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Titel: Terror und Technokratie

Datum: 19. August 2016 um 9:05 Uhr
Rubrik: Audio-Podcast, Erosion der Demokratie, Interviews, Neoliberalismus und Monetarismus, Strategien der Meinungsmache, Terrorismus
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Der Terrorist ist immer der andere. Bärtig soll er sein und muslimischer Religion. Darüber, dass es vor allem Armut und Elend sind, die Menschen jeder Religion in die Verzweiflung treiben, wird weniger häufig diskutiert. Aber hat der Terror eigentlich mit dem Neoliberalismus etwas gemein? Erklärt er seine Sicht auf die Welt nicht ebenso als „alternativlos“ wie andere? Und ist der Neoliberalismus nicht auch eine Art Religion, die irrational zu legitimieren versucht, was rational kaum begründbar ist? Dass etwa Armut gut und sozialer Antrieb sei? Hierüber und dazu, dass der Neoliberalismus ob des Terrors seine größte Schwäche immer deutlicher offenbart, gegen die es anzugehen gilt, sprach Jens Wernicke mit dem Publizisten und Philosophen Matthias Burchardt von der Universität Köln.

Dieser Beitrag ist auch als Audio-Podcast verfügbar.

Herr Burchardt, die letzten Wochen waren überschattet von Attentaten und Amokläufen. Der Terror ist allgegenwärtig, wie es scheint. Die Menschen leben in Angst. Was erleben wir hier?

Die letzten Wochen waren tatsächlich sehr von dem Thema „Gewalt und Terror“ bestimmt. Erschreckenderweise habe ich mich sogar dabei ertappt, dass ich irritiert war, wenn ein Tag mal ohne Schreckensmeldungen verstrich. Scheinbar hatte sich schon ein perverser Gewöhnungseffekt eingestellt.

Wie sehr diese Taten und ihre oft distanzlose mediale Präsentation das Denken und Fühlen der Menschen bestimmen, konnte ich bei einem Aufenthalt in Frankreich studieren. Insbesondere das Phänomen des „Mikroterrorismus“ vermittelt den Menschen einen Eindruck von allumfassender Bedrohung: unauffällige Täter mit unklaren Motiven morden abseits der Metropolen mit trivialen Waffen, Sicherheitsapparat und Politik stehen dem trotz permanentem Ausnahmezustand, Totalüberwachung und eingeschränkten Bürgerrechten scheinbar hilflos gegenüber.

Ich habe mich daher gefragt, worin der Kern des – wenn Sie so wollen – „allgemeinen Unsicherheitsgefühls“ besteht, das die Menschen beschleicht und glaube, dass die Gründe wesentlich tiefer liegen, als uns Medien und Politik glauben machen wollen.

Über die Gründe und Hintergründe des Terrorismus kann ich nur spekulieren: Auf jeden Fall müsste man dazu die geostrategischen Interessen der Eliten, die Rolle des Westens sowie seine militärische und ökonomische Zerstörungspraxis diskutieren. Man müsste den Einfluss der Geheimdienste bei der Destabilisierung von Weltregionen untersuchen und auch die Funktion der Terrorangst für die Transformation der europäischen Länder, in denen der Notstand offenbar zur Regel werden soll, unter die Lupe nehmen. Dazu gibt es berufenere Wissenschaftler; etwa Daniele Ganser und Rainer Mausfeld, um nur zwei zu nennen.

Mich interessiert das Thema vor allem insofern, als dass es eine ebenso interessante wie bedenkliche Zeitdiagnose ermöglicht: Noch erschreckender als die jeweiligen Ereignisse selbst ist meines Erachtens nämlich die Sprach- und Deutungslosigkeit der sonst so forschen Meinungsführer im öffentliche Raum. Stellt man die Ereignisse der letzten Wochen zusammen, treten doch erhebliche Erklärungslücken und Deutungsunsicherheiten zutage, die nicht einmal durch Propagandameldungen verdaulich gemacht werden konnten: Amokläufe, Rassismus in den USA, Brexit, Bankenkrise, Flucht, Krieg in EU-Nähe, Banken- und Finanzkrise, Putsch in der Türkei.

