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Titel: Warum ich mit dem Rad nach Moskau gefahren bin
Datum: 4. Dezember 2025 um 9:00 Uhr
Rubrik: Außen- und Sicherheitspolitik, Audio-Podcast, Friedenspolitik, Länderberichte
Verantwortlich: Redaktion
„Ich weigere mich, das diplomatische Versagen einer arroganten politischen Klasse mit meinem Leben zu bezahlen und mich an die Front karren zu lassen, um dort auf Russen zu schießen.“ So beschreibt unser 23-jähriger Gastautor Pablo Krappmann seine Einsicht und seine Motivation, sich zu einer Radtour nach Russland aufzumachen. Fast 40 Jahre nach der Landung des Hobby-Piloten Mathias Rust mit seiner Cessna in der Nähe des Roten Platzes (die Älteren werden sich erinnern), um ein Zeichen für die Völkerverständigung zu setzen, unternahm Krappmann eine weniger spektakuläre, aber ganz ähnlich motivierte Aktion. Hier berichtet er über seine Beweggründe und seine Erfahrungen.
Dieser Beitrag ist auch als Audio-Podcast verfügbar.
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Als das neue Wehrdienstgesetz diskutiert wurde, war mein Fass übergelaufen.
An einem späten Augustabend rollten mein Freund Jonas und ich auf den Roten Platz. Nach drei Wochen und 2.200 Kilometern auf dem Rennrad, die uns vom Brandenburger Tor in Berlin bis hierher geführt hatten, hatten wir aus eigener Kraft das Herz Russlands erreicht.
Der Auslöser für die Reise war mein Entsetzen über die geschichtsvergessene Hysterie im Umgang mit Russland. Als das neue Wehrdienstgesetz diskutiert wurde, war mein Fass übergelaufen. Ich beschloss, meinen Widerstand hörbar zu machen, indem ich mit dem Rad von Berlin nach Moskau fahre.
Aus Respekt und in Aufrichtigkeit meinen Vorfahren gegenüber weigere ich mich, mir als Deutscher zum dritten Mal den Krieg einreden zu lassen!
Als ich diesen Sommer von einer größeren Reise aus Südamerika nach Deutschland zurückkehrte, musste ich feststellen, dass es in Deutschland keinen nennenswerten Widerstand gegen die aktuelle Politik zu geben schien. Die Menschen waren offenbar in einer Illusion gefangen. Auf den Straßen beobachtete ich große Demos. Unter dem Banner des „Kampfes gegen rechts“ forderte man das Verbot der Oppositionspartei, aber gleichzeitig demonstrierten sie für die uneingeschränkte Toleranz gegenüber Minderheiten. Dieses Bild war derart surreal vor dem Hintergrund der zunehmenden Kriegsrhetorik der Regierung, welche von der Gesellschaft forderte, „kriegstüchtig“ zu werden und den Gürtel enger zu schnallen, um militärisch aufrüsten zu können. Zudem forderte man uns junge Männer auf, uns freiwillig bei der Bundeswehr zu melden.
Das Schlachtfeld als eine lebenslange, traumatisierende Erfahrung
Im Südwesten Deutschlands wuchs ich in friedlichen Zeiten auf. Als Kind brachte man mir bei, in Konflikten das Gespräch zu suchen, um den Streit durch Dialog zu lösen. Im Geschichtsunterricht erfuhr ich von den Verbrechen der beiden Weltkriege und davon, wie die Bevölkerung systematisch auf die Kriege vorbereitet wurde.
Die in den Medien beschriebenen Kriege gleichen nicht der Hölle eines Schlachtfeldes, die ich unmittelbar aus den Erzählungen eines ehemaligen Soldaten erfuhr. Er beschrieb das Schlachtfeld als eine für den Rest seines Lebens traumatisierende Erfahrung. Er sah schreckliche Szenen, bei denen Menschen explodierten und Körperteile seiner Kameraden durch die Luft flogen. Seit seiner Rückkehr ist sein Alltag von Panikattacken, nächtlichem Schreien und Wutausbrüchen geprägt. Seine Familie kann ihn seither nicht mehr ertragen. Meine konsequente Schlussfolgerung daraus ist, dass ich diese Erfahrungen nicht machen möchte!
