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Titel: Ein Gespräch mit Jürgen Todenhöfer über die „Große Heuchelei“ des Westens

Datum: 16. April 2019 um 9:58 Uhr
Rubrik: Aktuelles, Außen- und Sicherheitspolitik, Aufbau Gegenöffentlichkeit, Interviews, Militäreinsätze/Kriege, Strategien der Meinungsmache, Wertedebatte
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Aus Anlass des Erscheinens seines neuen Buches haben wir über 1 Stunde lang miteinander gesprochen.[*] Die NachDenkSeiten hatten das Buch am 29. März schon vorgestellt. Im Interview geht es um den Kern des Buches, um Krieg und Frieden und um die Rolle unseres Landes. Der Autor meint, unser Land könne und müsse eine vermittelnde Rolle spielen. Viel mehr als heute. Wir sollten die strategische Partnerschaft im Westen durch eine strategische Partnerschaft mit Russland ergänzen. Es geht im Gespräch wie schon im Buch um die grenzenlose westliche Brutalität, die wir systematisch in edle Worte und edle Werte verpackt haben: Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit, Christianisierung, Zivilisierung und so weiter. Albrecht Müller.

Jürgen Todenhöfer schätzt klare unbequeme Aussagen, bei aller Verbindlichkeit, die ihn ansonsten auszeichnet. Ein Beispiel für seine schnörkellose Darstellung der Fakten: ‚Immer wenn man tötete, sagte man: Das tun wir dir zuliebe, das ist eine humanitäre Aktion. Wenn wir von „humanitären Kriegen“ sprechen, wäre die korrekte Übersetzung: Humanes Totschlagen von Kindern.‘

[«*] Redaktionelle Vorbemerkung: Das Interview wurde per Telefon geführt. Die Niederschrift erfolgte möglichst nah am Gespräch.

Das Gespräch

Albrecht Müller: Guten Tag, Herr Todenhöfer. Sie haben ein großes Buch geschrieben. Der Titel ist provokant: “Die große Heuchelei. Wie Politik und Medien unsere Werte verraten.” Ich hätte eine so klare Botschaft nicht erwartet, erläutern Sie bitte die Begründung für diesen harten Titel.

Jürgen Todenhöfer: Das ist der Versuch, die Geschichte des Aufstiegs der Europäer und der Amerikaner in den letzten 500 Jahren ehrlich zu beschreiben. Und ich glaube, dass diese Geschichte der europäisch-amerikanischen Zivilisation umgeschrieben werden muss: wir, die Europäer und die Amerikaner haben die Welt ja nicht durch, wie wir immer sagen, durch unsere Werte und durch besondere Genialität der sogenannten weißen Rasse erobert, sondern durch eine grenzenlose Brutalität, die wir aber, und es gab auch andere brutale Weltmächte in der Geschichte der Menschheit, die wir aber, und das unterscheidet uns von anderen Großmächten, systematisch in edle Worte und edle Werte verpackt haben. Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit, Christianisierung, Zivilisierung und so weiter.

Also, wir waren schon immer große Propagandisten?

Ja, ich glaube, dass der Mensch dazu neigt, und ich schließe mich davon nicht aus, das, was er tut, nicht im schlechtesten Licht, sondern in einem möglichst positiven Licht zu zeigen. Und auch andere Großmächte haben das versucht. Die Römer haben angeblich immer nur gerechte Kriege geführt. Aber es gibt in der Geschichte der Menschheit keine einzige Großmacht, die die Chuzpe gehabt hat, das Töten, das massenhafte Töten von Menschen als humanitäre Handlung darzustellen.

Das ist offensichtlich eine gewaltige „Leistung“.

Das ist eine riesige Leistung, vor allem, wenn man an das Unrecht denkt in diesen 500 Jahren. Ich starte mal den Aufstieg der westlichen, der europäisch-amerikanischen Zivilisation mit Kolumbus, weil das auch dasselbe Jahr ist, als die islamische Hochkultur, die 800 Jahre dauerte, in Granada unterging. Wir haben seitdem weit über 100 Millionen massakriert, ganze Völker ausgerottet.

Eindrucksvoll, wie Sie das am Fall Kongo und an anderen konkreten Fällen schildern.

Ja, ich habe das Beispiel Kongo genommen, um zu zeigen, das ist nicht nur ein französisch-englisch-amerikanisches Phänomen, es ist ein Phänomen der europäischen Machtergreifung auf der Welt oder wie Amerika und Europa zur Nummer Eins auf der Welt wurden. Das ist den meisten einfach nicht bekannt. Die Menschen wissen das nicht vom Kongo. Die wissen nicht, was wir wirklich im Irak, in Syrien, im Jemen machen, aber sie ahnen es. Und dieses Buch ist der Versuch, jetzt keine theoretische Behauptung aufzustellen, sondern um diese Strategie der Brutalität und der Heuchelei oder der brutalen Heuchelei oder der heuchlerischen Brutalität zu recherchieren und zu beschreiben.

Also ich bin meistens mit meinem Sohn an ein Dutzend dieser Orte gegangen, wo wir das machen. Also nehmen Sie Jemen oder die Rohingya oder Mossul – ich war während der Bombardierung von Mossul in Mossul. Ich war während der Bombardierung von Aleppo in Aleppo. Ich war während des Krieges gegen Gaza in Gaza. Ich habe mir das angesehen, was ich behaupte. Und ich glaube, dass das ein wichtiger Beitrag sein wird für jetzt junge Historiker, die eines Tages die Geschichte der westlichen Machtergreifung umschreiben werden.

Bei der Lektüre Ihres Buches habe ich einiges dazugelernt, vor allem darüber, wie der Westen mit dem Nahen und Mittleren Osten umgegangen ist. Von Werten einer angeblichen Wertegemeinschaft gab‘s da oft keine Spur. Haben Sie früher den Begriff “westliche Wertegemeinschaft” gebraucht? Mir geht es nicht um eine nachträgliche Kritik Ihrer eigenen persönlichen Geschichte, aber ich finde es interessant, einfach mal zu hören, wann hat es da „geschnackelt“ bei Ihnen.

Ich beantworte das andersrum. Ich sage, ich bin ein Kind des Westens, ich habe von meinem 20. Lebensjahr angefangen, diesen Westen zu lieben. Ich habe angefangen, die Versuche gut zu finden, Menschenrechte bei uns im Westen umzusetzen, zu realisieren. Ich sage: die Versuche, und die teilweise auch gelungen sind. Ich glaube, wir leben mit allen Fehlern, die wir immer noch machen, mit all den vergessenen Menschen, wie wir heute Muslime behandeln. Also ich habe erlebt, dass ich am Strand mit jungen Leuten stand und da kam jemand dazu und hat gesagt: “Wisst ihr denn nicht, dass das ein „Boch“, ein Scheißdeutscher, ist?”

Ja, gut, aber unsere Generation hat ja auch viel anderes erlebt. Ich war 1961 gute vier Wochen in Griechenland. Die Griechen haben unter den Nazis und unter uns Deutschen sehr gelitten. 15 Jahre nach dem Ende des Krieges begegnete uns nur ein einziger Fall von Aggressivität. Also ich denke, mehrheitlich haben wir als junge Leute gute Erfahrungen mit unseren Nachbarn gemacht.

Mehrheitlich ist das völlig richtig. Ich wollte nur erklären, wann ich angefangen habe, mich für den Westen wirklich uneingeschränkt – als junger Mensch denkt man ja viel emotionaler und beobachtet kritisch: wie wirst du behandelt – zu begeistern und ich bin dann nach Amerika gereist. Aber ich ging während des Algerien-Krieges auch nach Algerien und habe da gesehen, wie deutsche Legionäre und französische Soldaten in Algerien gehaust haben. Und das Bild, das ich hatte, war: Der edle Westen, wir bringen denen Zivilisation, weil wir haben es ja auch im eigenen Land versucht zu machen. Und so machen wir das auch in anderen Ländern.

