativen Methoden analysieren – stellen sie fest, dass China keineswegs nach globaler Vorherrschaft strebt. China ist nicht in jeder Hinsicht eine Status-quo-Macht. Es ist eindeutig unzufrieden mit bestimmten Aspekten der aktuellen Ordnung, insbesondere mit der militärischen Präsenz der USA in Ostasien und der amerikanischen Unterstützung für Taiwan. Aber Unzufriedenheit mit bestimmten Elementen der Weltordnung und die Bereitschaft, die USA bei Kerninteressen herauszufordern, ist nicht gleichbedeutend mit dem Bestreben, das gesamte System zu zerstören.
Die Gefahren von Fehlwahrnehmungen
Die Kluft zwischen dem, was China offenbar will, und dem, was die Vereinigten Staaten glauben, das China will, ist keine akademische Debatte. Sie hat tiefgreifende und potenziell katastrophale Folgen. Wenn sich die amerikanischen Politiker auf den falschen Krieg vorbereiten und Verbündete bewaffnen, um einen nicht existierenden Expansionismus einzudämmen, laufen sie Gefahr, eine sich selbst erfüllende Prophezeiung zu schaffen. China, das sich von feindlichen Allianzen umzingelt und einem Wirtschaftskrieg ausgesetzt sieht, könnte zu dem Schluss kommen, dass die USA entschlossen sind, seine Entwicklung zu verhindern, unabhängig davon, was es tut oder sagt. In diesem Szenario wird Zusammenarbeit unmöglich und Konfrontation unvermeidlich, weil die amerikanische Politik keine Alternativen zulässt.
Die Autoren sind besonders besorgt über die Fokussierung auf Taiwan. Sie bestreiten nicht, dass Peking bereit ist, Gewalt anzuwenden, um die Unabhängigkeit Taiwans zu verhindern. Sie argumentieren jedoch, dass amerikanische Analysten systematisch falsch interpretieren, was Taiwan für China bedeutet und was das Verhalten Chinas gegenüber Taiwan über die Absichten Chinas in anderen Regionen aussagt. Für chinesische Führer und Bürger ist Taiwan kein strategischer Vorteil oder Sprungbrett für Expansionen. Es ist die letzte unverheilte Wunde aus einem Jahrhundert der Demütigung, das letzte Stück Territorium, das durch ausländischen Imperialismus und Bürgerkrieg verloren gegangen ist. Taiwan ist das einzige historische Gebiet, das sich außerhalb der Kontrolle Pekings befindet und in dem politische Kräfte entstanden sind, die eine dauerhafte Trennung anstreben. Aus diesem Grund behandelt China Taiwan anders als andere Streitigkeiten. Nicht weil Taiwan strategisch besonders wertvoll wäre – obwohl es sicherlich strategische Bedeutung hat –, sondern weil Taiwan im chinesischen Nationalismus eine einzigartige symbolische und emotionale Bedeutung hat.
Kein chinesischer Führer könnte die Unabhängigkeit Taiwans akzeptieren, ohne die Legitimität der chinesischen Souveränität selbst in Frage zu stellen. Die Vereinigten Staaten, die Taiwan zunehmend wie ein unabhängiges Land behandeln – indem sie seine Beamten empfangen, moderne Waffen verkaufen und andeuten, dass sie die Insel militärisch verteidigen würden –, schrecken China nicht von einer Aggression ab. Sie überzeugen Peking davon, dass Washington eine dauerhafte Trennung Taiwans von China anstrebt, ein Ziel, das keine chinesische Regierung akzeptieren könnte. Das rechtfertigt zwar keine chinesische Invasion, es deutet jedoch darauf hin, dass die derzeitige Entwicklung das Risiko eines Krieges in einer Frage erhöht, in der beide Seiten ihre Interessen auf grundlegend unvereinbare Weise definieren.