Dies wird nun nach dem Motto „Brot und Spiele“ zwar ein paar Tage lang durch die olympischen Gladiatoren überspielt werden können, das politische Sinnvakuum wird danach aber nicht verschwunden sein. Was wir hier erleben, darf wohl mit Fug und Recht als Krise der politischen Narrative gewertet werden.

Krise der politischen Narrative? Wie meinen Sie das?

Unter „Narrativ“ verstehe ich eine interessengeleitete Erzählung, die Ereignisse in eine Sinnklammer einbettet und dadurch das Denken, Handeln und Wahrnehmen von Gesellschaften lenkt. Narrative haben dabei weniger Wahrheitswert als vielmehr eine Steuerungsfunktion. Sie funktionieren, weil sie permanent wiederholt werden und virale Ausbreitung finden, ohne dass die Frage nach der Autorenschaft und den blinden Flecken gestellt würde. Die Verfänglichkeit der Narrative resultiert dabei aus dem legitimen Bedürfnis der Menschen nach Sinnzusammenhängen.

Wir sprechen also über eine Krise der „politischen Erzählungen“? Es gibt keine zusammenhaltstiftende soziale und ideologische Klammer mehr, die Sicherhalt bietet und Zusammenhalt organisiert, verstehe ich recht?

Ja, und das ist auch kein Wunder, denn die allseits wuchernde Rationalität des ökonomisch-technokratischen Steuerns ist ja zutiefst nihilistisch und deshalb unfähig, eine Sinnfigur hervorzubringen. Dem Neoliberalismus und seiner Ideologie geht es um die Atomisierung sozialer Zusammenhänge und des Kampfes Jeder gegen Jeden. Alles soll „Markt“ werden, nichts mehr so bleiben, wie es einst war.

Um das zu erreichen, hat sich das neoliberale Regime lange Zeit auf entstellende Art und Weise religiöser, humanistischer oder aufklärerischer Sinn-Motive bedient, um seinem globalen Entwurzelungs- und Umverteilungsprojekt Legitimation zu verschaffen und seine zerstörerischen Verwerfungen zu kaschieren: Die EU wurde als „Friedens“-Projekt deklariert, die Unterwerfung des Einzelnen unter Sachzwänge als „Freiheit“ verkauft, die „Menschenrechte“ als Kriegsgrund prostituiert und die Folgen der Finanz- und Bankenkatastrophe in eine Staatsschuldenkrise umerzählt und in Austeritätspolitik umgemünzt, die damit begründet wurde, „wir“ hätten „über unsere Verhältnisse gelebt“. Die Idee des „Fortschritts“ flankiert selbst noch die Abwicklung der Sozialsysteme, denn schließlich müsse man „den Gürtel enger schnallen“, damit alles „besser“ werden könne. Den Griechen dagegen gehe es schlecht, weil sie „faul“ seien und ihre „Hausaufgaben“ nicht machten.

Die wachsende Skepsis gegenüber den sogenannten Qualitätsmedien – Stichwort „Lügenpresse“ – ist dabei ein guter Indikator für die Erosion der Narrative, aber mehr noch für den Zerfall der erzählenden Instanzen. Offensichtlich haben die missbräuchlichen Verheißungen von Freiheit, Fortschritt, Frieden, Humanität, Sicherheit etc. ihre Strahlkraft inzwischen gänzlich verloren: sie sind fadenscheinig geworden und die kalte Gewalt von Macht- und Profitinteressen lässt sich dahinter nicht mehr verbergen.

Da wirkt es dann nur hilflos und schrill, wenn etwa die Bundeskanzlerin unentwegt ihre NLP-Botschaft „Wir schaffen das!“ absondert oder die innenpolitischen Hardliner reflexhaft nach mehr Überwachung oder Bundeswehreinsätzen im Inneren rufen. Denn dadurch werden die Ereignisse weder verständlicher noch entsteht wirklich Vertrauen, dass die öffentlichen Einrichtungen oder Amtsträger der Lage gewachsen wären. Die Diffamierung von Personen wie Sahra Wagenknecht, die den Finger in die Wunde legt, ist in diesem Zusammenhang ein Indikator für die Nervosität der systemaffirmativen Kräfte, denen zunehmend die glaubwürdigen Parolen ausgehen, um den immer weiteren Abbau von Sozialstaat, Bürgerrechten und Demokratie sinnvoll und notwendig erscheinen zu lassen.