Und dann habe ich festgestellt, dass das gesamte Bild, das ich vom Nahen Osten hatte – also ich war in Marokko, ich war in Tunesien, während der Krise von Biserta, wo in einer Stadt, ich weiß nicht mehr, über tausend Menschen von Franzosen weggebombt wurden, die Stadt wurde evakuiert – so nicht stimmte. Da stellte ich zu meiner Überraschung fest, dass die Algerier nicht ein brutales Volk waren, sondern ein unglaublich herzliches, gastfreundliches, das mich überall sofort aufgenommen hat, eingeladen hat, untergebracht hat, und dass wir, die Edlen aus dem Westen, dort gehaust haben, also Fremdenlegionäre und französische Soldaten, wie man sich das hier gar nicht vorstellen kann.

Und in Paris, wo ich studiert habe, da war immer wieder von den “edlen Franzosen” die Rede und dass man denen dort in Nordafrika doch schließlich die Zivilisation beibringen müsste, weil die ja nie eine gehabt hätten.

Über den Kolonialkrieg in Algerien und seine üblen Seiten haben Freunde und ich in den sechziger Jahren in München eine Ausstellung gemacht. Wie Frankreich und der Westen mit den arabischen Völkern umging, war typisch für das, was Sie in Ihrem Buch beschreiben: Arroganz und Brutalität.

In meinem 18. Lebensjahr habe ich die erste Reise gemacht in die arabischen Länder. Und heute bin ich 78, also das sind fast sechzig Jahre. Und in den sechzig Jahren habe ich eigentlich in erster Linie festgestellt, dass die Kriege unglaublich brutal waren. Und wenn ich nach Hause gekommen bin, nach Deutschland, habe ich immer gelesen: “Ja, wir machen das im Namen des Christentums, der Zivilisation, der Menschenrechte, der Demokratie.” Und mir fielen die Lügen, mir fielen die Unwahrheiten auf. Aber dass das eine durchgängige Strategie war, immer, wenn man tötete, zu sagen: “Das tun wir dir zuliebe, das ist eine humanitäre Aktion.” Wir haben ja eine eigene Sprache dafür erfunden, “humanitäre Kriege”, stellen Sie sich mal vor, humanes Totschlagen von Kindern.

In Ihrem Buch schildern Sie die Tötung von Menschen und die Zerstörung von Häusern. Sie schildern das Leiden einzelner Menschen, Sie sprechen mit Kindern mit amputierten Beinen und Kleinkindern, deren Körper voller Splitter stecken. Und bei uns tut man dann so, extrem im Falle Syriens, als würde das im Sinne der Menschenrechte sein.

Schauen Sie, ich habe mir gestern ein Interview angesehen, das ein bekannter deutscher Politiker als außenpolitischer Sprecher für die CDU/CSU-Bundestagsfraktion zum Fall Jemen abgegeben hat. Und er hat gesagt – ich kriege das sinngemäß einigermaßen noch zustande – wir hätten bei dieser Entscheidung, jetzt mal weitere sechs Monate keine Waffen an Saudi-Arabien oder fast keine Waffen an Saudi-Arabien zu liefern, letztwertig die konstruktive Rolle Saudi-Arabiens im Prozess berücksichtigen müssen. Das müssen Sie sich überlegen, die konstruktive Rolle!

Ich habe gestern mehrfach mit dem Jemen telefoniert. Ich habe im Süden des Jemen mit den offiziellen Vertretungen gesprochen – die südliche Regierung ist ja anerkannt, obwohl ihr Präsident in Saudi-Arabien lebt, der ist von allen vertrieben worden, den erkennen sie im Westen an, einen Mann, der in Saudi-Arabien lebt, erkennen wir als jemenitischen Präsidenten an. Und ich habe auch gestern mit Huthis telefoniert, ich habe mit anderen Nord-Jemeniten telefoniert, jeden Tag wird bombardiert, jeden Tag. Am 26. März wurden in der Nähe eines Krankenhauses, nur als Beispiel, sieben Personen getötet, darunter vier Kinder. Ich habe die Fotos, ich kann die nirgendwo unterbringen. Wenn ich so ein Foto bringe, wahrscheinlich, wenn ich einen Balken drübermache auf Facebook, überdeckt Facebook diese Bilder, wenn ich sie einem unserer Medium anbiete, wird das nicht gebracht; es sei denn, das seien Kinder, die von Russen getötet worden sind, dann wird das wahrscheinlich gebracht.

Und dann die absurde Diskussion. Ich bin auch FAZ-Leser. Und ich lese auch die Süddeutsche und ich lese viel in der Zeit und ich lese auch Ihre NachDenkSeiten. Ich habe in der FAZ gelesen, nachdem man jetzt nach mehreren Jahren Waffenlieferungen an die Saudis, die einen völkerrechtswidrigen Krieg im Jemen führen, nachdem man das jetzt mal für sechs Monate weiter gestoppt hat, das sei ein Sieg der Moral gewesen. Wir haben während des ganzen Krieges, der 2015 begann, den Saudis Waffen geliefert, die sie auch einsetzen, zum Beispiel Mörser und andere Dinge, über die breit berichtet worden ist. Das heißt, wir haben ein Land bei einem völkerrechtswidrigen Krieg, einem Angriffskrieg, mit unseren Waffen unterstützt. Das ist nach unserem Grundgesetz unzulässig und das ist schlicht und ergreifend so, denn in einem Angriffskrieg ist die Tötung Mord. Und wenn Sie einem Angriffskrieger Waffen liefern, begehen Sie Beihilfe zum Mord.

Und da schreiben diese unsere Medien, es ist nicht nur die FAZ, da schreiben die, ja, die Kritiker haben halt keine Ahnung von Interessenpolitik. Das war ein Sieg der Moral. Was ist das für eine Moral? Wenn ich zwei Jahre lang Beihilfe zum Mord begehe und dann sage: “Jetzt höre ich auf”, und zwar gar nicht wegen der armen Jemeniten. Sondern die haben aufgehört, weil der Knochensägen-Mord an Khashoggi so spektakulär und so schlimm war und so schlimm für die öffentliche Meinung war, dass die sich gesagt haben: “Jetzt entspricht es nicht mehr unseren Interessen, Waffen an einen Journalistenmörder zu liefern.“

Ja, aber dann müssen wir, Herr Todenhöfer, doch mal fragen, wir alten Typen …

Ich bin keine alte Type.

(lacht) … wir alten, erfahrenen Leute, die bis zum Jahr 1989/1990 verschiedene Wege gegangen sind, waren dann darin einig, dass es vernünftig war, den Konflikt mit der Sowjetunion zu beenden und sich zu versöhnen und zu vertragen. Damals waren sowohl Willy Brandt und seine politischen Freunde als auch Helmut Kohl und eine Reihe von führenden Personen in der CDU/CSU der Meinung, man könne und müsse eigentlich ohne Krieg und ohne Konfrontation auskommen.

Ich muss Ihnen aber in einem Punkt bitte widersprechen. Ich habe, das muss ich einfach zugeben, ich habe wie der größte Teil der CDU/CSU die Entspannungspolitik von Brandt am Anfang sehr kritisch gesehen.

Das weiß ich.

Und das muss ich der Ehrlichkeit halber einfach sagen. Die Gründe waren Gründe, die man heute auch manchmal bringt, ich habe gedacht, man dürfe mit einem Unrechts-Regime, wie das damals die sowjetische Führung war, nicht so kollegial und vertrauensvoll verhandeln. Dieser Vorwurf galt vor allem Bahr und Brandt; Bahr, den ich dann später sehr gut kennengelernt habe, wir waren beide im Rüstungskontrollausschuss und mit ihm bin ich häufiger durch die Welt gereist als mit meiner Frau. Das war am Schluss dann ein richtig gutes Verhältnis. Aber vorher hatte ich halt die beschriebenen Vorbehalte gegen Verhandlungen mit einem Unrechts-Regime. Ich hatte mich geirrt. Das waren die Instinkte, die wir hatten, und die sind auch nachvollziehbar. Heute haben wir dieselbe Diskussion bei jeder Verhandlung mit einem Diktator.

