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Titel: Eine Nachbetrachtung zum Schweizer Volksentscheid: Was für die einen Freizügigkeit bedeutet, ist für die anderen der Verlust der Heimat.

Datum: 14. Februar 2014 um 14:38 Uhr
Rubrik: Aktuelles, Audio-Podcast, Erosion der Demokratie, Europäische Union, Fremdenfeindlichkeit, Rassismus, Länderberichte
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Und was dem einen eine berufliche Chance und besseren Lohn bringt, wirkt beim andern als Druck auf seinen Lohn nach unten und der Mieten nach oben. Es ist schon deshalb gut, die Abstimmung in der Schweiz vom vergangenen Sonntag aus verschiedenen Blickwinkeln zu betrachten. Das kann man engagiert tun, wie das zum Beispiel der Regisseur Volker Lösch mit einem Aufruf „Wacht auf!“ [PDF – 265 KB] an die unterlegenen 49,7% im Tagesanzeiger und in der Berner Zeitung tut. Die Kommentare im Netz sind engagiert bis bedrückend; sie lassen ahnen, was in der Schweiz nach dem Volksentscheid los ist. Von Albrecht Müller

Dieser Beitrag ist auch als Audio-Podcast verfügbar.

Zur differenzierten Betrachtung folgen gleich noch einige Erwägungen – in Ergänzung zum Beitrag von Wolfgang Lieb vom Montag. Vorweg noch ein Hinweis für Nachdenkseiten-Leser im Umfeld von Basel: Volker Lösch inszeniert gerade und zufällig das passende Stück zum Thema: “biedermann und die brandstifter” von max frisch, mit 2 ausländern, die biedermann an den kragen wollen :“Wir lesen das stück als rechte angstphantasie. und mit einem sprechchor von migranten“, so der Regisseur in einer Mail an uns. Näheres dazu hier. Nun zu den Zwischentönen:

Manche sorgen sich um den eigenen Arbeitsplatz, um die Höhe des Lohns und um bezahlbaren Wohnraum

Man kann aus unterschiedlichen Motiven gegen einen unkontrollierten Zuzug sein, wie das in dem Volksentscheid der Eidgenossen sichtbar wurde: aus Fremdenfeindlichkeit, aus Sorge um den Zugriff der Zuwandernden auf Sozialleistungen, aus Angst um den eigenen Arbeitsplatz, um die Höhe des Lohnes und der Miete. Ist diese Angst, nämlich um Arbeitsplatz, Lohn und die Verfügbarkeit einer bezahlbaren Wohnung zu haben, nicht legitim? Das betrifft Menschen und Familien, die am unteren Ende der Ausbildungs- und Lohnskala stehen, und oft auch schon, besonders in städtischen Ballungsräumen, solche aus dem so genannten Mittelstand. Deren Perspektive ist meist eine andere als jene von Menschen, die von diesen Alltagssorgen nicht umgetrieben werden.

Ich beispielsweise habe nie in meinem Arbeitsleben davor Angst haben müssen, dass ein Ausländer mir einen meiner verschiedenen Arbeitsplätze wegnehmen könnte; die Manager von Industrie und Handel brauchen sich darum auch kaum Sorgen zu machen; auch die meisten Lehrer, Rechtsanwälte und andere Freiberufler müssen sich in der Regel keine Sorgen machen. Bei Hilfsarbeitern ist das anders. Sie konkurrieren sehr schnell um Arbeitsstellen mit den Zuwanderern. Und ihr Lohn wird anders als das Gehalt der Manager und der Lehrer in der Regel von zuwandernden Arbeitskräften gedrückt. Deshalb ist ihre Sorge berechtigt und alle, die sich diese Sorgen nicht machen müssen, haben kein Recht, diese Menschen in die rechtsradikale oder ausländerfeindliche Ecke zu bugsieren. In der Schweiz sind auch Fachkräfte verschiedener Berufsgruppen der Konkurrenz zuziehender Ausländer ausgesetzt. Und alle spüren die Konkurrenz auf dem Wohnungsmarkt.
Das kann man alles gut finden. Aber man sollte wenigstens einräumen, dass dies die einseitige Perspektive der Nachfrager nach Arbeitskräften und der Anbieter von Immobilien ist. In der öffentlichen Debatte beherrscht diese Perspektive der oberen Schicht und der oberen Mittelschicht die Meinungsbildung.

Freizügigkeit hat in den Ohren der mobilen jüngeren Generation und der gut Verdienenden einen guten Klang. Bei anderen ist sie mit dem Verlassen der Heimat verbunden und wiederum bei anderen mit der Bedrohung dessen verbunden, worin sie ihre Heimat sehen.