Entscheidend ist, dass die Ereignisse in Taiwan nicht darüber entscheiden werden, was anderswo geschieht. Die Autoren verweisen auf die Reaktionen in Ostasien auf den Besuch von Nancy Pelosi in Taiwan im August 2022. Die Regierungen in der gesamten Region reagierten alarmiert und bekräftigten ihr Bekenntnis zur Ein-China-Politik. Südkorea, Vietnam, Indonesien, Thailand, Malaysia, die Philippinen und die ASEAN als Gruppe gaben Erklärungen ab, in denen sie zur Zurückhaltung aufriefen und ausdrücklich den Grundsatz bekräftigten, dass Taiwan Teil Chinas ist. Diese Länder betrachten Taiwan nicht als Testfall dafür, ob China zu einer aggressiven Imperialmacht werden wird. Sie sehen es als eine Frage, die das chinesische Volk im weiteren Sinne unter sich lösen muss. Und sie glauben nicht, dass Chinas Entschlossenheit, die Unabhängigkeit Taiwans zu verhindern, bedeutet, dass China als Nächstes gegen sie vorgehen wird. Die Gefahr besteht darin, dass Washington die Länder in der Region zwingen wird, in einer Konfrontation, die sie nicht wollen, Partei zu ergreifen.
Der alternative Weg
Kang, Wong und Chan betonen, dass es Bereiche gibt, in denen echte Konflikte zwischen den USA und China bestehen. Taiwan ist nur der offensichtlichste und gefährlichste davon. Handelspraktiken, Technologiewettbewerb und Menschenrechte sind Bereiche, in denen die Interessen der USA und Chinas auseinandergehen. Aber dies sind beherrschbare Streitigkeiten, wie sie Großmächte schon immer zu bewältigen hatten, und keine existenziellen Kämpfe, die eine totale Mobilisierung erfordern.
Klimawandel, Pandemien, globale wirtschaftliche Stabilität, nukleare Nichtverbreitung und globale KI-Sicherheitsregeln erfordern die Zusammenarbeit zwischen den beiden größten Volkswirtschaften der Welt. Die ausschließliche Konzentration auf Wettbewerb und Eindämmung macht eine Zusammenarbeit unmöglich, selbst wenn beide Länder davon profitieren würden. Es gibt bereits Modelle für teilweise Kooperation. Während des Kalten Krieges haben die USA und die Sowjetunion Waffenbegrenzungsabkommen, Krisenkommunikationskanäle und begrenzte Bereiche der wissenschaftlichen Zusammenarbeit verwaltet, obwohl sie strategische Gegner blieben. Ähnliche Mechanismen könnten es den USA und China ermöglichen, gemeinsame Herausforderungen anzugehen, ohne ihre tieferen Meinungsverschiedenheiten zu lösen.
Wissenschaft gegen den Strom
Westliche Nationen verstehen die Welt durch einen Rahmen, der von ihren eigenen imperialen Erfahrungen geprägt ist, und können sich nicht vorstellen, dass andere Mächte anders agieren könnten. Kang, Wong und Chan haben jedoch empirische Argumente zusammengetragen, die schwer zu widerlegen sind. Sie veröffentlichen in einer der renommiertesten Fachzeitschriften ihres Fachgebiets. Ihre quantitative Analyse chinesischer offizieller Texte ist transparent und reproduzierbar.
Die Geschichte der Konflikte zwischen Großmächten ist übersät mit Kriegen, die keine der beiden Seiten wollte, in die sie aber aufgrund von Fehlwahrnehmungen über die Absichten der anderen Seite hineingeraten sind. Kang, Wong und Chan sprechen eine deutliche Warnung aus. Die USA glauben, dass sie defensiv auf die chinesische Aggression reagieren und eine weitere Expansion verhindern. China sieht darin jedoch einen Versuch der USA, seinen Aufstieg einzudämmen, seine Entwicklung zu verhindern und sich in seine inneren Angelegenheiten einzumischen. Wenn die USA ihre militärische Präsenz in der Nähe Chinas verstärken, Allianzen ausbauen, Technologietransfers einschränken und Taiwan zunehmend wie ein unabhängiges Land behandeln, glauben sie, damit eine Botschaft der Stärke und Entschlossenheit zu senden. Peking könnte jedoch die Botschaft empfangen, dass Washington unter keinen Umständen ein mächtiges China akzeptieren wird und einen Krieg vorbereitet.
Es gibt Verhandlungsspielraum hinsichtlich des Status Taiwans, der den Frieden bewahrt, ohne dass eine der beiden Seiten ihre Kernpositionen aufgeben muss. Es gibt Spielraum für die Beilegung maritimer Streitigkeiten durch Diplomatie statt militärischer Konfrontation. Es gibt Spielraum für Wettbewerb in einigen Bereichen und Zusammenarbeit in anderen.