Zwei Ereignisse, an denen sichtbar wird, wie verschieden Befürworter und Gegner der Entspannungspolitik reagiert haben, sind mir noch in guter Erinnerung. Am 21. August 1968 – ich war damals gerade Redenschreiber von Karl Schiller, dem Wirtschaftsminister, geworden – war ich zu einer Besprechung bei seinem Parlamentarischen Staatssekretär Klaus Dieter Arndt; er kümmerte sich um den Handel mit der DDR und anderen osteuropäischen Ländern. In diese Besprechung platzte die Nachricht, der Warschauer Pakt habe unter Führung der Russen in der Tschechoslowakei militärisch interveniert – gegen die Reformkommunisten um Dubcek. Die Reaktionen waren sehr verschieden. Die Sprecher der CDU/CSU riefen, das müsse das Ende der Entspannungspolitik sein. Klaus Dieter Arndt sagte zum Abschluss einfach und sehr bewusst: “Komm, wir machen weiter.”

Eine ganz ähnliche Situation dann noch einmal 1979 und 1980: die Sowjetunion marschierte in Afghanistan ein. Der CSU-Vorsitzende und kommende Kanzlerkandidat Franz Josef Strauß rief, das müsse jetzt endlich das Ende der Entspannungspolitik sein. Wir, die Planungsabteilung des Bundeskanzleramtes, haben den damaligen Bundeskanzler Helmut Schmidt mit einer Studie in seiner Haltung unterstützt, dass es für uns hier in Mitteleuropa keine Alternative zur Fortsetzung des Dialogs mit der Sowjetunion gäbe. Wenn ich recht weiß, waren Sie damals schon mit Afghanistan befasst und haben es wahrscheinlich nicht gut gefunden, dass die deutsche Bundesregierung nicht massiv gegen die Russen interveniert hat.

Ja, Jein. In den Jahren danach war ich rüstungskontrollpolitischer Sprecher der CDU/CSU, der Opposition. Und in dieser Funktion habe ich mehrere Reisen in die Sowjetunion gemacht, nach Moskau. Und da profitierten wir alle von den Kontakten, von den vertrauensvollen Kontakten, von den Gesprächskanälen, die Willy Brandt und Egon Bahr damals geschaffen hatten. Ich habe ein langes Gespräch beim Mittagessen mit dem russischen Generalfeldmarschall Sergei Akhromeyev gehabt. Wir wurden fast Freunde, immerhin so weit Freunde, dass er um ein zweites Gespräch bat und ein halbes Jahr später trafen wir uns wieder zum Mittagessen.

Die Entspannungspolitik stand damals auf dem Prüfstand. Nicht nur Strauß erklärte, es müsse Schluss damit sein; der Koalitionspartner und Vizekanzler Genscher sprach mit dem Oppositionsführer Helmut Kohl. Genscher wollte im Frühjahr 1980 aus der Koalition raus. Dann gab es einen entscheidenden Landtagswahlkampf in Nordrhein-Westfalen. In diesem Landtagswahlkampf machte die SPD die Friedenspolitik zum Knackpunkt. “Nie wieder Krieg” stand zum Beispiel über einer halbseitigen Anzeige. Die FDP blieb mit 4,999 Prozent vor der Tür des Landtags; die Entspannungspolitik war gerettet. Dem damaligen Bundeskanzler Schmidt hat die militärische Intervention der Sowjetunion in Afghanistan auch nicht gefallen. Er hat trotzdem gesagt: “Wir müssen weitermachen”. Was Sie geschildert haben, nämlich: “Diese innere positive Entwicklung in Russland, die müssen wir weiter begleiten und unterstützen.” So ähnlich sollte man es heute eigentlich auch machen.

Ja, natürlich, ich kriege doch auf Russland keinen Einfluss oder Sie kriegen keine Chance, in Russland eine aus unserer Sicht positive Entwicklung zu mehr Freiheit, mehr Menschenrechten, mehr Pressefreiheit und Ähnliches zu erreichen, wenn Sie sie mit Sanktionen belegen. Sie kriegen eine Chance, wenn Sie mit ihnen reden. Aber Russland ist ein weites Feld. Bei Russland brauche ich nur auf den Globus, der hier neben mir steht, zu blicken und dann weiß ich, dass Bismarck, also ich denke mal gerade an einen ganz Großen, selbstverständlich sagen würde: “Wir brauchen eine strategische Partnerschaft auch zu Russland.” Aber es ist ja ein weites Feld.

Bei der Lektüre Ihres Buches wird einem klar: Die imperiale Grundtendenz im Westen wirkt tief in unsere Gesellschaft hinein, in die politischen Ränge und in die Medienränge und sogar in die Wissenschaft. Wie kommen wir da raus? Macht es Sinn, darüber nachzudenken und öffentlich zu debattieren, wie wir uns aus dem Einflussbereich der USA lösen könnten? Oder macht das gar keinen Sinn?

Ja, mein Vorschlag wäre, nicht sich aus dem Einflussbereich der USA zu lösen, sondern, ich habe das eben angesprochen, die strategische Partnerschaft zu den USA durch eine strategische Partnerschaft mit Russland zu ergänzen. Und dann haben sie schon eine ganz andere Machtbalance, das hat aber noch viele andere Vorteile. Wir dürfen auf jeden Fall nicht mehr Mitläufer bei Kriegen, bei völkerrechtswidrigen Kriegen der USA sein. Deutschland ist ja nicht die treibende Kraft bei Kriegen. Das muss man auch mal sagen. Ich muss jetzt auch mal kurz die Bundesregierung etwas in Schutz nehmen. Aber Mitläufer ist eigentlich fast genauso schlimm. Und wir laufen halt einfach mit.

Nehmen Sie die Rüstungsetats. Russland, ich nenne jetzt mal ganz grobe Zahlen, Russland hat in den letzten Jahren fast jährlich seine Rüstungsausgaben reduziert; der Rüstungsgüter liegt ungefähr bei 60 Milliarden Dollar. Amerika liegt bei 700 Milliarden Dollar. Europa liegt irgendwo bei 200-und-so-und-so-viel Milliarden Dollar. Deutschland nähert sich dem Umfang von zwei Drittel des russischen Rüstungsetats. Und wir sagen, wir würden militärisch von Russland, das seine Budgets ständig abbaut, aus wirtschaftlichen Gründen übrigens, wir würden von Russland bedroht. Und Trump sagt: “Ihr müsst mehr für Rüstung ausgeben.”

Wie sollen wir in dieser Konstellation eine strategische Partnerschaft mit Russland aufbauen?

Ja, gerade jetzt. Und wir bräuchten halt Politiker mit ein bisschen strategischer Phantasie, die sich nicht eingemauert sehen in ein Bündnis mit Amerika, das in einer bestimmten Zeit einen ganz großen Sinn machte auf das Sich-Festlegen auf den Westen, das machte zu einer bestimmten Zeit Sinn, aber es macht heute keinen Sinn mehr.

Dann sollten wir aber einer Wirklichkeit ins Auge blicken, die bitter ist: Offenbar ist der Einfluss der führenden Kräfte der USA und der NATO auf entscheidende Personen in Deutschland so groß, dass wir kein Stückchen weiterkommen. Die entscheidenden Leute werden an der Leine, am Band geführt. Sie haben vorhin den außenpolitischen Sprecher der CDU/CSU-Fraktion erwähnt. Ich könnte den außenpolitischen Sprecher der SPD-Bundestagsfraktion, Nils Schmid, nennen. Dieser wurde nach einer krachenden Niederlage als Spitzenkandidat in Baden-Württemberg auf den Berliner Posten nach oben befördert. Er ist abhängig und biegsam. In diese außenpolitisch relevanten Jobs kommen nur Menschen, die dem Westen hörig sind – angepasst an die Bedürfnisse der USA und der NATO.