Damit ich das verstehe: Ihre Grundthese ist also, dass es inzwischen keine „großen Erzählungen“ mehr gibt und der neoliberalen Ideologie, nachdem sie all diese und ihre Sinnzusammenhänge erst entstellt und schließlich verschliffen hat, inzwischen selbst die Legitimation wegbricht, sie an Glaubwürdigkeit verliert? In dem Sinne, dass man das Irrationale kaum mehr vernünftig und rational zu begründen vermag – oder wie ist das gemeint?

Weder große noch kleine Erzählungen, ja. Man könnte diesen Glaubwürdigkeitsverlust des Neoliberalismus, der von der Assimilation kultureller Sinnfiguren förmlich lebt, aber selbst keinen Sinn hervorzubringen vermag, eigentlich genüsslich verfolgen, wenn nicht bereits relevante Institutionen des öffentlichen Lebens, die Aufklärung oder gar einen Gegenentwurf leisten könnten, selbst kontaminiert, funktionalisiert und damit korrumpiert, weil bis zur Unkenntlichkeit entstellt, wären.

Die funktionale Inklusion aller Lebensbereiche, mit anderen Worten der ökonomische Totalitarismus, hat mittlerweile alle gesellschaftlichen Einrichtungen zersetzt und hinterlässt eine Wüste aus toxischen Spaltprodukten. Von welchem Ort, von welcher Institution könnten da noch heilsame Impulse ausgehen?

Die Wissenschaft beispielsweise hat sich im Zuge von Ökonomisierung und Bologna längst von den Leitideen der Bildung und Wahrheitsfindung losgesagt, die Kirchen haben durch Unternehmensberatungen das ökonomistische Regime importiert und konterkarieren die gelegentliche Kapitalismuskritik von den Kanzeln durch Ausbeutung der eigenen Angestellten und manageriales Steuern. Die Gewerkschaften sind längst hierarchische Apparate, die im Zweifel in ihrer Breite doch jeden Sozialabbau oder Krieg mitzutragen bereit sind und – wie etwa die IG Metall – dann eben eigene „Privatrenten“ als Lösung der allumfassenden Misere an ihre Mitglieder offerieren, an der zunehmenden Kapitalisierung aller Lebensverhältnisse also einfach partizipieren, anstatt diese entschieden zu bekämpfen. Kunst und Kultur mussten sich weitgehend dem Marktdruck der Kreativindustrie ergeben, und auch die Parteien haben sich in ihren Prozeduren und den Haltungen ihres Spitzenpersonals von ihren normativen Grundorientierungen längst zugunsten einer technokratischen Governance-Rationalität verabschiedet und sind ihren Wählern, die sie immer häufiger zu belehren und erziehen denn ernstzunehmend suchen, längst soweit entfremdet, dass von hier mit Gegenwehr gegen die gesellschaftliche Transformation kaum mehr zu rechnen ist.

Was etwa hat die SPD noch mit sozialer Gerechtigkeit zu tun, die CDU mit dem christlichen Menschenbild, die Grünen mit der Friedensbewegung, die FDP mit einem emanzipatorischen Konzept von Freiheit? Sind diese an sich diskussions- und sogar begrüßenswerten Konzepte wirklich noch handlungsleitende Orientierungen der Akteure oder längst schon nur noch reine Marketingköder, um die Parteibasis und das Wahlvolk bei Laune zu halten, während hinter den Kulissen eine ganz andere Agenda verfolgt wird? Die Frage ist natürlich rhetorisch gemeint.

Und woran liegt das? Woher rührt das Problem?

Die Krise der politischen Narrative ist in sich mehrdeutig: Einerseits stellt das Erzeugen von Unsicherheit in der Bevölkerung selbst eine spezifische Art und Weise von Herrschaft dar. Andererseits könnte der Zerfall der Narrative auch als ein Offenbarungseid des neoliberalen Regimes gelesen werden, zumindest aber als dessen Unvermögen, dauerhaft die Fiktionen und Sinnillusionen zur Verfügung zu stellen, die er zu seiner eigenen Aufrechterhaltung benötigt.