Die Vereinigten Staaten müssen akzeptieren, dass China eine Großmacht in Asien und weltweit sein wird. Das ist keine Wahl, sondern eine Tatsache. China hat die zweitgrößte Bevölkerung der Welt, die zweitgrößte Wirtschaft und ein zunehmend leistungsfähiges Militär. Es wird Interessen haben und diese verfolgen. Eine Politik, die darauf abzielt, den Aufstieg Chinas zu verhindern oder die überwältigende militärische Überlegenheit der USA überall auf der Welt aufrechtzuerhalten, wird nicht nur scheitern, sondern genau die Konfrontation provozieren, die sie angeblich verhindern will. Diplomatie muss das wichtigste Instrument der Zusammenarbeit werden.
Kang, Wong und Chan haben ein Werk von akribischer Wissenschaftlichkeit vorgelegt, das zu einem Zeitpunkt von höchster Relevanz und größter Gefahr erscheint. Die von ihnen zusammengetragenen Beweise sind umfangreich und sorgfältig präsentiert. Chinas offizielle Erklärungen betonen die innere Stabilität, die territoriale Integrität und die wirtschaftliche Entwicklung – nicht die globale Vorherrschaft. Letztendlich geht es nicht um die Wahl zwischen einer Konfrontation mit China und einer Beschwichtigungspolitik. Die Wahl besteht zwischen einer Strategie, die auf einer genauen Einschätzung der Absichten und Fähigkeiten Chinas basiert, und einer Strategie, die auf westlichen Vorurteilen, Ängsten und Projektionen basiert. Ersteres erfordert Geduld, nachhaltiges diplomatisches Engagement und Kompromissbereitschaft. Die Alternative – eine generationenlange militärische Konfrontation – könnte eine Katastrophe sein, die zukünftige Historiker nur schwer erklären können.
David C. Kangs 2017 erschienenes Buch „American Grand Strategy and East Asian Security in the 21st Century” widerlegt den Mythos eines zunehmenden Wettrüstens in Asien. Mit ruhiger, empirischer Präzision zerlegt er die westliche Orthodoxie. Das Buch ist keine Polemik, sondern ein nachhaltiger Akt der intellektuellen Korrektur. Seine zentrale Erkenntnis ist eindeutig: Ostasien ist heute reicher, stärker vernetzt und militärisch ruhiger als jemals zuvor in diesem Jahrhundert. Dennoch verhält sich Washington, als würde ein Pulverfass auf den Funken warten.
Kang beginnt nicht mit Rhetorik, sondern mit Daten. In elf ostasiatischen Ländern, darunter China, sanken die durchschnittlichen Militärausgaben von 3,35 Prozent des BIP im Jahr 1990 auf 1,84 Prozent im Jahr 2015 – eine fast halbierte regionale Verteidigungslast. Lateinamerika, das als relativ friedliche Region gilt, gab etwa den gleichen Anteil seines Einkommens für Verteidigung aus wie Ostasien. Mit anderen Worten: Der Aufstieg Chinas hat kein Wettrüsten ausgelöst, sondern eine Ära der Zurückhaltung. Kang zeigt, dass die Regierungen der Region in Häfen, Fabriken und Universitäten investieren, nicht in Flugzeugträger.
Der Kontrast zum Verhalten der USA ist auffällig. Washington gestaltet seine Asienpolitik weiterhin nach dem Vorbild der Eindämmungspolitik der 1950er-Jahre, komplett mit Bündnissen aus dem Kalten Krieg und einer Militär-zuerst-Doktrin, die sich zu einem Reflex verfestigt hat. Doch die Gesellschaften, die angeblich nach dem Schutz der USA verlangen, vermeiden in Wirklichkeit eine Konfrontation. In Interviews, Handelsdaten und Längsschnittstudien findet Kang keinen Willen zu einer Eindämmungskoalition gegen China. Alle Staaten von Südkorea bis Indonesien bevorzugen Engagement und verfolgen eine Hedging-Diplomatie, die die Märkte offen und die Militärs ruhig hält. Die Zahlen erzählen eine Geschichte des Friedens, die Rhetorik eine Geschichte der Gefahr. Nur eine davon kann wahr sein.
