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Titel: Notbremse: Angriff auf Merkel. – Ein paar Anmerkungen zum Ausgang der Wahl in Nordrhein-Westfalen

Datum: 15. Mai 2017 um 9:39 Uhr
Rubrik: Aktuelles, Audio-Podcast, Medienkritik, Parteien und Verbände, SPD, Strategien der Meinungsmache, Wahlen
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Für alle, die einen politischen Wechsel für dringend notwendig halten, war die gestrige Wahl wie auch schon zuvor jene in Schleswig-Holstein und im Saarland enttäuschend. Das gilt für die Grünen, die Linkspartei und vor allem für die SPD. Ihre Kampagne mit Martin Schulz ist zusammengebrochen. Ihre Strategen stehen vor einem Scherbenhaufen. Das Ergebnis war absehbar. – Es folgen Beobachtungen vom Wahlabend und Anmerkungen zu den Konsequenzen. Ob die SPD bei ihrer Vorstandsklausur von heute früh zur Einsicht kommt? Ich habe seit langem Zweifel, ob ihre Spitzenleute überhaupt gewinnen wollen. Wenn dieser Wille fehlt, dann braucht man auch keine gute Strategie. Albrecht Müller.

Dieser Beitrag ist auch als Audio-Podcast verfügbar.

Das vorläufige amtliche Endergebnis:

Das Hauptergebnis:

CDU und FDP haben zusammen 100 Sitze. Das ist eine Mehrheit von einem Sitz. Ob die beiden damit regieren können, ist offen.

Nun nacheinander einige Anmerkungen zum Wahlabend und zum Wahlergebnis und den Folgen:

  1. Anmerkung: Siege kann man machen – Niederlagen auch.

    Die CDU hat in Nordrhein-Westfalen die Landesregierung massiv angegriffen. Dafür gab es gute Gründe, nicht so viele, wie die CDU behauptet hat. Die SPD hat es unterlassen, die vermutlichen Angriffe der CDU vorweg zu thematisieren und zu entschärfen.

    Zusätzlich wurden bundespolitische Argumente in den Wahlkampf eingespielt: Angela Merkel war sehr präsent in Nordrhein-Westfalen und in den Medien. Die „Leistungen“ der CDU-Seite in der Bundesregierung wurden aktualisiert: besonderes Wachstum im ersten Quartal, hohe Steuereinnahmen. Die miserablen Teile der Berliner Bilanz wurden von SPD-Seite verschwiegen. Keine Angriffe auf von der Leyen, obwohl es dazu aktuelle Ansatzpunkte massenweise gegeben hätte. Keine Kritik an Merkel.

    Die Vorstellung der SPD, durch eine Absprache zwischen Bundes- und Landes-SPD verhindern zu können, dass die Bundespolitik bei der Landtagswahl-Entscheidung der Wählerinnen und Wähler keine Rolle spielen solle, ist schlicht und einfach albern. Die Bundespolitik spielt selbstverständlich auch in eine Landtagswahl-Entscheidung hinein. Auch die nachträglich immer wiederholte Behauptung, das sei eine reine Landtagswahl-Entscheidung gewesen, wird nicht ziehen.

    Die SPD und Schulz haben nicht konkretisiert, was mehr soziale Gerechtigkeit bedeuten soll. Am Wahlabend hat er wohl gemerkt, dass es an programmatischer Orientierung fehlt. Etwas spät. Vielleicht hätte er besser mal im März schon diesen Beitrag gelesen: Schulz ist als Tiger gestartet und als Bettvorleger an der Saar gelandet. Einige Beobachtungen vom Wahlabend.

    Das Wichtigste, worauf die NachDenkSeiten schon mehrmals hingewiesen haben: die Union, Merkel, von der Leyen und alle anderen werden von den Medien bevorzugt und laufend unterstützt. Martin Schulz hat sich wohl eingebildet, er werde in gleicher Weise zum Liebling der Medien aufsteigen. An Äußerungen von ihm am Wahlabend wird sichtbar, dass er immer noch nicht verstanden hat, dass er gegen die Mehrheit der Medien gewinnen muss und deshalb, um viele Menschen zu motivieren und zu mobilisieren, die Einseitigkeit der Medien thematisieren muss.

    Über das Wechselspiel von Hype und Niedermache gab es in der Sonntagsausgabe meiner Regionalzeitung einen interessanten Artikel: „Pokémon Schulz“. Er hängt als Anhang 2 an.