Ich möchte hier auf die philosophische Unterscheidung von Sinn und Funktion hinaus. Funktion fällt in den Bereich der instrumentellen Vernunft, also dem Kalkül von Zweck und Mittel, dem es um Effektivität und Effizienz geht, nicht aber um eine ethische Legitimation der Zwecke. Die Optimierung der Funktion ist demnach etwas anderes als die Prüfung derselben auf Sinnhaftigkeit.

Beispielsweise verwenden wir viel Energie darauf, die Bologna-Studiengänge endlich zum Funktionieren zu bringen, anstatt, was seit Jahren überfällig wäre, darüber nachzudenken, inwiefern diese Konzeption überhaupt einen Sinn hat oder nicht vielmehr die für Bildung und Emanzipation notwendigen Grundlagen per se zerstört.

Sie selbst haben in Ihren Interviews mehrfach die klugen Gedanken von David Harvey zu diesem Kontext zitiert, der bereits vor vielen Jahren darauf insistierte, dass die Zunahme von Armut und Elend womöglich eben nicht ungewollte Nebeneffekte einer ansonsten sinnvollen Entwicklung, sondern ganz im Gegenteil genau das Ziel der neoliberalen Transformation sind; zumindest, lässt man alle Ideologie und Propaganda einmal außen vor.

Und in diesem Sinne gilt eben nicht minder, dass die Implementierung managerialer Steuerungsmodelle in die gesellschaftlichen Einrichtungen, also vom Bildungs- und Gesundheitswesen, über Medien, Kultureinrichtungen, Kirchen, Politik, Verbände und Gewerkschaften, eine wesentliche Ursache dafür sein dürften, dass deren Unvermögen, eine Spannung zum herrschenden Regime aufzubauen, inzwischen kaum mehr zu übersehen ist. Ihre Widerstandfähigkeit wurde durch langanhaltende und gründliche Transformationsprozesse fast vollständig getilgt.

Das universell wuchernde Konzept der „Governance“ muss daher unbedingt genauer analysiert und politisch bekämpft werden, da es uns zu Insassen einer apolitischen, technokratisch-ökonomistischen Untertanenfabrik macht.

Diesbezüglich schreibt ja etwa Wendy Brown in „Die schleichende Revolution“: „Mit einem Wort, die Governance verbreitet eine entpolitisierende Erkenntnistheorie, Ontologie und eine Gesamtheit von Praktiken. Da ihre Ausrichtung weich, inklusiv und technisch ist, verscharrt die Governance strittige Normen und strukturelle Schichtenbildungen (wie zum Beispiel Klassen) sowie die Normen und Ausschlüsse, die durch ihre Verfahren und Entscheidungen in Umlauf gesetzt werden. Sie integriert Subjekte in die Zwecke und Bahnen der Nationen, Betriebe, Universitäten oder anderer Gebilde, die sich ihrer bedienen. Im öffentlichen Leben verdrängt die Governance liberal-demokratische Anliegen mit Bezug auf Gerechtigkeit durch technische Problemformulierungen, Fragen nach dem, was recht ist, durch Fragen nach der Effizienz, selbst Fragen nach dem, was legal ist, durch solche nach der Effektivität. Am Arbeitsplatz verdrängt die Governance den horizontalen Zusammenhalt von Gewerkschaften und das Arbeiterbewußtsein und die Politik des Kampfes durch hierarchisch organisierte »Teams«, die Kooperation mehrerer Parteien, individuelle Verantwortlichkeit und Antipolitik. Die Governance ist auch ein Schlüsselmechanismus für die Taktiken und Praktiken der »Responsibilisierung«, die das individuelle Handeln und die Selbständigkeit (unabhängig von den Mitteln, der gesellschaftlichen Stellung oder den Risiken) zum Ort des Überlebens und der Tugend machen und für die Ökonomisierung von Bereichen und Verhaltensweisen durch Erfolgsmethoden und die Metriken des Vergleichs mit Bezugsnormen, denen wir uns nun zuwenden“…

Ja, das trifft es so ziemlich genau auf den Punkt. Und in diesem Zusammenhang ist es schon ausgesprochen naiv, wenn nicht dreist, dass sich etwa die Landesregierung NRW in ihrer Antwort auf die große Anfrage der Piratenfraktion zum Einfluss der Bertelsmann Stiftung auf die Landespolitik darauf beruft, dass sie sich am Konzept der „Good Governance“ orientiere.