Der Mythos des asiatischen Pulverfasses
Kangs subversivste Behauptung ist auch seine am besten dokumentierte: Es gibt keinen Rüstungswettlauf in Ostasien. Selbst wenn westliche Thinktanks vor einem drohenden Konflikt im Südchinesischen Meer warnen, sind die Verteidigungsbudgets in der gesamten Region unverändert geblieben oder zurückgegangen. Indonesien, das oft als Gegenbeispiel angeführt wird, hat seine Militärausgaben seit 2002 um elf Prozent pro Jahr erhöht – gibt aber immer noch weniger als ein Prozent seines BIP für Verteidigung aus. Die Verteidigungsausgaben Vietnams liegen bei 2,3 Prozent des BIP, etwa der Hälfte des globalen Durchschnitts. Chinas Anteil von 1,9 Prozent liegt unter dem der Vereinigten Staaten. Dies als Wettrüsten zu bezeichnen, so Kang, hieße, die Besorgnis in Washington mit Aggression in Asien zu verwechseln. In den Jahren seit der Veröffentlichung des Buches haben einige ostasiatische Länder ihre Verteidigungsausgaben erhöht. Nordkorea bleibt jedoch das einzige Land, das seine Verteidigungsausgaben auf einem Niveau hält, das hoch genug ist, um zu vermuten, dass es um sein Überleben fürchtet. Natürlich hat es keine Angst vor China.
Kang geht direkt auf die weit verbreitete Annahme ein, dass ostasiatische Staaten wenig für ihr Militär ausgeben, weil sie sich auf den Sicherheitsgarantien der USA ausruhen. Er überprüft diese Annahme empirisch und stellt fest, dass sie weitgehend unbegründet ist. Er vergleicht die Verteidigungsausgaben der Vertragspartner der USA – Japan, Südkorea, die Philippinen, Thailand und Australien – mit denen nicht verbündeter Staaten und zeigt, dass ihre Militärausgaben praktisch identisch sind: Bis 2015 lagen beide Gruppen im Durchschnitt bei etwa 1,7 Prozent des BIP. Es gibt keinen Beweis für das vermeintliche Muster, dass Verbündete aufgrund ihres Vertrauens in den Schutz der USA zu wenig ausgeben. Kang erklärt dies mit den Grenzen des amerikanischen Engagements und der anhaltenden Unsicherheit kleinerer Staaten darüber, ob Washington tatsächlich zu ihren Gunsten intervenieren würde. Die meisten ostasiatischen Regierungen verfolgen eine bescheidene, aber autonome Verteidigungspolitik, die weniger von den Garantien der USA als vielmehr von ihrer eigenen Einschätzung der regionalen Stabilität und der geringen Wahrscheinlichkeit eines Krieges geprägt ist. Wenn beispielsweise Vietnam eine chinesische Invasion befürchten würde, wäre es dann klug, zu glauben, dass die USA einen weiteren Vietnamkrieg führen würden, nur diesmal auf der Seite der Kommunistischen Partei?
Kangs Kapitel über die wichtigsten Länder der Region liefern überzeugende Beweise dafür, dass sie sich nicht auf eine militärische Konfrontation mit China vorbereiten.
Korea
Obwohl Südkorea ein formeller Verbündeter der USA ist, hat es konsequent vermieden, sich zwischen Washington und Peking zu entscheiden. Sein Handel mit China, der mittlerweile größer ist als der mit den USA und Japan zusammen, verankert seine Außenpolitik im wirtschaftlichen Pragmatismus. Kang betont, dass die Militärausgaben seit den 1990er-Jahren bei etwa 2,5 Prozent des BIP liegen und sich hauptsächlich auf die Abschreckung Nordkoreas und weniger auf die regionale Machtprojektion konzentrieren. Selbst in Zeiten der Spannung – etwa wegen der Stationierung von THAAD-Raketen oder maritimer Streitigkeiten – hat Südkorea eine Absicherung der Allianz einer Eskalation vorgezogen. Kang interpretiert dies als Zeichen strategischer Reife: Seoul strebt nach Autonomie, nicht nach Abhängigkeit, und sieht keinen Vorteil darin, sich einer von den USA angeführten Eindämmung Chinas anzuschließen.
Nordkorea stellt nach Kangs Ansicht die einzige echte Sicherheitsbedrohung in Ostasien dar, doch selbst hier ist das Muster Abschreckung und nicht Eskalation. Das Atomprogramm des Regimes sei eine rationale Reaktion auf seine Verwundbarkeit und kein Vorbote einer Aggression. Die Manöver der USA und Südkoreas haben in Verbindung mit Sanktionen einen Kreislauf der Feindseligkeit geschaffen, dem keine Seite entkommen kann. Kangs Vergleichsdaten zeigen jedoch, dass Nordkorea außerhalb der Halbinsel keinen Erfolg damit hatte, Instabilität zu exportieren. Die Gefahr liegt nicht in der Stärke Pjöngjangs, sondern in der Überreaktion Washingtons.