Das gilt in ähnlicher Weise für die Medien. Der Bertelsmann-Konzern, der Springer-Konzern, Tagesschau und Tagesthemen, heute und heute journal vom ZDF – die sind doch alle im Einflussbereich der eigentlich Mächtigen des Westens. Wie wollen Sie gegen die Macht und den Charakter dieses Personals in Politik und Medien eine strategische Partnerschaft zu Russland aufbauen?

Aber inwieweit sind wir am Band? Ist das eine Verschwörung? Da sage ich Nein, sondern es ist der bequeme Weg, den viele Menschen, Politiker und Menschen in der Wirtschaft gehen. Ich habe gerade gelesen, was der Enders von Airbus von sich gegeben hat, da bin ich fast umgefallen. Man müsste mal mit dem Mann sprechen und sagen: “Hallo, wenn du sagst, endlich mehr Waffen, geh doch mal mit mir in ein Krankenhaus, wo die Opfer deiner Waffen und der von dir geforderten Waffenlieferungen sind.” Der Mensch neigt dazu, wie jedes Lebewesen, sich anzupassen. Und der Mensch neigt dazu besonders, da braucht es keine Verschwörung.

Ich spreche nicht von einer Verschwörung.

Nein, ich sage das nicht in Ihre Richtung. Der Mensch neigt dazu, sich anzupassen. Und er passt sich am liebsten an. Und da der Mächtigste nun mal Amerika ist und wir von Amerika jahrzehntelang richtig abhingen, hat man sich so daran gewöhnt und es ist so angenehm, sich an Amerika anzupassen. Und das machen Politiker, die keinen eigenen klaren Standpunkt haben, die eben leider nicht sagen: “Meine Aufgabe ist nicht, mich anzupassen, sondern meine Aufgabe sind die Interessen meines Landes zu wahren.” Und manchmal darf ich mich halt nicht anpassen. Und manchmal muss ich den eigenen Weg gehen. Und diese Anpassung machen leider, ich sage nicht alle, es sind wirklich nicht alle. Ich lese bei Ihnen, ich lese bei Rubikon, ich lese bei Regionalzeitungen und auch manchmal im Fernsehen Kommentare. Also die Frau, die den außenpolitischen Sprecher der CDU/CSU interviewt hat, Dunja …

… Hayali …

… hat die richtigen Fragen gestellt und hat sie frech gestellt, davon abgesehen, welche Meinung sie vertritt. Es gibt sehr viele mutige Journalisten. Aber ein Großteil passt sich an aus Gewohnheit, weil da kommst du halt weiter und du liegst im Trend.

Ich lese zurzeit drei Bücher, ein neues, „Eine kurze Geschichte von fast allem“, von Bill Bryson, ein anderes ist von dem Israeli Harare, „Eine kurze Geschichte der Menschheit“. Und das dritte ist Nietzsches Zarathustra, weil ich gerade in den Bergen bin. Zarathustra sagt: “Aber am meisten hassen sie die, die ihre Tafeln der Werte zerbrechen.” Und das trauen die sich nicht.

Ich habe die Politik Amerikas lange auch falsch eingeschätzt, die offizielle Politik. Die Amerikaner selbst sind genauso sympathische Menschen wie andere auch.

Ja, klar.

Aber ich habe damals die sowjetische imperialistische und expansionistische Politik sehr kritisch gesehen und habe in dieser Auseinandersetzung übersehen und nicht ausreichend geschätzt, dass die Amerikaner eine systematisch-aggressive Politik seit, ja, seit langem, wie die Europäer davor genauso systematisch und genauso brutal, machen. Das habe ich unterschätzt. Und dass sich Politiker anpassen, ist das eine. Die kommen damit ja vorwärts. Aber dass sich Journalisten anpassen, darf nicht sein in einem freiheitlichen System.

Ja, aber wenn doch die Strukturen so sind. Also wir beide unterscheiden uns hier fundamental. Ich halte es nicht für Zufall, dass der vorhin von mir erwähnte Nils Schmid wider Erwarten die Treppe zum außenpolitischen Sprecher der SPD-Bundestagsfraktion hinaufgefallen ist. Er ist dafür ausgesucht worden. Und Ihr früherer Parteikollege Röttgen ist auch dafür ausgesucht. Und andere waren das früher. Versetzen Sie sich doch einmal in die Situation des Chefs der CIA oder der Leute, die die Sicherheitspolitik der USA planen und machen. Wie man jetzt in Süd- und Mittelamerika sehen kann, bauen die doch systematisch personelle Strukturen auf; so haben sie auch systematisch ihr Netz in den deutschen Medien angelegt, von der Tagesschau bis zur Zeit und der FAZ und so weiter.

Ähnlich haben sie es mit wichtigen Personen der deutschen Parteien angestellt. Sie haben den Joschka Fischer übernommen, haben die Außenpolitik der SPD bestimmt, sodass diese genuine Partei der Entspannungspolitik davon weggerückt ist und jetzt quasi jeden Krieg mitmacht. Die Grundlage des US-Einflusses sind feste personelle Strukturen. Und dann wird halt einer wie der jetzige Botschafter der USA nach Berlin geschickt, damit er aufpasst, dass ja niemand aus diesem Netz herauswill oder ausbricht. Das ist doch eine schreckliche Situation; was politisch geschieht und gewollt wird, hängt nicht vom guten Willen dieser Leute ab.

Also, ich bin ja glücklich, dass wir endlich einen Dissens haben. Sie sind der Auffassung, dass dieses Netz eine feste Struktur hat und dass da Leute den Auftrag haben und auch gelegentlich einen Anruf bekommen: “Macht mal das, sagt mal das.”

Ja.

Und ich sage, das braucht man nicht, jeder weiß, wir sagen im Bayerischen, “Wo der Barthel den Moscht holt, wo der Barthel den Most holt”, jeder weiß, wer der Mächtige ist. Und wenn Sie in einem großen Konzern sind und der Vorstandsvorsitzende trägt eine Krawatte, dann trägt der Großteil der Mitarbeiter auch eine Krawatte. Das ist Anpassung und ich sage, die Macht ist so mächtig, dass sie gar keine Befehle geben muss, das wird vorweggenommen.

Richtig, die sind so ausgewählt und so opportunistisch, dass sie sich daran halten.

Sie müssen niemanden auswählen. Man hält sich daran, man weiß es. Also ich kann nur sagen, ich war 18 Jahre lang Mitglied der CDU/CSU und weitgehend immer in einer exponierten Sprecherrolle. Man hat nie versucht, Einfluss auf mich zu nehmen. Das hätte auch ganz heftige Konsequenzen gehabt, weil das habe ich nie akzeptiert. Und man braucht es nicht. Man weiß, wer der Verbündete ist, man weiß, wer der Mächtige ist, und danach richtet man sich. Und wenn ich Dinge falsch fand, und ich habe auch damals Dinge falsch gefunden, dann habe ich die einfach ausgesprochen und dann gab es eher mal innerhalb der eigenen Fraktion Krach.