Ein größeres Eingeständnis der Kapitulation der Politik vor dem neoliberalen Steuerungsregime, wie es nicht zuletzt von Bertelsmann propagiert wird, kann es kaum geben.

Und wie ist nun in diesem Zusammenhang die Terrorlage zu deuten?

Nun, der Terrorist ist zwar nicht minder nihilistisch als das Governance-Regime, gleichwohl jedoch auch Ausdruck des radikalen Bruchs mit ihm, und so bleiben die Gewaltakte für die Medienöffentlichkeit schlicht unerklärlich. Der kolportierte Ruf etwa, dass Gott groß sei, erweist sich angesichts der verheerenden Taten als kategorischer Selbstwiderspruch. Dies wirkt ebenso wenig überzeugend, wie wenn die Segnungen der Demokratie auf dem Wege von Flächenbombardements verbreitet werden.

Die sinn-lose Tat trifft dabei auf eine hilf- und sprachlose Politik. Dem Selbstmordterroristen, wie er uns in den Medien manipulativ präsentiert wird, ist keine Rolle im zynischen Spiel der Governance zuzuweisen, er ist und bleibt unassimilierbar in das bestehende System, eine systemfremde Diskursfigur: kein Homo Oeconomicus und auch kein Stakeholder, er springt nicht auf Anreize von Nudging oder Gamification an, kennt keine Push- oder Pull-Faktoren, erliegt nicht den Verheißungen einer Win-Win-Situation, weigert sich, verantwortlich gemacht zu werden für das, was ihm möglicherweise angetan wurde, entzieht sich der Inklusion in den „Markt für alle“, schlägt das Empowerment aus, überspringt den Evaluationsbogen, schließt keine Zielvereinbarung ab und ist auch nicht in einem Best-Practice-Verfahren zu be- bzw. überwältigen usf.

Dadurch entlarvt er blutig – wenngleich wohl unbeabsichtigt – die Engstirnigkeit des Governance-Schematismus, dessen Opfer wir in den letzten Jahrzehnten geworden sind.

Das war jetzt, nun, sagen wir, sehr philosophisch formuliert, daher frage ich zum besseren Verständnis noch einmal nach: Der Terrorist ist also derjenige, der uns die Unwirklichkeit des uns allen übergestülpten Diskurses gewalttätig vor Augen führt? Und zwar nicht etwa, indem er etwas Hilfreiches oder Sinnvolles „gegen den Neoliberalismus“ unternimmt, sondern schlicht dadurch, dass er die Antwortlosigkeit einer sinnentleerten Politik, ja, wenn wir so wollen, die Nacktheit unseres Kaisers, offenbart? Aber verklärt dieser Gedanke den Terroristen nicht zu einer Art Erlöserfigur?

Mir geht es weniger um den Terroristen als um eine Betrachtung unserer eigenen Lebens- und Denkweise. Zweierlei ist diesbezüglich doch inzwischen evident: Erstens werden die Sorgen der Menschen vor möglichen Untaten durch den berechtigten Eindruck des personellen und strukturellen Unvermögens, nachvollziehbare Deutungen, sinnvolle Antworten oder wirkliche Lösungen zu finden, weiter verstärkt. Offenkundig hat sich der Ökonomismus in der Governance selbst zu Tode gesiegt: Das manageriale Betriebssystem des öffentlichen Lebens offeriert keine Verstehensgrundlage für dieses fremde Verhalten mehr, da es das Verstehen selbst als Kategorie nicht mehr kennt.