Japan
Nach Kangs Analyse bleibt Japan symbolisch von zentraler Bedeutung für die Strategie der USA, verhält sich jedoch materiell zurückhaltend. Trotz häufiger Behauptungen des Westens, Japan rüste wieder auf, liegen die Verteidigungsausgaben Tokios seit Jahrzehnten bei knapp einem Prozent des BIP und sind damit die niedrigsten unter den großen Industriemächten. Kang führt diese Zurückhaltung auf die innenpolitische Kultur und die wirtschaftliche Logik der gegenseitigen Abhängigkeit zurück: China ist Japans größter Handelspartner geworden, und eine Konfrontation würde das exportorientierte Modell des Landes gefährden. Das Buch analysiert, wie Washington jede schrittweise Änderung der japanischen Politik – wie die kollektive Selbstverteidigung oder die Schaffung eines Nationalen Sicherheitsrates – als Beweis für eine Militarisierung interpretiert, während es die strukturelle Kontinuität des Pazifismus ignoriert. Für Kang verkörpert das Beispiel Japan die Diskrepanz zwischen der Rhetorik der USA und der Realität in Ostasien: Was Washington als „Remilitarisierung” bezeichnet, ist empirisch gesehen eine minimale Anpassung.
Vietnam
Vietnam, das oft als natürliches Gegengewicht zu China dargestellt wird, erscheint in Kangs Darstellung als ein weiterer Vertreter des stillen Pragmatismus. Trotz der historischen Feindschaft hat der bilaterale Handel stark zugenommen, und Hanoi hat bewusst formelle Allianzen vermieden, die es in Konflikte zwischen Großmächten verwickeln könnten. Die Militärausgaben sind mit etwa 2,3 Prozent des BIP im globalen Vergleich moderat. Kang stellt fest, dass Vietnam sowohl mit Peking als auch mit Washington kooperiert und sich an von China geführten regionalen Initiativen beteiligt, während es gleichzeitig einen begrenzten Zugang der US-Marine begrüßt. Das Muster, schreibt er, sei „Äquidistanz”: Vietnam setzt auf Flexibilität statt auf Abschreckung.
Die Philippinen
Kangs Kapitel über die Philippinen deckt die Fragilität der US-Allianzstrukturen auf. Obwohl Manila im Rahmen von Rotationsvereinbarungen amerikanische Truppen beherbergt, schwankt es stark zwischen Abhängigkeit und Trotz. Unter Präsident Duterte warben die Philippinen um chinesische Investitionen und drohten gleichzeitig mit der Ausweisung der US-Streitkräfte; spätere Regierungen nahmen erneut eine Neukalibrierung vor. Kang betont jedoch, dass die zugrunde liegende Realität eine wirtschaftliche Notwendigkeit ist: Der chinesische Handel und Tourismus stellen die US-Militärhilfe in den Schatten, und die öffentliche Meinung befürwortet Neutralität. Das Muster ist kein Verrat, sondern eine Anpassung an die geografischen Gegebenheiten. Manila will Sicherheitsbeziehungen ohne strategische Abhängigkeit. Kang nutzt die Philippinen, um eine allgemeinere Wahrheit zu veranschaulichen: Die amerikanischen Bündnisse in Asien bestehen eher aus Trägheit als aus Überzeugung.
Indonesien
Indonesien, der demografische und geografische Riese der Region, untermauert Kangs Argument, dass die Ordnung in Ostasien grundsätzlich stabil ist. Mit Militärausgaben von etwa 0,9 Prozent des BIP – weltweit einer der niedrigsten Werte für ein Land dieser Größe – liegen die Prioritäten Jakartas auf der inneren Entwicklung und der maritimen Governance, nicht auf Machtpolitik. Seine Diplomatie betont die zentrale Rolle der ASEAN und die Blockfreiheit, wobei sowohl zu China als auch zu den USA gleicher Abstand gehalten wird. Kang porträtiert Indonesien als Archetyp regionaler Zurückhaltung: ein Staat, der sich mehr um Infrastruktur und Bildung kümmert als um Raketen oder Allianzen.