Aus historischer Verantwortung ergibt sich für mich die unabweisbare Pflicht, dass Deutschland in der Welt als Vermittler für Frieden agieren muss. Angesichts der bedrohlichen Lage eines eskalierenden Krieges erwarte ich von den Politikern dieses Landes, alles daranzusetzen, diesen Konflikt diplomatisch zu entschärfen. Stattdessen beobachte ich das Gegenteil. Die Bundesregierung verfolgt keine ernsthaften Bemühungen, den Ukrainekonflikt mit Russland über den Weg der Verhandlungen zu lösen. Es wird uns suggeriert, dass Gespräche mit Putin sinnlos seien, dass Frieden zwischen der Ukraine und Russland hauptsächlich durch Bedrohung und „militärische Stärke“ zu erreichen sei. Diese Politik wird durch die Worte unseres Außenministers untermauert, der erklärte, Russland werde immer ein Feind sein.
Jeder Konflikt kennt zwei Perspektiven. Die russische Regierung führt diesen Konflikt nicht im Bewusstsein, unrecht zu haben. Solange wir Putins Handeln vorwiegend moralisierend verurteilen, ohne die Interessen und Sicherheitsdynamiken zu verstehen, besteht die Gefahr, dass dieser Konflikt eskaliert und Deutschland Kampfgebiet wird. Diese Eskalation hätte verheerende Folgen für Tausende oder Millionen Menschenleben.
Anstatt von Russland die Einsicht zu erwarten, sein eigenes Handeln als moralisch falsch zu bewerten, müssen wir aus unserer historischen Verantwortung heraus die Rolle des unermüdlichen Vermittlers einnehmen und diesem Konflikt in der Ukraine durch Gespräche und Diplomatie ein Ende setzen.
Vor Wintereinbruch wollten wir zurück sein
Mit dem Fahrrad zu reisen, ist ein Abenteuer, das Begegnungen auf Augenhöhe ermöglicht. Da wir in Zelten in der Natur schliefen und durch kleine Dörfer fuhren, kamen wir mit den unterschiedlichsten Menschen in Kontakt und erlebten Russlands Kultur unmittelbar. Das Rad ist langsam genug, um die geografischen Veränderungen bewusst wahrzunehmen, und doch schnell genug, um effizient Strecke zurückzulegen.
Zwei Wochen zuvor fragte ich in meinem Freundeskreis nach jemandem, der Russisch spricht. So fand ich Jonas, der bereit für dieses Abenteuer war. Wir hatten zwei Wochen Zeit, das Visum zu beantragen und nötige Recherchen zu betreiben, vor Wintereinbruch wollten wir zurück sein.
Am 4. August 2025 standen Jonas und ich vollbepackt am Brandenburger Tor und fuhren in Richtung Polen. Entgegen Medienberichten passierten wir die Grenze ohne Kontrolle. An diesem ersten Tag regnete es in Strömen, wir waren bis auf die Knochen durchnässt und es wurde kalt bis unter zehn Grad. Glücklicherweise blieb es der einzige Regentag.
Diese intensive Art zu Reisen begeisterte uns, denn es ergaben sich spontane Begegnungen: vor Supermärkten, in Parks beim Frühstück oder mit anderen Radfahrern, die uns ansprachen und sogar zum Kaffee einluden. In Białystok standen wir vor verschlossener Grenze zu Belarus, nach 190 Kilometern Umweg und achtstündigem Warten gelangten wir schlussendlich doch noch nach Belarus.
Auf dem Weg nach Minsk erlebten wir saubere, ordentliche Städte, in denen die Menschen höflich und respektvoll miteinander umgingen. Über Couchsurfing übernachteten wir bei einem jungen Paar, das uns durch Minsk führte und mit ihren Freunden zum Essen einlud. Mit ihnen war es unkompliziert, über Politik zu sprechen. Sie beleuchteten unterschiedliche Perspektiven, ohne eine fanatisch zu verteidigen.
Ohne Probleme über die russische Grenze
Einige Tage später wurden wir an der russischen Grenze durchgewunken, ohne Kontrolle unserer Pässe.
