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Titel: Mehr statt weniger Ungleichheit – Verteilungspolitisch war die GroKo bislang ein Fiasko

Datum: 10. Dezember 2019 um 8:25 Uhr
Rubrik: Aktuelles, Audio-Podcast, Bundesregierung, Finanzpolitik, Soziale Gerechtigkeit, Ungleichheit, Armut, Reichtum
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Die meisten zur „Halbzeit“ der Legislaturperiode veröffentlichten Zwischenbilanzen stellen der Großen Koalition ein gutes Zeugnis aus. Die 83-seitige Bestandsaufnahme der Bundesregierung hinsichtlich ihrer Umsetzung des Koalitionsvertrages enthält viel Eigenlob und auch bürgerliche Kommentatoren schrecken wegen der fleißigen Regierungsarbeit vor Lobhudelei nicht zurück. Trotzdem herrscht bis in die Koalitionsparteien CDU, CSU und SPD hinein ein dumpfes Unbehagen über das Erreichte und wenig Zuversicht in Bezug auf das Geplante. Unterzieht man die bisher geleistete Arbeit einer Analyse aus verteilungspolitischer Sicht, ist das Ergebnis negativ. Von Christoph Butterwegge.

Dieser Beitrag ist auch als Audio-Podcast verfügbar.

Kluft zwischen Anspruch und Wirklichkeit

CDU, CSU und SPD sind vor knapp zwei Jahren mit dem Versprechen angetreten, für „neuen Zusammenhalt“ zu sorgen. Wer etwas für den Zusammenhalt in unserem Land tun möchte, wie das die Regierungsparteien immer wieder beteuern, muss vor allem die Ungleichheit verringern und dazu Umverteilung von Oben nach Unten betreiben. Hingegen dürfte die Einführung einer allgemeinen Dienstpflicht, wie sie die CDU-Vorsitzende Annegret Kramp-Karrenbauer empfiehlt, kaum dazu beitragen, dass die Mitglieder einer wirtschaftlich, sozial und politisch auseinanderdriftenden Gesellschaft näher zusammenrücken.

Zahlreiche Maßnahmen der Großen Koalition zementieren jedoch die Spaltung der Gesellschaft, anstatt sie zu verringern. Auf den Prüfstand gestellt seien in diesem Zusammenhang die begonnene Abschmelzung des Solidaritätszuschlages, die Leistungen für Familien, die „Mütterrente II“, der Grundrentenkompromiss und das Klimapaket der Bundesregierung.

Durch die schrittweise Abschaffung des Solidaritätszuschlages ab 1. Januar 2021 wird zunächst die obere Mittelschicht und später die Oberschicht entlastet, während Geringverdiener und Transferleistungsbezieherinnen leer ausgehen, weil sie schon heute aufgrund ihres niedrigen Einkommens keinen „Soli“ entrichten müssen. Sie dürften aber die Hauptleidtragenden einer Regierungspolitik sein, die wegen der Teilabschaffung des Solidaritätszuschlages auf zehn Milliarden Euro jährlich verzichtet und den Rüstungshaushalt beharrlich anhebt, aber die Pflege der Infrastruktur eher vernachlässigt.

Mittelschichtfamilien profitieren am meisten

Mit dem „Starke-Familien-Gesetz“ sind materielle Besserstellungen für Kinder verbunden, die von Transferleistungen leben. Die im Bildungs- und Teilhabepaket enthaltenen Leistungen für die Teilhabe am sozialen und kulturellen Leben wurden um 15 Euro erhöht. Eltern mit geringem Einkommen können das acht Jahre nach seiner Einführung zum ersten Mal (um 50 Euro auf 150 Euro im Jahr) aufgestockte „Schulstarterpaket“ in Anspruch nehmen und müssen keine Zuzahlung für das Mittagessen ihrer Kinder in einer Ganztagseinrichtung mehr leisten. Minimale Erleichterungen für die betroffenen Familien ändern jedoch wenig an deren schwieriger Lebenssituation und ersetzen kein schlüssiges Konzept zur Armutsbekämpfung.