Singapur und Australien
Kang behandelt Singapur und Australien als die beiden am stärksten westlich orientierten Staaten der Region, doch selbst sie mäßigen ihre Ausrichtung mit Pragmatismus. Singapur beherbergt US-Marineeinrichtungen, ist aber gleichzeitig tief in Chinas Handelsnetzwerke integriert. Sein Verteidigungsbudget – etwa drei Prozent des BIP – dient der Abschreckung, nicht der Konfrontation. Australien, das lange Zeit als „stellvertretender Sheriff“ der USA bezeichnet wurde, ist ebenso ambivalent. Während Canberra das ANZUS-Bündnis bekräftigt, ist es für mehr als ein Drittel seiner Exporte von China abhängig und widersetzt sich regelmäßig dem Druck Washingtons, das Südchinesische Meer zu militarisieren. Kang sieht in beiden Ländern Beispiele für strategische Dualität: Annäherung für Sicherheit, Engagement für Wohlstand.
Westliche Konfrontationspolitik ohne Partner in Asien
Kangs abschließende Kapitel sind eine vernichtende Kritik an der kontraproduktiven Logik der Konfrontation. Die von westlichen Falken geliebte Vorstellung, dass Abschreckung Frieden garantiert, übersieht die einfache Tatsache, dass die meisten asiatischen Staats- und Regierungschefs China nicht genug fürchten, um ihren eigenen Wohlstand zu riskieren. Eine Eindämmungspolitik dürfte in Ostasien kaum Befürworter finden. Die Daten bestätigen dies: Weit davon entfernt, sich um Washington zu scharen, diversifizieren die Regierungen der Region ihre Diplomatie und beteiligen sich an sich überschneidenden Institutionen wie ASEAN Plus Drei, der Regional Comprehensive Economic Partnership und der Belt and Road Initiative – allesamt Mechanismen der Koexistenz statt der Konfrontation. Vor diesem Hintergrund schlägt Kang eine von ihm als „minimalistisch” bezeichnete amerikanische Großstrategie vor. Ihr Kern besteht in diplomatischem und wirtschaftlichem Engagement – Lastenteilung statt Dominanz, Zuhören statt Belehren.
Für westliche Politiker ist „American Grand Strategy and East Asian Security in the 21st Century“ ein unbequemes Buch, weil es daran erinnert, dass die Krise nicht in Ostasien liegt. Wenn es eine Bedrohung für die liberale Ordnung gibt, so Kang, dann liegt sie in der Weigerung einer verblassenden Supermacht, sich an eine Welt anzupassen, die sich nicht mehr um sie dreht. Seine Schlussfolgerung könnte als Epitaph für eine Ära dienen: Die Welt braucht nicht mehr amerikanische Macht – sie braucht mehr amerikanische Demut.
Für westliche Strategen, die eine asiatische NATO erwarten, ist die Botschaft klar: Es gibt keinen solchen Block, und niemand, der darin kämpfen müsste, wünscht sich einen solchen. Die Länder, die die größten Kosten einer chinesischen Aggression zu tragen hätten, glauben gar nicht, dass eine solche Aggression bevorsteht. Sie handeln nicht so, als stünden sie vor einer existenziellen Bedrohung. Die Unterstellung, dass die asiatischen Länder einfach blind für die Gefahr oder zu schwach sind, um Widerstand zu leisten, ist sowohl herablassend als auch unglaubwürdig. Es handelt sich um hochentwickelte Staaten mit starken Streitkräften, umfangreichen nachrichtendienstlichen Fähigkeiten und fundierten historischen Kenntnissen über die Macht Chinas. Ihre Einschätzung, dass China durch Diplomatie eingebunden werden kann, dass Streitigkeiten durch Verhandlungen beigelegt werden können und dass die wirtschaftliche Integration ihren Interessen dient, verdient mehr Respekt.