Aber der Mensch passt sich an. Und das ist ja das viel Gefährlichere. Sie können nicht hingehen und einem sagen: “Du bist in der Atlantikbrücke und deswegen”, das ist nicht deswegen. Die richten sich nach der Macht. Und wenn du auf der Seite der Macht bist, sind deine Chancen, Karriere zu machen, zu überleben, die sind einfach besser. Du kriegst auch keinen Ärger. Ich habe mich an die Seite – das klingt jetzt ein bisschen pathetisch – ich habe mich an die Seite der Ohnmächtigeren, an die Seite der Ohnmächtigen gestellt. Und da, wo es zur Verteidigung von Minderheiten erforderlich war oder zur Verteidigung – jetzt nehme ich mal ein ganz großes Wort, nehme ich nicht für mich in Anspruch, aber für eine Sache – wo es zur Verteidigung von Gerechtigkeit oder zur Vermeidung von Kriegen und zur Vermeidung von brutalen Sanktionen, die zum Beispiel den Iran ins Elend stoßen, da, wo es nötig war, sich dagegen aufzustemmen, habe ich mich gegen die Macht gestemmt. Und da weiß man einfach vorher, dass das schwierig ist und dass dann, und das ist ja auch der Grund für die Anpassung, dass dann die Macht reagiert. Da kriegen Sie ganz unangenehme Reaktionen.

Ich habe vorhin Bill Bryson erwähnt. Bill Bryson ist ein Mann, der die Geschichte unseres Universums erzählt, vor allem physisch, die Karrieren von Physikern und Chemikern und Geologen und so weiter. Und da finden sich einfach ganz interessante Sachen. Da setzt sich ein großer Forscher, der entdeckt hat, dass Blei, wenn man das dem Benzin beimischt, dazu führt, dass die Motoren nicht mehr klopfen. Also hat man Blei beigemischt. Und jetzt entdeckt dieser Forscher, dieser berühmte, große Forscher, entdeckt, dass Blei tödlich wirkt, wenn man mit Blei in Berührung kommt, das ist eines der mörderischsten Elemente, die es gibt. Dann fängt er an, darüber zu schreiben. Da verliert er als erstes seine Forschungsmittel, dann verliert er seinen Lehrstuhl, der hat alles verloren. Das ist einfach so.

Wenn Sie sich gegen die Macht stellen, wehrt sich die Macht. Das muss man wissen, da darf man sich auch gar nicht drüber beschweren. Ich beschwere mich deswegen auch nicht. Und wenn Sie fragen, was kann man machen, müssen Sie erstens aufklären, das machen Sie. Also ich versuche das mit meinem Buch auch, ich zeige einfach, was ist im Irak los, was ist im Jemen los, was ist in Gaza los und und und. In all diesen Ländern. Ich zeige es, ich gehe hin, ich beschreibe Schicksale. Das erste ist diese Aufklärung und das zweite ist, was Sie auch machen, dass wir für ein Modell plädieren, das heißt einfach, also für mich heißt das im weitesten Sinne Humanismus, dass wir für die Werte von Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit, ich nenne mal diese drei, dass wir dafür eintreten, dass sie eben nicht nur im Westen gelten, wo sie ja auch noch unvollkommen sind, sondern dass sie für alle Menschen auf der Welt gelten.

… und dass Krieg nicht die Lösung ist …

Und Rassismus auch nicht. Das ist die Konsequenz, wenn man humanistisch denkt. Und man kann jetzt unterschiedlicher Meinung sein zu diesem kleinen Mädchen, das durch die Welt reist und als Umweltstar gefeiert wird. Aber es zeigt doch, dass etwas geht. Warum gehen wir – also jetzt ist diese Entscheidung für Waffenexporte an Saudi-Arabien um sechs Monate verschoben worden – warum machen wir zwei Wochen vorher oder drei Wochen oder eine Woche vorher nicht eine große Demonstration in Berlin? Was so ein kleines Mädchen kann, können wir Erwachsene doch auch!

Ja, ist das so?

Wir gehen nicht mehr auf die Straße, wir stehen nicht mehr auf. Es gibt mal irgendwo eine kleine Demo in irgendeiner kleinen Ecke. Und dann muss man auch mal schauen, wen man in Deutschland alles zusammenkriegt, eher für ganz einfache Sachen eigentlich.

Es tut mir leid, ich bin skeptischer. Wir haben gesehen, was mit der Friedensbewegung los ist. Heute wird sofort versucht, eine solche Bewegung wie etwa gegen Ramstein und den Drohneneinsatz zu spalten. Jene, die im Hintergrund die Fäden ziehen, sind schlauer geworden. Sie schicken zum Beispiel dann solche mit einem linken Image wie die Antideutschen gegen eine aufkeimende Friedensbewegung. Sie sehen das an den Zahlen. Nach Ramstein kommen ein paar 1000 und nicht 300.000 wie in den Bonner Hofgarten. Bruchteile. Die Friedensbewegung ist gespalten – von einer Kriegsfraktion. Diese Strukturveränderung muss man beachten.

Das haben Sie sehr gut ausgedrückt, die gibt es, ja. Unser Land verändert gerade seinen Charakter und macht dem Herrn Gauck den Gefallen, dass eine starke Demokratie und ein starker Rechtsstaat dann halt auch mal zu den Waffen greifen muss. Und zwar nicht zur Verteidigung, sondern irgendwo in anderen Ländern.

In Sachen Krieg und Frieden haben sich die Strukturen, das politische Personal und die Medien, sehr verändert. Wo bleibt die Hoffnung?

Also ich fand ja besonders wichtig, dass ein Mann, der 16 Jahre lang Leiter der Rechtsabteilung des Verteidigungsministeriums war, bis Ende September vergangenen Jahres, dass der in einem FAZ-Artikel schreibt: Ein Teil unserer Militäreinsätze im Ausland ist völkerrechtswidrig. Und er sagt, wir biegen uns das Grundgesetz einfach so zurecht und der Bundestag stimmt zu. Dass das nicht zu einem Aufschrei führte, zu einem Aufschrei im Parlament, weil da die Linken, also ich bin nun wirklich kein Linker, aber weil da die Linken völlig isoliert sind, die Grünen nichts mitmachen. In jedem echten demokratischen Staat würde das zu einem Untersuchungsausschuss führen. Der Einsatz im Irak als Luftaufklärung und der Einsatz in Syrien als Luftaufklärung, die Beteiligung an der Vernichtung von Mossul, all das ist verfassungswidrig. Das sagt der Chefjurist des Verteidigungsministeriums. Das müsste einen Aufschrei geben – und nichts gibt es.

Ich wollte noch auf eine Einzelheit Ihres Buches zurückkommen, auf ein Ereignis und eine besondere Leistung, die dann leider nicht zum Erfolg führte. Ich meine den Friedensplan von Präsident Assad. Sie waren bei ihm. Er hat einen Friedensplan für Syrien notiert. Dieser enthält auch das Zugeständnis, dass der Frieden möglicherweise Folgen für seine persönliche Macht haben könnte und müsste. Also das ist ein relativ weitgehender Vorschlag gewesen.

Er ging so weit, dass ich gefragt habe, ob er das wirklich unterschreiben wolle.

Und Sie haben das dann über Herrn Schäuble an Frau Merkel transportiert?

Ja, über Schäuble, weil ich bei ihm war, das war an Weihnachten …

Lassen wir mal beiseite, dass ich Herrn Schäuble anders einschätze als Sie, aber Sie kennen ihn besser.

Darf ich da nur eins sagen?

Ja, klar.

Schäuble hat mir bei allen Versuchen, bei Konflikten zumindest als Bote – er macht das ganz bescheiden, als Bote gelegentlich, wenn zwei Krisen- oder Gegenparteien nicht mehr miteinander sprachen – als Bote Friedensangebote zu überbringen, war er der, der mir immer geholfen hat. Immer, zum Beispiel hat Schäuble Kontakte hergestellt zu der amerikanischen Regierung, zum Weißen Haus.