  2. Anmerkung: Zur Einseitigkeit und zum Versagen vieler Medien

    Die Medien sind an diesem Wahlergebnis in vielfältiger Weise beteiligt. Und einige ihrer Vertreter haben sich am Wahlabend schon wieder an der vom konservativen Teil unserer Gesellschaft gewünschten Meinungsmache beteiligt. (Mein Haupteindruck geht auf das Verfolgen der Berichterstattung der ARD am Wahlabend zurück und auf Lektüre einiger anderer Medien.)

    • Die Medien haben die FDP wiederbelebt. Ihre Vertreter sind weit über das normale Maß hinaus an Talkshows und sonstigen Sendungen beteiligt. Kubicki auf allen Kanälen.
    • Ein kleines Detail: am Wahlabend selbst zum Beispiel hat der als Moderator wirkende Plasberg gleich zweimal und ohne eigentliches Motiv darauf hingewiesen, der FDP-Vorsitzende Lindner sei der beliebteste Politiker Nordrhein-Westfalens. Es ist offensichtlich, dass die Spitzenverdiener des Medienbetriebs auf die FDP und ihre Steuerpolitik setzen.
    • Am Abend der Saarland-Wahl haben wichtige Vertreter unentwegt gefragt und festgestellt: die SPD habe an der Saar verloren, weil sie sich für eine Koalition mit der Linkspartei ausgesprochen habe. Haben Sie jetzt am Wahlabend der NRW-Wahl von irgendeinem Medium gehört, die SPD habe in Nordrhein-Westfalen so massiv verloren, weil sie sich gegen eine Koalition mit der Linkspartei ausgesprochen hat? Nichts davon. An der Saar hatte die SPD ein Prozent verloren, in Nordrhein-Westfalen verlor sie 7,9 %. Diese Fakten sind kein Anlass, danach zu fragen, welche Rolle die Absage an ein rot-rot-grünes Bündnis in NRW und damit die Absage an eine konkrete Alternative für die Wahlentscheidung gespielt haben könnte.
    • Wenn man bedenkt, dass die ARD sich auch mit ihrer Einrichtung Faktenfinder zum Zensor aufspielen will und das Verhalten ihrer Vertreter am gestrigen Wahlabend sieht, dann verschlägt es einem die Sprache.
    • Es gab auch eine Fülle kleinerer Fehler und Ungeschicklichkeiten: die ARD-Vertreter wechselten ständig ihre Interviewpartner, schnitten Interviews mitten im Satz ab, um vermeintlich interessantere Gesprächspartner oder Statements einzublenden. Plasberg hat penetrant versucht, die Grünen-Spitzenkandidatin und Ministerin Sylvia Löhrmann zu irgendeinem Rücktritt zu bewegen. Sie hatte mit Recht Mühe, ihm klarzumachen, dass es bei ihr nichts zurückzutreten gibt. Das Ministeramt hat sie nicht mehr und ein sonstiges Amt hat sie nicht. Insgesamt miserabler Journalismus. Plasberg hat auch für Merkel geworben, nicht nur für Lindner und die FDP. Die Vertreter der ARD/WDR haben sich auch in Kombination mit den Umfrageexperten von Infratest Dimap einige ordentliche Blößen gegeben: sie starteten mit einer Differenz zwischen CDU und SPD von 4 %. Tatsächlich wurden daraus 1,8 %. Aber der große Vorsprung bestimmte maßgeblich die weitere Atmosphäre des Abends.
  3. Anmerkung: Koalitionsaussage Ja oder Nein? Umgang mit potentiellen Partnern. Hannelore Kraft hat Schwarz-Gelb möglich gemacht.
    • Es ist schon darauf hingewiesen worden, dass das Kalkül der SPD-Führung, durch eine Distanzierung von der Zusammenarbeit mit der Linkspartei Wählerinnen und Wähler zu gewinnen, nicht aufgegangen ist. Mit dem Bekenntnis zu einer solchen Koalition im Saarland hat sie weniger verloren als jetzt in Nordrhein-Westfalen mit einer wahltaktisch bedingten Absage an diese Alternative. Der Kern: Martin Schulz und die SPD können nicht vermitteln, mit welcher Mehrheit sie die nächste Wahl, die Bundestagswahl Ende September gewinnen wollen. 27 Jahre nach dem Ende der DDR wird immer noch und offensichtlich verstärkt die Angst vor einer linken Partei geschürt. Die Rote-Socken-Kampagne der CDU/CSU ist wiederbelebt worden und diese Wiederbelebung gelingt, wenn niemand außer der Linkspartei selbst dieser Stigmatisierung widerspricht. Die SPD und die SPD-Führung täuschen sich, wenn sie meinen, sie könnten sich dadurch, dass sie mit den Wölfen heulen, der Stigmatisierung als potentieller Koalitionspartner entziehen.
    • Es ist ganz selbstverständlich, dass Wählerinnen und Wähler gerne wissen, welche Regierungskonstellationen zur Wahl stehen. In der klaren Erkenntnis dieses Wunsches sind bisher deshalb in der Regel, nicht immer, die potentiellen Koalitionspartner benannt worden und sie sind sogar gepflegt worden.