Der erste Aspekt: Freizügigkeit klingt gut. Das ist die eine Seite der Medaille. Bei jenen Menschen, die Arbeit in der Fremde suchen müssen, ist die andere Seite der Medaille aber mindestens ebenso gegenwärtig: sie müssen ihre Heimat verlassen, weil sie dort nicht mehr für ihren Unterhalt sorgen können. Das galt für die Millionen Gastarbeiter, die in den fünfziger und sechziger Jahren aus Italien, aus Griechenland, aus Spanien, aus Portugal, aus der Türkei und aus Jugoslawien in den Norden Europas zogen. Es galt und gilt für die Osteuropäer und Südosteuropäer, deren Arbeitsplätze mit der Wende nach 1990 ruiniert worden waren. Es gilt heute wiederum für die Griechen, Spanier und Portugiesen, deren Arbeitsplätze in einer Kombination von Fehlern der heimischen Wirtschaftspolitik und der Austeritätspolitik der Europäischen Union und Deutschlands dezimiert wurden.

Ein zweiter Aspekt: Die Lebenswelt der Gut-Verdienenden und insbesondere der Jüngeren unter ihnen ist heute schon beachtlich international. Sie reisen viel herum, sie kennen und schätzen andere Kulturen, sie können die Sprache anderer Völker. Für sie ist Freizügigkeit ein großartiges Versprechen und ein Geschenk. Aber dieses Wohlfühlen eines Teils unseres Volkes, der Schweizer und anderer in der Internationalität gibt uns nicht das Recht, auf andere herab zu sehen, für die ihre Region oder sogar ihr Tal oder ihr Ort die ihnen vertraute und genehme Heimat ist. Wollen wir sie wirklich verurteilen, weil sie, geboren aus der anderen Lebensweise, Angst vor dem Fremden haben?

Diese Anmerkungen sind nicht als Rechtfertigung für jene zu verstehen, die Ausländerfeindlichkeit säen und politisch missbrauchen.

Die Rolle der Politik – Nachlässigkeit, Missachtung, Bequemlichkeit, jedenfalls oft direkt mitverantwortlich

In der Debatte um den Volksentscheid in der Schweiz wird zu wenig beachtet, welche Rolle die Politik und das Versagen der Politik spielt. Sie ist mitverantwortlich für die Wanderungsbewegungen, deren Auswirkungen sich jetzt eine knappe Mehrheit der Schweizer entgegengestellt hat:

  • Man muss den Eindruck gewinnen, dass die Politik sich heute kaum mehr für die Nord-Süd-Problematik interessiert und auch nur annähernd ausreichend viel tut, um das Leben der Menschen in Afrika z.B. zu verbessern.
  • Konflikte wie in Syrien werden nicht zu lösen versucht sondern angeheizt. Mit der Folge immer neuer Flüchtlingsbewegungen.
  • Mit der Austeritätspolitik der Europäischen Union, des Internationalen Währungsfonds und der EZB werden die Krisen in den südeuropäischen Ländern auf dem Rücken der arbeitenden Bevölkerung zu lösen versucht, noch dazu ohne Erfolg. Das ist die Ursache neuer Wanderungsbewegungen.
  • Schon bei der Vereinigung beider deutschen Staaten hat man auch nicht annähernd ausreichend darauf geachtet, Betriebe in Ostdeutschland zu sanieren und zu erhalten. Ganz andere Motive wie das Ausscheiden von Konkurrenz für westliche Unternehmen oder die Demonstration der Minderwertigkeit der DDR- Wirtschaftsweise spielten die größere Rolle. Die Folge war und ist eine Migration, an der wir bis hin zur Schweiz noch lange zu tragen haben werden.
  • Im Zuge der modisch gewordenen Privatisierungspolitik wurden auch reihenweise Bestände sozialen Wohnungsbaus verscherbelt. Diese Wohnungen fehlen in den Metropolen.
  • Immobilien und Wohnungen sind zum Anlage- und Spekulationsobjekt geworden. Damit wird der Wohnungsmarkt weiter verknappt. Auch diese Bewegung hat den Segen der politisch Verantwortlichen.
  • Usw. und so fort.

Ausländerfeindlichkeit hat ihre Wurzeln nicht nur in der Bösartigkeit vieler Menschen. Sie ist auch die Folge politischer Versäumnisse und politischer Ideologien. Schöne Worte wie Freizügigkeit verkleistern die ideologischen Hintergründe.


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