III. Der Frieden der Hierarchien: Macht und Ordnung in Ostasien neu denken
Zheng Ma und David C. Kangs „Beyond Power Transitions“ widerlegt den westlichen Mythos, dass alle aufstrebenden Mächte kämpfen müssen, um ihren Platz zu sichern. In der westlichen Lehre der internationalen Beziehungen gelten Machtverschiebungen als unausweichlich. Von Thukydides’ Bericht über Athen und Sparta bis hin zur modernen Warnung vor einer „Thukydides-Falle“ sind Wissenschaftler und Strategen gleichermaßen davon ausgegangen, dass ein Konflikt folgt, wenn ein Staat aufsteigt und ein anderer untergeht. Die Feindseligkeit zwischen dem britischen und dem deutschen Empire, die in zwei Weltkriegen gipfelte, ist das extremste Beispiel dafür. Der relativ friedliche Übergang von der britischen zur amerikanischen Weltvorherrschaft ist das wichtigste Gegenbeispiel. „Beyond Power Transitions – The Lessons of East Asian History and the Future of US-China Relations“ bietet eine akribische und radikale Kritik der Machtwechseltheorie. Zheng Ma und David C. Kang argumentieren, dass dieses sogenannte Gesetz der internationalen Politik, das auf der gewalttätigen Geschichte Europas basiert, weder in der Vergangenheit noch in der Gegenwart die tieferen Rhythmen Ostasiens beschreibt.
Die Autoren rekonstruieren tausend Jahre ostasiatischer Diplomatie und zeigen, dass die vormoderne regionale Ordnung nicht auf Gleichgewicht und internationaler Anarchie beruhte, sondern auf Hierarchie und Legitimität. Von der Song- bis zur Qing-Dynastie akzeptierten schwächere Staaten wie Korea, Japan und Vietnam die Vorherrschaft Chinas im Austausch für Autonomie und Stabilität. Anhand von Daten aus Tributmissionen, Handelsaufzeichnungen und Militärkampagnen zeigen Ma und Kang, dass während großer Machtverschiebungen innerhalb dieses Systems die Zahl der zwischenstaatlichen Kriege eher zurückging als zunahm. Im Gegensatz zu den Erfahrungen des Westens, wo es während der Übergänge der Vorherrschaft fast ständig zu Kriegen kam, absorbierte die Hierarchie Ostasiens Veränderungen durch Diplomatie, Zeremonien und kontrollierte Ehrerbietung. Die Autoren stellen fest, dass zwischen 1368 und 1841 trotz wiederholter Machtverschiebungen nur eine Handvoll Kriege zwischen den großen Staaten der Region stattfanden. Sie fassen ihre wichtigste Erkenntnis wie folgt zusammen:
„Am auffälligsten ist, dass nur drei der achtzehn Dynastiewechsel vor 1920 das Ergebnis eines Krieges mit einem anderen Staat waren. Die drei Ausnahmen waren das Bündnis zwischen Tang und Shilla, das 668 Koguryŏ vernichtete, der Zusammenbruch der Song-Dynastie und die Intervention der Ming in Vietnam im Jahr 1407.“
Die meisten Gewalttaten im vormodernen Ostasien waren innerstaatlicher Natur. Im krassen Gegensatz zum europäischen Staatensystem führten China, Japan, Korea und Vietnam über viele Jahrhunderte der Koexistenz überraschend wenige Kriege.
„Der wichtigste Punkt, der sich aus einer Untersuchung der über 1.500-jährigen Geschichte Ostasiens ergibt, ist die wiederkehrende zentrale Rolle eines mächtigen China trotz aller Turbulenzen. Bemerkenswert ist auch die außergewöhnliche Langlebigkeit der ostasiatischen Staaten, die zum großen Teil auf ihrer Fähigkeit beruhte, stabile Beziehungen untereinander aufzubauen. Angesichts dieser externen Stabilität waren die größten Herausforderungen für diese Regime nicht Kriege oder Invasionen, sondern interne Probleme.“
Die Bedeutung dieser Erkenntnis ist nicht antiquiert. In den letzten Kapiteln stellen die Autoren fest, dass der Aufstieg Chinas und der relative Niedergang Japans seit den 1990er-Jahren diese ältere, friedliche Logik der Anpassung wiederholen. Während Chinas Anteil am ostasiatischen BIP von unter zehn Prozent im Jahr 1990 auf über die Hälfte in den 2010er-Jahren anstieg, blieb Japans Verteidigungsbudget bei knapp einem Prozent des BIP eingefroren. Die Autoren betrachten dies nicht als Anomalie, sondern als Wiederaufleben der historischen Norm der Region: Hierarchie ohne Hegemonie, Wettbewerb ohne Zusammenbruch. Ostasien hat bereits einen Machtwechsel zwischen seinen beiden mächtigsten Nationen erlebt. Dieser verlief so friedlich, dass niemand das Ausbleiben eines Krieges überhaupt bemerkte.