    Da ich an vielen Wahlkämpfen beteiligt war, habe ich eine Fülle von Beispielen präsent: 1969 wurde der potentielle Koalitionspartner FDP, damals allerdings mehr linksliberal als heute, von dem kommenden Bundeskanzler Brandt umworben. Er hat dann als Bundeskanzler immer wieder für dieses Bündnis auch mit Rückgriff auf die sozialliberalen Traditionen der FDP geworben:

    Im Januar 1975 war die Koalition aus SPD und FDP in Nordrhein-Westfalen in Nöten. Es war unsicher, ob sie die Wahl im Mai gewinnen würden. Daraufhin lud der damalige Bundeskanzler Helmut Schmidt die Spitzen der beiden Parteien zu einer Beratung in den Kanzlerbungalow ein. Ich war bei dieser Sitzung mit dabei. Sie war ausgesprochen produktiv und hat wesentlich dazu beigetragen, den damaligen SPD-Ministerpräsidenten Kühn vor der Abwahl zu retten.

    Das sind zwei Beispiele von vielen möglichen. Koalitionen und Koalitionspartner müssen gepflegt werden. Und das muss offen geschehen und offensiv. Das gilt jetzt auch im Blick auf die Bundestagswahl.

  4. Will die SPD wirklich gewinnen?

    Alle Überlegungen machen nur dann einen Sinn, wenn man dessen sicher sein kann, dass der größte Partner einer potentiellen Koalition zur Ablösung von Frau Merkel die politische Alternative wirklich will. Daran sind große Zweifel angebracht. Was zu tun wäre, haben wir hier beschrieben und ich wiederhole es noch mal:

    Eine klare Alternative zu Frau Merkel bieten, würde verlangen:

    • Abkehr von der Agenda 2010 und zugleich die Hinwendung zur bewährten Politik der sozialen Sicherung
    • Klares Bekenntnis zur Sozialstaatlichkeit als dem Markenzeichen Europas
    • Schluss mit der Austeritätspolitik und stattdessen Beschäftigungsinitiativen bei uns und vor allem in den Krisenländern Europas
    • Das wäre zugleich die Abkehr von den Lippenbekenntnissen zu Europa und stattdessen eine aktive Wirtschafts- und Finanzpolitik zur Rettung Europas
    • Schluss mit der Kriegsbeteiligung, Verständigung mit Russland. Hinwendung zum Konzept der Gemeinsamen Sicherheit
    • Distanzierung von USA und NATO – auf mittlere Sicht Schluss mit der Nutzung unseres Landes für Kriegshandlungen überall in der Welt
    • Eine klare Aussage dazu, wie man die politische Mehrheit gewinnen will. Da kann man vom Wahlsieger der CDU in Schleswig-Holstein lernen. Er hat die Koalition benannt, mit der er den Wechsel in Kiel bewirken will. Konkret heißt das für die Bundestagswahl: Offensiv die Zusammenarbeit mit der Linkspartei ankündigen und vertreten.
    • Thematisierung der Medienbarriere und zugleich
    • Mobilisierung von 100 tausenden politisch engagierter Menschen und Sympathisanten

    Ein solches Programm mag man für illusionär halten. Dann möge man aber auch die Folgen bedenken.“

    Das war vom 8. Mai 2017, ist also gerade mal eine Woche alt.

    Die SPD ist weit von einer solchen Programmatik entfernt. Sie ist an die Agenda 2010 gefesselt und möglicherweise auch ans Kriegführen. Wenn die heutige Vorstandsklausur das Gegenteil beweisen würde, dann wäre das eine sehr positive Überraschung. Wenn nicht, dann geht’s weiter abwärts.