Das erklärt auch, dass etwa „Putin-Versteher“ inzwischen zu einem Schimpfwort gemacht werden konnte. Verstehen aber ist die Voraussetzung für jeglichen humanen Umgang miteinander, mit Freund sowie Feind. Verstehen bedeutet dabei keineswegs billigen oder gutheißen, gleichwohl ein Sich-Einlassen auf den Anderen in seiner Andersartigkeit, auf seine Geschichte, seine Motive usf. Dadurch bekämen die Taten einen Kontext und die Politik einen Handlungsspielraum; und zwar diesseits von Überwachung, Abschreckung und Gegengewalt. Es ist doch bemerkenswert, dass alle Täter in aller Regel erschossen werden, wenn sie sich nicht ohnehin selbst töten. Ein rechtstaatlicher Prozess hingegen wäre ein Ausgangspunkt für Verstehen sowie die notwendige öffentliche Diskussion.

Nebenbei: Auch die Auseinandersetzung mit politischen Radikalisierungen darf auf das Verstehen nicht verzichten, wenn sie selbst nicht den Zug des Totalitären annehmen will. Es ist insofern überaus besorgniserregend, wenn die Parole ausgegeben wird, dass mit Vertretern bestimmter Einstellungen gar nicht mehr gesprochen werden darf, wie das politisch gerade hoch im Kurs zu stehen scheint.

Die Governance ist aber – und damit komme ich zu Punkt zwei – nicht nur verständnislos gegenüber dem Gewaltakt des Terroristen, sondern auch gegenüber den vitalen Bedürfnissen einer humanen Gemeinschaft. Sie versteht weder das Politische, noch das Kulturelle oder das Religiöse. Governance exekutiert, ihre Agenten sind die Technokraten, wie es sie in jeder Partei, Universität oder Kirche, in jedem Krankenhaus, Theater, in Wohlfahrtsverbänden, Gewerkschaften und Universitäten gibt. Dies ist geradezu die Voraussetzung für ihre universelle Expansion in alle Bereiche, dass es ihr gleichgültig ist, womit und mit wem sie es zu tun hat.

So wenig das Governance-Regime mangels Verstehen deshalb eine angemessene Antwort auf den Terror finden wird, so wenig wird es in der Lage sein, die Frage nach der Gerechtigkeit, nach Glück, Gesundheit, Bildung, kultureller Relevanz und anderem zu beantworten. Diese notwendigen Antworten sind nämlich kein Aggregat von Kennziffern, sondern Sinn- und Lebensentwürfe, also eben das, was dem Neoliberalismus, der nichts anderes als eine „Klassenkampfideologie“ der Oberen gegen die Unteren darstellt, vollständig fehlt.

Und wie kann und soll es in dieser Lage nun weitergehen, in der wir uns offenbar der Transformation unserer Gesellschaft in eine „Sachzwangdiktatur“ Auge in Auge gegenübersehen? Was wäre ein humaner Weg aus der Sackgasse heraus?

Ich halte die aktuelle Situation für zweideutig: Das propagierte Programm ist entzaubert, die Narrative verfangen nicht mehr, das Bedürfnis der Menschen nach Verstehen und Sinnantworten tritt deutlich hervor.

Entweder folgt nun auf die Phase des Regierens über weiche Steuerung die längst vorbereitete offene Repression und also der Weg in eine immer totalitärere Regierungsform, wie etwa Rainer Mausfeld dies befürchtet, oder aber die Leitideen der Moderne von Gerechtigkeit, Aufklärung, Solidarität, Emanzipation, Humanismus werden endlich wieder zum Maßstab des Politischen erhoben, in einer Situation, in der die Chance auf Gegenwehr nunmehr sehr günstig ist.

Dieser Fall kann aber nur dann eintreten, wenn wir für ihn eintreten. Wir allesamt. Wider die Prinzipien der kalten instrumentellen Vernunft, der verlogenen Governance – und für das Wiedererstarken der humanistischen Idee von einer humaneren Welt.

Ich bedanke mich für das Gespräch.


Matthias Burchardt ist Akademischer Rat am Institut für Bildungsphilosophie an der Universität zu Köln und stellvertretender Geschäftsführer der Gesellschaft für Bildung und Wissen e.V. Er ist entschiedener Kritiker der Bildungsreformen im Namen von PISA und Bologna. Zuletzt erschien von ihm der Aufsatz „G8 als Baustein eines Reformputsches gegen die humanistische Bildungskultur“ im Buch „weniger ist weniger: G8 und die Kollateralschäden“.