Ihre Schlussfolgerung zielt direkt auf die intellektuellen Grundlagen der westlichen Strategie ab. Die Machtübergangstheorie, so argumentieren sie, sei kein universelles Gesetz, sondern ein engstirniges Modell, das aus Jahrhunderten der Gewalt in Europa hervorgegangen ist. Wenn westliche Analysten heute vor einem unvermeidlichen Konflikt mit China warnen, verwechseln sie europäische Geschichte mit Weltgeschichte. Wie Ma und Kang zeigen, verfügt Ostasien seit Langem über ein eigenes Gleichgewicht – eines, das Zurückhaltung und pragmatische Koexistenz belohnt. Die empirische Stringenz und historische Tiefe des Buches machen es schwer, die Lehre aus dem Inhalt zu ignorieren: Wenn es im Pazifik zu einem Krieg kommt, dann deshalb, weil die politischen Entscheidungsträger sich dafür entscheiden, eine fremde Theorie wiederaufleben zu lassen, und nicht, weil die Vergangenheit oder Gegenwart der Region dies erfordert.
Fazit
In einem Artikel, zwei Büchern und Tausenden von Seiten mit Belegen zeigen Kang und seine Mitarbeiter, dass die Grundlagen der US-Strategie auf Annahmen beruhen, die sich bei genauer Betrachtung auflösen. Chinas offizieller Diskurs konzentriert sich überwiegend auf innenpolitische Herausforderungen, nicht auf globale Expansion. Seine territorialen Ansprüche sind Erbe früherer Dynastien, keine neuen imperialen Ambitionen. Sein Verhalten bei der Lösung von Grenzkonflikten zeugt von Pragmatismus und Kompromissbereitschaft. Die Region, die es angeblich bedroht, ist stabiler, stärker verflochten und weniger militarisiert, als Washingtons Rhetorik vermuten lässt. Und die historischen Aufzeichnungen zeigen, dass Ostasien Machtwechsel seit Langem friedlich durch Hierarchie und Diplomatie bewältigt hat – ein Muster, das auch dann Bestand hatte, als Chinas Anteil am regionalen BIP in den letzten drei Jahrzehnten stark anstieg und der Japans zurückging.
Das bedeutet jedoch nicht, dass Konflikte ausgeschlossen sind. Taiwan bleibt ein Brennpunkt, an dem Chinas Entschlossenheit, die Unabhängigkeit zu verhindern, mit der Unterstützung der USA für die Autonomie der Insel kollidiert. Maritime Streitigkeiten im Ost- und Südchinesischen Meer führen zu Reibungen. Wirtschaftlicher Wettbewerb und technologische Rivalität führen zu echten Spannungen. Aber dies sind die üblichen Reibungen zwischen Großmächten und kein existenzieller Kampf. Sie lassen sich durch Diplomatie, Verhandlungen und gegenseitige Zurückhaltung bewältigen. Wenn Washington Ressourcen in militärische Vorbereitungen für Kriege steckt, die die Länder in der Region nicht wollen, verspielt es Chancen, die Herausforderungen anzugehen, die keine der beiden Supermächte allein lösen kann – KI-Sicherheit, Klima, Pandemien und wirtschaftliche Stabilität.
Die alternative Strategie, die sich aus dieser Arbeit ergibt, ist minimalistisch in ihren Mitteln, aber ehrgeizig in ihren Zielen: Führung durch Diplomatie statt Dominanz, Wettbewerb in einigen Bereichen und Zusammenarbeit in anderen, Unterscheidung zwischen Kernkonflikten wie Taiwan und Randthemen, bei denen Kompromisse leichter fallen. Ob Washington diesen Rat beherzigen wird, bleibt zweifelhaft. Die politischen Anreize begünstigen eine aggressive Haltung. Das Verteidigungsestablishment profitiert von der Übertreibung von Bedrohungen. Aber die Kosten für das Ignorieren der Arbeit Kangs werden nicht in akademischen Zitaten gemessen, sondern in den Risiken eines großen Krieges, den keine Seite will.
Titelbild: Screenshots der Buch-Cover
Hauptadresse: http://www.nachdenkseiten.de/
Artikel-Adresse: http://www.nachdenkseiten.de/?p=141722