Anhang 1:

Beitrag von Eckehart Hagen zu den nordrhein-westfälischen Wahlen, geschrieben um 15:00 Uhr vor Schließung der Wahllokale:

Warum SPD und Rot-Grün die Wahl in NRW verlieren und was daraus folgen könnte bzw. sollte
(eine gewagte Prognose vor Schließung der Wahllokale)

  1. Die NRW-Regierungsbilanz ist mager, bestenfalls durchwachsen
  2. Es wurde – außer „kein Kind zurücklassen“ – kaum eine Werteuntermauerung des Regierungshandelns vermittelt
  3. Der „Wahlkampf“ der SPD war einfalts- und zahnlos und in Anzeigen, Plakaten und Ständen weniger präsent als CDU und FDP (zumindest in Bonn!) Die fast vollständige Beschränkung auf die MP’in (NRWir mit Hannelore Kraft) ohne inhaltliche Unterfütterung ist zu wenig
  4. Dem offensiven, z.T. aggressiven Wahlkampf (z.B. Schlusslichtdebatte) von CDU und FDP wurde argumentativ nichts entgegengestellt, weder verteidigend noch mit eigener Angriffsargumentation; willfährig wurde von Frau Kraft auch eine Koalition mit ‚Die Linke‘ ausgeschlossen und dafür der FDP Koaltions-Avancen gemacht
  5. So konnten die Oppositionsparteien alle in NRW sicht- und spürbaren Fehler und Defizite (von Kölner Silvesternacht, über Fall Amri, Verkehrsstaus, Wohnungsnot, innere Sicherheit, insbesondere hohe Einbruchszahlen, Lehrer- und ErzieherInnenmangel, Schul- und Kitasituation bis zur Salafistenszene) ausschließlich der Landesregierung anlasten und damit Wechselstimmung erzeugen
  6. SPD und Grüne blieben im gesamten Wahlkampf deshalb ausschließlich in der Defensive. In dieser Situation reicht ein bloßer „Nettigkeits-/Kümmerer-Wahlkampf“ der MP’in nicht aus
  7. Frau Merkel blieb von jeglicher Kritik (z.B. zu Fehlern in der Flüchtlings- oder Europapolitik ) verschont. Vor lauter großkoalitionärer Rücksichtnahme (u.a.) haben die SPD-Oberen auch jegliche Angriffsfähigkeit verloren, ohne die eine Wahlauseinandersetzung nicht zu gewinnen ist
  8. Das Profil der SPD, das Martin Schulz zu Beginn seiner BK-Kandidatur durch erstmalig auf Führungsebene eingestandenen Korrekturbedarf der Agenda-10-Politik, geschärft hatte (mit sofortigem Anstieg der Umfragewerte bis zu 10 %-Punkten), wurde offensichtlich durch neoliberale Alt-Genossen gestoppt. Stattdessen ist der ohnehin nicht linke, nun zusätzlich gezähmte Kandidat im Mainstream unserer „Eliten“ angekommen (vergleiche seine Rede vor der Industrie-und Handelskammer in Berlin: „So viel Markt wie möglich, so viel Staat wie nötig“ – ein typischer CDU/ FDP-Satz ist nun sein Credo und genau für diese Politik braucht das Land keine SPD!!!)
  9. Angesichts aller Umfragewerte sagt die apodiktische (und völlig unnötige) Absage an eine Rotrotgrüne Regierung dem Wähler, daß es Frau Kraft bestenfalls um ein Weiterso geht, entweder in der GroKo (gegebenenfalls auch als Juniorpartner wie im Saarland!?) oder mit der Lindner-FDP in einer Ampel. Beide Perspektiven sind nicht zur Mobilisierung einer angeblich linken Volkspartei und ihrer potentiellen Wähler geeignet.
  10. Geht NRW für die SPD verloren, kann ein „ gezähmter Kanzlerkandidat Schulz“ alle Mühe, Schweiss und Geld sparen für einen BTW-Wahlkampf, der realistischerweise nur die abermalige Rolle als Merkels Juniorpartner erwarten lässt und die SPD mit grosser Sicherheit im 30%-Turm gefangen hält (und perspektivisch das Schicksal anderer westeuropäischer sozialdemokratischer Parteien zur Folge haben dürfte)
  11. Ich habe dennoch einen Traum: Die SPD besinnt sich nach der NRW-Niederlage ihrer den minderprivilegierten Menschen historisch geschuldeten Werte und kehrt auf den Weg wirklich sozialdemokratischer Zielstellungen zurück. Sie entschließt sich für eine offensiv geführte Auseinandersetzung mit der gescheiterten neoliberalen Ideologie ( und damit wesentlicher Elemente der Agenda-10-Politik!) sowie ihrer Wortführer in Politik, Wirtschaft und Medien. Die Partei „Die Linke“ wird auch von der SPD nach fast 3 Jahrzehnten deutscher Einheit als eine normale, demokratische Konkurrenzpartei behandelt, und d.h. alle demokratischen Parteien sind im Prinzip koalitionsfähig!

Eckehart Hagen, Bonn 14.Mai 2017/ 15:00 Uhr

Anlage 2:
Ein Artikel der Rheinpfalz am Sonntag vom 14.5.2017:


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