Zitat zum Text:

„Die liberalistische Rationalisierung der Wirtschaftsführung (wie überhaupt der gesellschaftlichen Ordnung) ist wesentlich eine private: sie ist gebunden an die rationale Praxis des einzelnen Wirtschaftssubjekts bzw. einer Vielheit einzelner Wirtschaftssubjekte. Zwar soll sich am Ende die Rationalität der liberalistischen Praxis im Ganzen und am Ganzen erweisen, aber dieses Ganze selbst bleibt der Rationalisierung entzogen. Der Einklang von Allgemein- und Privatinteresse soll sich im ungestörten Ablauf der privaten Praxis von selbst ergeben; er wird prinzipiell nicht in die Kritik genommen, er gehört prinzipiell nicht mehr zum rationalen Entwurf der Praxis.
Durch diese Privatisierung der Ratio wird der vernunftgemäße Aufbau der Gesellschaft um sein zielgebendes Ende gebracht (wie beim Irrationalismus durch die Funktionalisierung der Ratio um seinen richtunggebenden Anfang). Gerade die rationale Bestimmung und Bedingung jener ‚Allgemeinheit‘, bei der schließlich das ‚Glück‘ des Einzelnen aufgehoben sein soll, fehlt. Insofern (und nur insofern) wirft man dem Liberalismus mit Recht vor, daß seine Rede von der Allgemeinheit, der Menschheit usw. in puren Abstraktionen stecken bleibt. Struktur und Ordnung des Ganzen bleiben letztlich irrationalen Kräften überlassen: einer zufälligen ‚Harmonie‘, einem ‚natürlichen Gleichgewicht‘. Die Tragfähigkeit des liberalistischen Rationalismus hört daher sofort auf, wenn mit der Verschärfung der gesellschaftlichen Gegensätze und der ökonomischen Krisen die allgemeine ‚Harmonie‘ immer unwahrscheinlicher wird; an diesem Punkt muß auch die liberalistische Tradition zu irrationalen Rechtfertigungen greifen. Die rationale Kritik gibt sich selbst auf; sie ist allzu leicht bereit, ‚natürliche‘ Vorrechte und Begnadungen anzuerkennen. Der charismatisch-autoritäre Führergedanke ist schon präformiert in der liberalistischen Feier des genialen Wirtschaftsführers, des ‚geborenen‘ Chefs. (…)
Die rohe Skizze der liberalistischen Gesellschaftstheorie hat gezeigt, wie viele Elemente der totalitären Staatsauffassung in ihr schon angelegt sind. Von der ökonomischen Struktur aus enthüllt sich eine fast lückenlose Kontinuität in der Entwicklung der theoretischen Interpretation der Gesellschaft. Die ökonomischen Grundlagen dieser Entwicklung von der liberalistischen zur totalitären Theorie müssen hier vorausgesetzt werden: sie liegen im Wesentlichen alle auf der Linie der Wandlung der kapitalistischen Gesellschaft von dem auf der freien Konkurrenz der selbständigen Einzelunternehmer aufgebauten Handels- und Industriekapitalismus zum modernen Monopolkapitalismus, in dem die veränderten Produktionsverhältnisse (und besonders die großen ‚Einheiten‘ der Kartelle, Trusts etc.) eine alle Machtmittel mobilisierende Staatsgewalt fordern. (…)
Die Wendung vom liberalistischen zum total-autoritären Staate vollzieht sich auf dem Boden derselben Gesellschaftsordnung. Im Hinblick auf diese Einheit der ökonomischen Basis läßt sich sagen: es ist der Liberalismus selbst, der den total-autoritären Staat aus sich ‚erzeugt‘: als seine eigene Vollendung auf einer fortgeschrittenen Stufe der Entwicklung. Der total-autoritäre Staat bringt die dem monopolistischen Stadium des Kapitalismus entsprechende Organisation und Theorie der Gesellschaft.“

Herbert Marcuse: Der Kampf gegen den Liberalismus in der totalitären Staatsauffassung, in: Wolfgang Abendroth (Hrsg.): Faschismus und Kapitalismus. Theorien über die sozialen Ursprünge und die Funktion des Faschismus, Europäische Verlagsanstalt, 1967, Seiten 39 – 74


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