In Smolensk lud uns ein Radfahrer auf einen Kaffee ein und zeigte uns anschließend die Sehenswürdigkeiten seiner Stadt. Vor Moskau auf dem Land besuchten wir Freunde von Jonas, die uns mit einer großherzigen Gastfreundschaft empfingen, wie ich sie selten in der Form erlebt habe. Wir durften einfach da sein ohne Bedingungen.
Am 27. August 2025 rollten wir auf den Roten Platz. Die Hinreise hatte 2.200 Kilometer gefordert und 23 Tage gedauert. Zuvor hatten wir eine Familie gefunden, bei der wir für eine Woche unterkommen durften. So konnten wir uns ausruhen und gleichzeitig Moskau erleben. Mit den Geschwistern unserer Gastfamilie und ihrem Freundeskreis gingen wir abends aus, zogen als fröhliche Gruppe durch die Straßen, tauschten uns begeistert aus und fanden uns schließlich in einer Wohnung wieder, in der plötzlich gemeinsam gekocht wurde.
Was mich an Moskau begeisterte, waren die außergewöhnlich sauberen Straßen, das modernisierte und hochfrequentierte Metronetz. Die Bahnen fuhren pünktlich, und mit einer preiswerten Fahrkarte kann man das gesamte Netz befahren. Die Metro-Stationen schienen wie individuell gestaltete Kunstwerke, welche makellos gepflegt wurden.
Wir wurden wie Freunde empfangen
Ebenfalls war ich von dem gesellschaftlichen Umgang beeindruckt. Ungewöhnlich rücksichtsvoll gingen die Menschen miteinander um, Türen wurden aufgehalten, man entschuldigte sich, wenn man sich in die Quere kam. Insgesamt wirkten die Menschen zufriedener und gelassener als in den meisten deutschen Städten.
Frauen und Männer kleideten sich elegant, gingen abends aus, lachten miteinander, und ein vielfältiges Kulturangebot reichte von Straßenkünstlern bis zu hochrangig klassischen Darbietungen. So bin ich zu der Erkenntnis gekommen, dass sich die Menschen in Moskau als Teil Europas fühlen, verbunden mit einer Kulturgemeinschaft, die politische Gräben zu überwinden vermag.
In den Gesprächen beobachtete ich die Kultur des Zuhörens. Gesprächspartner gingen mit einer Ernsthaftigkeit auf das Gesagte ein. Die Tiefe ihrer Fragen offenbarte, dass man sich gedanklich wirklich aufeinander einlässt. Man verzichtete darauf, den Gegenüber von der eigenen Meinung überzeugen zu wollen. Stattdessen schien es erstrebenswert, sich auseinanderzusetzen, um Neues zu verstehen.
Den ernsthafteren Gesichtsausdruck und die zurückhaltende Art nahm ich als respektvolle Umgangsform wahr. Das oberflächlich höfliche Lächeln, das ich aus westlichen Ländern kenne, schien hier eher fehl am Platz. Meine Interpretation ist, dass es dümmlich wirkt.
Uns Deutschen begegnete man durchweg freundschaftlich, obwohl man sich kaum kannte. Die historische Last schien in den zwischenmenschlichen Begegnungen keine Rolle zu spielen. Der Angriffskrieg Nazi-Deutschlands gegen Russland, der 26 Millionen Sowjetbürgern das Leben kostete, wird nicht der deutschen Bevölkerung angelastet, sondern den damaligen Politikern.
Bemerkenswerterweise übertrugen sich auch die aktuellen politischen Spannungen nicht auf die menschliche Ebene. Wir wurden wie Freunde empfangen, hörten sogar gelegentlich positive Worte über die deutsche Kultur. Diese unvoreingenommene Freundschaft, die mir auf Reisen selten begegnet ist, stellt ein stilles, aber machtvolles Gegenbild zu der politischen Rhetorik dar.
Lernen, auf Russen zu schießen
Nach weiteren Besuchen in Petersburg kehrte ich am 18. September 2025 über Estland zurück. Im Bus nach Berlin blickte ich auf einen Monat in Russland zurück. Wie hat sich mein Blick auf die politische Spannung verändert?