Okay. Kommen wir zurück zum Friedensplan von Herrn Assad. Kann man unsere Bundeskanzlerin so falsch einschätzen, wie Assad das getan hat, als er erwartete, dass sie in Sachen Syrien vermitteln könnte? Angela Merkel hat die Sanktionen und die Blockade gegen Syrien mitgemacht, sie war besonders aktiv in der Flüchtlingspolitik und hat mitgewirkt beim Versuch, Syrien personell ausbluten zu lassen. Unter der Führung Merkels hat Deutschland die militärischen Interventionen im Irak und letztlich auch in Syrien mitgemacht. Über die Fehleinschätzung ihrer Person durch den syrischen Präsidenten kann ich mich deshalb nur wundern.

Sie hat bei Libyen nicht mitgemacht.

Sie hat bei der Intervention in Libyen nicht mitgemacht, okay. Ich weiß nicht, ob man nicht eher Herrn Westerwelle die Entscheidung, nicht mitzumachen, zugutehalten kann, darüber will ich jetzt auch nicht streiten. Aber die gesamte Propaganda zu Syrien, die Sprachregelung, die in allen Medien und von nahezu allen Politikern genutzt wird – „Assad der Schlächter, der Fassbomben auf die eigenen Kinder wirft“ – das war und ist eine erkennbar festgelegte Propagandalinie. Und dies alles hat Frau Merkel mitgemacht. Wie kann der Präsident von Syrien die deutsche Bundeskanzlerin so falsch einschätzen? Bei richtiger Einschätzung hätte man vorhersagen können, dass das mit dem Friedensplan nichts wird.

Jein.

Jein, okay. (lacht) Okay, das ist ja auch nicht der Hauptpunkt.

Ja, aber es gilt, das ist ja das Phänomen, dass Deutschland seine Rolle falsch einsetzt. Unsere Bundesregierung glaubt, dass sie nur in Europa im Führerhäuschen sitzt und dass sie in den anderen Gebieten, also zum Beispiel im Nahen, im Mittleren Osten und so weiter, eben nicht im Führerhäuschen sitzt, sondern letztlich die Politik der Amerikaner zu machen hat. Das ist eine völlige Fehleinschätzung. Deutschland ist heute so einflussreich, in einem positiven Sinne einflussreich als Wirtschaftsmacht, ich sage sogar, auch als moralische Macht im Vergleich mit den USA so einflussreich, dass die eigentliche Rolle Deutschlands heutzutage die des Vermittlers, des ehrlichen Maklers sein könnte.

Die Deutschen wurden von den Iranern um Vermittlung gebeten, schon vor vielen Jahren, als dieser Atomdeal gar nicht vorwärts kam und nichts vorwärts ging und die Iraner sagten: “Hallo, wir wollen unser Verhältnis zu Amerika verbessern”, da war ihr Wunschgesprächsvermittler immer Merkel. Deutschlands Rolle wäre, was Bismarck einmal gesagt hat, die des ehrlichen Maklers. Und im Mittleren Osten ist das Ansehen der Deutschen so groß, dass die dort einfach denken: “Hallo, die könnten doch eine Lösung finden.” Und natürlich ist Assad ein absolut gnadenloser Diktator, zumindest ist er zum absolut gnadenlosen Diktator geworden.

Und in Bürgerkriegen, das ist ja die Tragödie von Bürgerkriegen, tötet, und das ist auch richtig, eben nicht nur eine Seite, sondern töten beide Seiten das eigene Volk. Auch Lincoln hat im Amerikanischen Bürgerkrieg das eigene Volk getötet. Das ist ja gerade die Tragödie des Bürgerkrieges. Also, ja, das war eine sehr einseitige Polemik und bei Bürgerkriegen – und ich habe den Bürgerkrieg in Syrien von Anfang an miterlebt, ich habe viel mehr Gespräche mit Rebellen geführt – da kämpften am Schluss Brüder gegeneinander, enge Freunde, Arbeitspartner schlugen sich den Schädel ein. Und da kann ich nicht mehr sagen, nur die eine Seite ist böse. Carla Del Ponte hat ja dann auch gesagt: “Am Anfang war es einfach, da gab es einen Guten und einen Bösen.” Am Schluss, als sie dann ging, sagte sie: “Es gibt nur noch Böse.”

Dann lassen wir das mal so stehen. Also leider ist aus diesem Friedensplan nichts geworden. Sehen Sie noch Ansätze, dass man in Syrien zu einem friedlichen Ende kommt?

Da ist nichts draus geworden, weil es wie üblich lief: Das Kanzleramt oder der Sicherheitsberater der Kanzlerin rief beim Sicherheitsberater oder der Sicherheitsberaterin von Obama an. Und wenn die “Nein” gesagt haben, und die haben in der Regel zu jeder Friedensinitiative Nein gesagt, haben die Deutschen aufgehört. Das ist nicht gut, dazu haben sie nicht das Recht, denn die Kanzlerin ist nicht Kanzlerin Amerikas, sondern die Kanzlerin Deutschlands. Im Interesse Deutschlands und beispielsweise im Interesse der Lösung der Flüchtlingsproblematik und des Terrorismus hätte es im Interesse Deutschlands und auch der Menschlichkeit und des Friedens gelegen, nicht locker zu lassen.

Gut, hier wie beim Umgang mit Russland gibt es meines Erachtens mehr Freiheitsgrade, als die deutsche Bundesregierung nutzt, etwa bei Sanktionen.

Viel, viel, viel mehr. Wir haben viel mehr Bewegungsspielraum, als unsere Bundesregierung in Anspruch nimmt.

Zurück zu Ihrem Buch „Die große Heuchelei“.

Das Plädoyer dieses Buches ist klar ein humanistisches Plädoyer. Aber es ist auch ein Plädoyer im Interesse Deutschlands, weil die drei Folgen, wenn wir diese Politik weiterführen, dass wir ausschließlich meistens kurzsichtige Interessen verfolgen und dabei mit äußerster Brutalität über die Interessen anderer Völker hinweggehen, dann wird dasselbe passieren, was uns in Europa jahrhundertelang passiert ist, eigentlich fast, ja, immer mit kleinen Unterbrechungen. Wir werden, ich habe da auch mit vielen Historikern gesprochen, wir werden alle Katastrophen unserer Geschichte wieder erleben.

Man kann jetzt sagen: “Ah, was soll uns denn Syrien tun?” Klar, was soll ich denn Syrien tun? Früher haben wir mal gesagt: “Was soll uns denn Frankreich tun?”, als wir Frankreich kurz und klein gehauen haben. Und Krieg ist ein Bumerang. Und wir werden alle Katastrophen unserer Geschichte wiedererleben, wenn wir andere Völker, wenn wir die Interessen anderer Völker vergewaltigen. Und das sind ja nicht nur kleine Völker.

Ich habe in meinem Buch ja auch beschrieben, wie Engländer und Franzosen, und später mit Unterstützung der Amerikaner, China überfallen, brandschatzen, vergewaltigen, weil China nicht genug Opium importieren wollte. Das muss man sich vorstellen. Diesen Vorgang haben in Deutschland 99,9 Prozent der Leute vergessen oder noch nie davon gehört. Wir haben das chinesische Volk überfallen, wir haben seine Hauptstadt angezündet, wir haben ihnen zur Strafe Hongkong abgenommen. Manche denken immer noch: “Was wollen die denn, wieso wollen die denn dem armen Hongkongern Hongkong wegnehmen?” Weil wir es ihnen weggenommen haben, weil die nicht genug Opium eingeführt haben. Zu China zitiere ich einen alten Satz eines deutschen Bundeskanzlers: “China, China, China”. Wir gehen hin und halten denen Vorträge über Menschenrechte und haben die Menschenrechte der Chinesen in brutalster Weise mit Füßen getreten.