Außerdem ist der Kinderzuschlag nicht bloß von maximal 170 auf maximal 185 Euro pro Kind und Monat angehoben, sondern auch so ausgestaltet worden, dass ihn mehr einkommensarme Familien erhalten. Dadurch lässt sich zwar die Hartz-IV-Statistik bereinigen, aber schwerlich erreichen, dass etwa die ihn (wegen der höheren Freigrenze für Unterhaltszahlungen) neu beanspruchenden Alleinerziehenden und ihre Kinder ein Leben oberhalb der EU-Armutsgefährdungsschwelle führen können. Sehr viel wirkungsvoller wäre eine kräftige Anhebung des gesetzlichen Mindestlohns, der auch nach seiner Erhöhung von 9,19 Euro auf 9,35 Euro brutto pro Stunde am 1. Januar 2020 der niedrigste in ganz Westeuropa bleibt.

Neben einer Sonderabschreibung im freifinanzierten Wohnungsbau ist das Baukindergeld in Höhe von 1.200 Euro pro Kind und Jahr eingeführt worden, das Familien über einen Zeitraum von zehn Jahren erhalten, wenn sie ein Haus bauen oder eine Immobilie erwerben. Die zuletzt genannte, etwa zehn Milliarden Euro teure Maßnahme kommt hauptsächlich Mittelschichtfamilien zugute, die staatlicher Unterstützung nicht bedürfen. Statt konsequent Armutsbekämpfung zu betreiben, machen CDU, CSU und SPD eine Politik der Reichtumsförderung durch Subventionen und Steuersenkungen zugunsten Wohlhabender.

Almosen für Rentner und Fördermilliarden für Unternehmen

Die als „Mütterrente II“ bezeichnete Anrechnung eines zusätzlichen halben Entgeltpunktes für Frauen, die vor 1992 Kinder geboren haben, wurde im Koalitionsvertrag von CDU, CSU und SPD als „wichtiger Baustein zur Bekämpfung von Altersarmut“ bezeichnet, hilft den Hauptbetroffenen aber nicht im Mindesten. Da ihnen der Rentenzuschlag auf die Grundsicherung im Alter angerechnet, d.h. sofort wieder abgezogen und gar nicht ausgezahlt wird, bekämpft man mit dieser Maßnahme höchstens verdeckte Altersarmut.

Ähnliches gilt im Hinblick auf die von der Großen Koalition beschlossene Grundrente. Durch diese sollen Geringverdiener nach 35-jähriger Beitragszahlung, Kindererziehung oder Pflege von Angehörigen im Durchschnitt 80 Euro pro Monat zusätzlich erhalten. Sie können dem Grundsicherungsbezug im Alter entkommen, bleiben aber immer noch mehr als 100 Euro unterhalb der Armuts(risiko)schwelle der Europäischen Union, die bei 999 Euro liegt. Sehr viel großzügiger wurde die Wirtschaft von den Koalitionsparteien im Rahmen ihres nach monatelangem Tauziehen geschlossenen Kompromisses bedacht. Zehn Milliarden Euro fließen in einen Investitionsfonds für Zukunftstechnologien, der Unternehmen zugutekommt. Außerdem verdoppelt sich der staatliche Förderbetrag, den Unternehmen erhalten, wenn sie für Geringverdiener eine Betriebsrente aufbauen. Hierzu passt die vorgesehene Deckelung der Sozialbeiträge bei 40 Prozent, die in einer weiter alternden Gesellschaft zwangsläufig zu Leistungskürzungen und damit zu noch mehr Armut führen muss.

Auch im Klimapaket der Bundesregierung kam die Komponente des Sozialausgleichs zu kurz. Um die Klimawende durchsetzen und die Mehrheit der Bevölkerung dafür gewinnen zu können, muss man sie als Solidarprojekt ausgestalten. Die von der Großen Koalition beschlossenen Maßnahmen sind aber nicht bloß halbherzig, kleinkariert und teilweise wirkungslos (z.B. im Hinblick auf eine zaghafte CO2-Bepreisung), sondern begünstigen auch eher Gutsituierte. Dies gilt etwa für die befristete Erhöhung der Pendlerpauschale bei Entfernungen über 20 km, die ökologisch zweifelhaft und für Besserverdienende attraktiver ist als für Niedriglöhner. Dagegen frohlockt die deutsche Bauindustrie wegen der zu erwartenden Aufträge durch die verstärkte Förderung der energetischen Gebäudesanierung.

Titelbild: Olga Pinegina/shutterstock.com

Prof. Dr. Christoph Butterwegge lehrte bis 2016 Politikwissenschaft an der Universität zu Köln. Kürzlich ist sein Buch „Die zerrissene Republik. Wirtschaftliche, soziale und politische Ungleichheit in Deutschland“ erschienen.


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