Es ist offensichtlich, die Russen stehen nicht vor unserer Tür – weder gesellschaftlich noch, meiner Einschätzung nach, politisch. Im Gegenteil, sie sind uns wohlgesinnt. Umso surrealer wirkt die Realität, in die ich als 23-Jähriger zurückgekehrt bin: Von der Regierung wird mir nun empfohlen, mich beim Militär ausbilden zu lassen, um zu lernen, auf Russen zu schießen. Wenn ich das freiwillig ablehne, werden sie mich dazu zwingen. So das neue Wehrdienstgesetz: Es klingt vorerst freiwillig, wenn sich aber nicht genug Freiwillige finden, wird der Dienst verpflichtend – vorausgesetzt, das Parlament stimmt zu. So verliert das freiwillige Wehrdienstgesetz seinen zugrunde liegenden freiwilligen Charakter. Es ist nur eine Frage der Zeit.
Doch wissen diese Herrschaften nicht, dass ich noch vor Kurzem mit gleichaltrigen Russen bei Kaffee in freundschaftlichem Gespräch zusammensaß und wir Kontakte knüpften, die bis heute halten. Wie soll ich Herrn Außenminister Wadephul ernst nehmen, wenn er mir vom „bösen Russen“ erzählt?
Zwar verstehe ich, dass dahinter die politischen Konflikte stehen. Aber letztlich werden wir Jungen aufeinandergehetzt, weil Politiker nicht mehr miteinander reden können.
Ich weigere mich, das diplomatische Versagen einer arroganten politischen Klasse mit meinem Leben zu bezahlen und mich an die Front karren zu lassen, um dort auf Russen zu schießen.
Ich verachte diesen hysterischen Umgang mit Moskau
Angesichts der historischen Verbrechen, die Deutschland an Russland begangen hat, verachte ich diesen hysterischen Umgang mit Moskau. Aus Respekt und in Aufrichtigkeit gegenüber meinen Großeltern und Urgroßeltern lehne ich diese Kriegshetze in Deutschland strengstens ab. Auf den Rücken meiner Vorfahren wurden diese Verbrechen bereits zweimal begangen. Als ihr Nachfahre lasse ich mich nicht vom Dogma der Alternativlosigkeit dieser Kriegstüchtigkeit beeindrucken. Tief in meinen Wurzeln ist verankert, dass wir Deutschen uns nie wieder in einen Krieg hineinreden lassen dürfen! Mein historisches Erbe verpflichtet mich zum unbequemen Frieden, nicht zum bequemen Krieg.
Ich bin mit dem Rad nach Russland gefahren, um mit den Menschen ins Gespräch zu kommen und ihre Perspektive zu verstehen. Von unserer Regierung erwarte ich mindestens dieselbe Anstrengung, den Dialog mit Russland wieder aufzunehmen. Es geht darum, zu verstehen, was die Menschen dort bewegt, nicht ihr Handeln gutzuheißen. Nur wenn wir ihre Motive begreifen, können wir eine Lösung erarbeiten, die für alle Beteiligten tragbar ist.
Davon bin ich überzeugt: dass nachhaltiger Frieden nur über Dialog zu erreichen ist. Denn früher oder später wird man wieder mit Russland sprechen müssen. Nicht wir haben der Regierung zu dienen, sondern die Politiker dem Volk. Die Bundesregierung muss im Interesse der Bürger handeln, deshalb fordere ich die Bundesregierung dazu auf, den Dialog mit Russland wieder aufzunehmen – nicht um Kapitulation zu fordern, sondern um eine Zukunft zu verhandeln, in der unsere Völker als Freunde und gute Nachbarn leben können.
Denn wir sind nicht verfeindet, wie ich auf der Reise gemerkt habe, wir sind gute Freunde.
Es ist, als wartete dort drüben ein guter Freund auf uns
Es ist, als wartete dort drüben ein guter Freund auf uns, während wir hier hinter seinem Rücken schlecht über ihn reden. Dieses Mal wird uns die Geschichte beim Wort nehmen. Wir können nicht sagen, wir hätten es nicht kommen sehen. Es ist bequemer, sich konform anzupassen, statt sich aus dem einengenden Meinungskorridor zu befreien und die eigene Stimme zu erheben.
Die Lehre aus unserer Geschichte ist unsere Stärke. Was braucht es noch, damit wir Deutschen uns endlich entschlossen gegen jeden Krieg stellen?
Bilder & Titelbild: Pablo Krappmann
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