Sie ordnen in ihrem Buch historische Ereignisse glaubwürdig ein. Damit gelingt es ihnen, den Lesern und Leserinnen klarzumachen, wie falsch unsere Vorstellung ist, wir seien die Wertvollen und die Guten und die anderen seien es nicht. Auch für den Vergleich der islamischen Welt und ihrer Leistungen mit dem, was wir im Westen geleistet und uns geleistet haben, ist die Lektüre Ihres Buches ausgesprochen anregend. Von den Kreuzzügen über die Eroberung Amerikas bis zu den Kriegen der Neuzeit – was der Westen, was wir uns geleistet haben, ist deprimierend.

Wenn wir diese Politik fortsetzen – manche behaupten ja, sie sei erfolgreich – da kann ich nur sagen: Wo ist die erfolgreich? Überall ist alles kaputt und überall bauen wir uns Feinde auf. Und es hat eine zweite Folge, wir machen unsere Demokratie kaputt. Ich habe Ihnen vorhin gesagt, viele Menschen ahnen, dass sie angelogen werden. Sie wurden angelogen im Falle der Intervention in Afghanistan, sie wurden angelogen im Fall Libyen, sie wurden angelogen beim Irak, sie wurden angelogen bei Syrien, sie wurden angelogen im Falle des Jemen, sie wurden angelogen im Blick auf Gaza. Sie werden immer angelogen und man erzählt ihnen üble Geschichten.

Zum Beispiel zu Afghanistan; da hat man uns erzählt: “Wir gehen dahin, um afghanischen Mädchen den Schulbesuch zu ermöglichen und um Brunnen zu bauen.” Wenn ich den Menschen völlig falsche Kriegsgründe nenne, mache ich ihre Beteiligung an der demokratischen Willensbildung unmöglich. Das heißt, Demokratie findet in der Außenpolitik nicht einmal in Ansätzen statt. Man kann nicht einmal bei einer Wahl darauf antworten. Dann müsste die Diskussion so laufen: “Bist du dafür, dass Schulmädchen in Afghanistan in die Schule gehen oder bist du dagegen?” Das zerstört die Demokratie und die Folgen sehen wir doch.

Viele junge Leute gehen nicht mehr zur Wahl, andere sind derart zynisch geworden, dass sie jetzt Parteien wählen, die offen antidemokratisch sind, die zusätzlich nationalistisch sind, die populistisch sind, die rassistisch sind. Also ich muss Ihnen ja keine Parteien nennen. Auch Trump wäre nicht möglich gewesen, ohne die Regierung davor und die Heucheleien einer Frau Clinton; dass ein Obama ständig vom Frieden sprach und einmal in der Woche oder mehrmals in der Woche in so einen Spezialraum im Weißen Haus ging und dort Namen abgezeichnet hat, die dann per Drohnen …

… ermordet wurden …

… dass er massive Truppeneinsätze in Afghanistan befohlen hat und und und.

Dass Sie die übliche Zäsur von Clinton zu Trump nicht mitmachen, ist erfrischend aufklärerisch. Trump ist der Böse, alles andere davor war das Gute. Das ist die Geschichte, die uns normalerweise erzählt wird. Bei Ihnen liest sich das zurecht anders.

Und der dritte Punkt, das ist der humanitäre Punkt. Ich finde, wenn man sich überlegt, welche Aufgabe haben wir. Unsere Aufgabe ist sicher nicht die, das Leid auf der Welt zu vermehren, sondern mitzuhelfen, dass das Leid auf der Welt verringert wird. Mit der Politik erhöhen wir ununterbrochen in kaum darstellbarem Maße das Leid in unserer Welt. Und dann kann man ja sagen: “Was würden Sie denn machen?”, die Frage beantwortet ja auch das Buch. Ich glaube, der Grundsatz muss sein, wir sollten andere Völker so behandeln, wie wir selbst behandelt werden wollen. Und zwar im Ausland wie im Inland.

Wenn ich so behandelt werden möchte, wie Migranten in Deutschland behandelt werden, möchte ich das? Möchte ich bestimmt nicht. Es ist ja keine große Forderung, wenn man sagt, behandle andere Völker und Kulturen so, wie du selber behandelt werden willst. Und wo du Interessen verfolgst, die die Interessen anderer Völker nicht mitberücksichtigen, dann bitte aussprechen und den Menschen keine Werte vorheucheln. Ich befürchte, dass unsere Zivilisation eines Tages als die heuchlerischste Zivilisation aller Zeiten in die Geschichte eingeht.

Herr Todenhöfer, wenn jetzt die westliche Führungsmacht entscheidet, weiter die Absicht zu verfolgen, einen Regime-Change in Russland herbeizuführen, und wenn, wie viele Quellen schon sagen, diese Kriegsvorbereitung läuft, wo wäre denn dann unsere Rolle, wenn wir sagen, wir wollen anderen Völkern nicht angedeihen lassen, was wir uns nicht angedeihen lassen wollen? Und spielen wir diese Rolle, fallen wir denen in den Arm, die den Krieg vorbereiten?

Unsere Rolle in der Politik der Zukunft muss die des Vermittlers sein, ohne Wenn und Aber. Und zweitens, unsere Rolle muss sein, zu sagen: “Nie mehr Krieg und nie mehr Rassismus.” Ich erweitere also diesen Satz auch noch mal. Und ich glaube übrigens nicht an Kriegsvorbereitungen der USA gegen Russland.

Glauben Sie nicht?

Nein. Nein, das ist die übliche Strategie, wie man mit Gegnern umgeht. Ein Land, das imperial denkt, lässt nicht zu, dass ein anderes Land hochkommt. Also muss man schauen, dass China negativ dargestellt wird und dass Russland negativ dargestellt wird. Und das macht man, indem man diese Länder dämonisiert und ihre Führung dämonisiert. Und die wird solange dämonisiert, bis man mit den Leuten nicht mehr sprechen kann. Man hat das erreicht bei Gaddafi, der nun wirklich kein Vorbild für jemanden sein muss, man hat es erreicht bei Saddam Hussein, man hat es erreicht bei Erdogan und Putin. …

Ja, aber das hat doch Folgen.

Die werden doch alle bis zu einem gewissen Grad dämonisiert.

Es geht ja nicht nur ums Dämonisieren. Ich möchte eine Erfahrung von uns allen und einen Gedanken einführen: der Grundgedanke der Entspannungspolitik lautete: “Wir wollen die Konfrontation abbauen, damit sich dort bei den anderen etwas zum Positiven ändern wird.” Wandel durch Annäherung ist die Parole. Jetzt beobachten wir seit Jahren, im Kern seit 1991, dass dieser Spruch missachtet wird. Wir beachten nicht, dass die Konfrontation, die wir neu aufgebaut haben und pflegen, spätestens mit Beginn des Kosovo-Krieges, dass die neue Konfrontation zu einem eher tödlichen inneren Wandel im Osten führen kann. Das ist doch die hochriskante Situation, in der wir heute sind.

Wir haben das, was Kern der Entspannungspolitik war, nämlich Vertrauen aufzubauen, missachtet und stattdessen Misstrauen gesät. Spätestens seit der Rede Putins im Deutschen Bundestag im September 2001 hätten wir das merken müssen. Wir sind darauf nicht eingegangen. Und wir haben oft die ausgestreckte Hand zurückgeschlagen. Und dann glauben wir, dass dies in Russland keine Rückwirkungen haben wird. Diese wird es aber haben, das ist meine große Sorge. Und dann kommen die Sprüche amerikanischer Feldherren dazu oder von NATO-Leuten, die ganz offen davon sprechen, dass sie das und das und das jetzt machen, damit man im Erstschlag erfolgreich ist.

Ich würde ja gerne so stehen lassen, dass Sie die Sache optimistischer sehen.

Nein, ich sehe es nicht weniger kritisch; ich halte es für eine ganz problematische Politik, ich glaube nur nicht, dass dahinter ein großer Plan steckt. Ich glaube, dass dahinter ein großer Instinkt steckt, der Machtinstinkt: Lass die andern nicht hochkommen. Und eines der besten Mittel dazu ist, sie zu dämonisieren und dann werden Sanktionen verhängt. Es werden ja sogar Sanktionen teilweise gegen deutsche Firmen verhängt, man muss sich das mal überlegen, was da stattfindet. Und das alles im Namen unserer großen Werte. Und keiner sagt: „Das ist schmutzige Interessenpolitik, sondern wir machen das alles für Demokratie, Freiheit, Brüderlichkeit.” Und ja, wir machen es halt.

Wie Sie dem Buch entnehmen können, habe ich ja ganz viele prominente Amerikaner gefragt, die sollten mir ihre Politik im Mittleren Osten erklären. Das konnten sie alle nicht, die haben alle nur gelacht, ob das jetzt Murdock oder der Chefkoordinator der Geheimdienste unter Obama oder ob das Sulzberger, der Verleger der New York Times, war. Die haben alle gesagt: “Nein, Strategien haben wir nicht, haben wir nicht.” Sie haben einen Instinkt, einen Machtinstinkt. Und der heißt: “Wer mit uns kooperiert, der ist gut. Und wer nicht mit uns kooperiert, wer einen anderen Weg geht, wie etwa Russland, China, Iran, Syrien, ist böse und schlecht.”

Die Politik geht nach diesem Grundinstinkt. Und wer glaubt, die Amerikaner hätten irgendeinen ausgetüftelten Plan, überschätzt sie. Sie haben einen Plan, der heißt: “Die Welt gehört uns. Wir sind die Nummer Eins, Second to None. America first”, und all diese Sätze. Und danach sind alle die, die das nicht mitmachen, die Bösen. Und die, die es mitmachen, sind die Guten. Und die Diktatoren zum Beispiel, die die amerikanische Politik unterstützen, die finden die Amerikaner klasse. Gegen diese protestiert auch die deutsche Bundesregierung nicht, gegen die protestiert keiner.

Die ganz großen Monarchien sind Diktaturen. In Asien, in Zentralasien, überall haben wir Diktatoren, mit denen wir fantastisch zusammenarbeiten. Wer mit uns zusammenarbeitet, ist gut, und wer nicht, ist schlecht. Und Russland, ja, man kann nicht immer sagen, dass Russland gegen Amerika arbeitet. Russland ist betrogen worden nach der Wiedervereinigung. Russland verringert seinen Rüstungsetat, wir erhöhen den Rüstungsetat. Es ist einfach der Versuch, einen Gegner kleinzumachen. Das heißt nicht, dass Russland alles richtig macht, und das heißt nicht, dass alle Entwicklungen in Russland gut sind. Die sind nicht alle gut.

Und wenn wir Einfluss darauf nehmen wollen, wie Willy Brandt das getan hat und Helmut Schmidt es später auch getan hat, dann müssen wir mit den Russen im Gespräch bleiben, in einer ganz anderen Form von Gespräch.

Die Selbstgerechtigkeit jener, die auf Regierungs- und Politikwechsel in anderen Ländern zielen und dafür auch Gewalt anwenden, ist beachtlich. Ohne Zweifel ist in Russland vieles nicht in Ordnung. Aber bei uns im Westen vieles auch nicht. Großbritannien täte ein Regime Change gut, auch den USA. Welche Rolle spielen denn die Arbeiter Mittelenglands in der Politik Großbritanniens, würde man fragen müssen, wo bleibt da ein Stück Gerechtigkeit?

Man könnte auch fragen, welche Rolle spielen in Deutschland alte, kranke, vereinsamte Menschen?

Zum Schluss möchte ich noch eine Anmerkung machen. Schauen Sie, man hat ja, wenn man so ein Buch schreibt, an dem ich zwei Jahre geschrieben habe und teilweise monatelang mit einer 100-Stunden-Woche, die Wochenenden durch, morgens um sechs aufstehen, um acht an meinen Sohn abliefern, dann hat der das in der Nacht überarbeitet und morgens um sechs ging es weiter. Und ich weiß natürlich auch, dass es ein Buch gegen den Strom ist und dass ich mich mit den Mächtigsten anlege.

Und was ist das Ziel, warum schreibt man so etwas, warum schreiben Sie solche Artikel wie in den NachDenkSeiten? Natürlich möchte ich aufklären, das ist der allgemeine Begriff. Aber ich möchte erreichen, dass die Politiker in Deutschland und in anderen westlichen Ländern – das Buch wird sicher übersetzt werden in mehrere Sprachen, wie die Bücher vorher auch – ich möchte erreichen, dass, wenn Politiker unsere Werte, ich bleibe mal bei Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit, Demokratie, benutzen, um Kriege zu führen, dass die Leute sie auslachen, dass die Leute einfach sagen: “Erzählt uns doch diese Märchen nicht mehr”, dass unsere wertvollsten Werte – ein ganz schlechter Begriff – unsere wichtigsten Werte zur Kriegsvorbereitung benutzt werden.

Das will ich verhindern, dass keiner diese Werte einsetzen muss und dass es dadurch viel schwerer wird, Kriege zu führen, dass es dadurch viel schwerer wird, rassistisch zu argumentieren. Ein Teil der Anti-Flüchtlingspolitik ist reinster Rassismus, ein Teil unserer Kriege im Mittleren Osten ist reinster Rassismus, das sind ja nur Muslime und denen tut es ja nicht weh, wenn man sie erschlägt oder ihre Kinder erschlägt.

Und zum Abschluss: Für mich ist das Symbol dieser Heuchelei das, was mein Sohn Frederic erlebt hat, zehn Monate nach Ende des Krieges gegen Mossul, nach der sogenannten Befreiung. Ich habe schon an dem Buch geschrieben, dann habe ich ihn zu einer Nachrecherche noch mal gebeten, nach Mossul zu fahren. Und da schickt er mir Bilder, da findet er auf den Trümmern der völlig zerstörten Altstadt Mossuls, zehn Monate nach der sogenannten Befreiung, da liegen Frauen, verweste Frauen. Da liegen Gefangene, die der IS gefangen hatte und denen der IS die Hände auf dem Rücken gefesselt hat, die liegen noch immer auf den Trümmern. Und Kinder liegen auf den Trümmern, teilweise mumifiziert. Und er sitzt vor einem mumifizierten Kind, einem irakischen Kind, von dem wir gar nicht wissen, ob das sofort tot war oder ob es erst nach Tagen gestorben ist. Und diese Leute sagen, sie hätten dort für unsere Werte gekämpft, für Freiheit. Diese Leute sagen, sie hätten Mossul befreit. Und sie lassen Kinder auf den Trümmern der zerstörten Altstadt, dieser Kulturaltstadt, liegen, leiden, sterben. Und es gibt nicht mal einen, der mal hingeht und sagt: “Jetzt bergen wir die Toten.” Jetzt kann man sagen, sollen doch die Iraker die Toten selber bergen. Die Familien dieser Kinder …

… sind ja alle tot.

Teilweise liegen sie unter den Trümmern. Und die Verwandten sind in irgendwelchen Lagern hunderte von Kilometern entfernt und haben keinen Zugang zu der Altstadt. Und das nennen wir Politik für unsere Werte. Und ich nenne es die große Heuchelei.

Ihr Bericht über den nachträglichen Besuch Ihres Sohnes in Mossul ist sehr wichtig. Auch dass Sie das zutiefst unmenschliche Verhalten des Westens im Buch so offen schildern, wird dazu führen, dass Ihr Buch nicht wohlwollend besprochen wird, nicht so viel besprochen wird, überhaupt nicht besprochen wird, wie es ihm eigentlich gerecht würde. Es wird aber trotzdem gelesen werden.

Das ist ermutigend, Herr Müller. Ich finde es schön, dass ein Buch in den Bestsellerlisten ganz vorne ist unter den ersten zehn, obwohl versucht wird, es totzuschweigen. Das ist doch sehr ermutigend.

Danke für das Gespräch.

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