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Titel: Nun stimmt auch noch Gregor Gysi in den Schwanengesang vom Auslaufmodell „Nationalstaat“ ein

Datum: 12. Juni 2018 um 8:36 Uhr
Rubrik: Audio-Podcast, DIE LINKE, einzelne Politiker / Personen der Zeitgeschichte, Globalisierung, Sozialstaat
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Rhetorisch äußerst eloquent, aber inhaltlich erstaunlich schwach präsentierte sich Gregor Gysi auf dem Parteitag der Linken in Leipzig. Seine befremdliche Rede hatte vordergründig die angebliche Spaltung der Linken in die Befürworter nationaler und die Befürworter internationaler Antworten auf die politischen Fragen unserer Zeit zum Inhalt. Und Gysi bezieht hierbei auch klar Position und stimmt fröhlich in den allgemeinen Schwanengesang ein, nach dem die Globalisierung den Nationalstaat überflüssig gemacht habe und die Fragen der Gegenwart und Zukunft nun nur noch auf multi- oder gar internationaler Ebene angegangen werden könnten. Ein grandioser Denkfehler, der schlussendlich die Linke in eine politische Sackgasse führen würde. Von Jens Berger.

Dieser Beitrag ist auch als Audio-Podcast verfügbar.

Gregor Gysi ist voll am Puls der Zeit. Von „Pulse of Europe“ über den SPIEGEL bis hin zu „Vordenkern“ wie Ulrike Guérot ist man heute im liberalen Lager der Meinung, der Nationalstaat sei vor allem ein „Hindernis“ für ein gemeinsames Europa und in Zeiten der Globalisierung ohnehin überholt. Doch anders als Gysi geben die üblichen Apologeten des neuen „Internationalismus“ nicht vor, politisch dem linken Lager zuzugehören. Links und rechts werden von den liberalen Nationalstaatsgegnern eher als eine Art ewiggestrige Querfront wahrgenommen – „Populisten“, die sich rückwärtsgewandt der besseren Zukunft verschließen. Gysi will die Linke zum Mitglied eines Clubs machen, der sich selbst in der politischen Mitte verortet.

Gregor Gysi sei ohnehin einmal ein Blick ins Parteiprogramm empfohlen. Gefühlte 90% der sozial-, bildungs-, gesundheits-, wirtschafts- oder auch innenpolitischen Forderungen der Linkspartei sind keine Forderung auf EU- oder gar UN-Ebene, sondern Forderungen, die sich an die Landes- und Bundespolitik richten. Dies ist ja auch kaum überraschend, da im föderalen System der Bundesrepublik die allermeisten Themen eben nicht an internationale Gremien ausgegliedert wurden.

Die Hartz-Gesetze sind kein internationales, sondern ein nationales Thema. Über die Rentenpolitik wird nicht in Brüssel, sondern in Berlin entschieden. Bildungspolitik und Polizei sind gar Ländersache. Und wie sieht es mit den Themenfeldern aus, auf denen die Linkspartei in den kommenden Wahlkämpfen besonders punkten will? Die hohen Mieten in urbanen Lagen sind zwar ein internationales Phänomen, man wird aber nicht über die UN oder die EU hier zu Lösungen finden, sondern über die Bundes- und Länderpolitik. Das Mietrecht ist ein nationalstaatliches Gesetz und gemeinnütziger Wohnungsbau ist ein nationalstaatliches Thema. Und wie sieht es mit dem Pflegenotstand aus, der von der Linken – vollkommen zu Recht – zum neuen Kernthema auserkoren wurde? Die Schaffung neuer Stellen im Pflegebereich, die Einführung verbindlicher Personalschlüssel oder die Verbesserung der Arbeitsbedingungen für Kranken- und Altenpfleger sind doch keine Themen, die die Linke „internationalistisch“ lösen will.

Auf der anderen Seite gibt es selbstverständlich auch Themen, die man nur auf internationaler Ebene lösen kann. Die Klimapolitik und die Friedenspolitik sind da gute Beispiele. Aber auch hierbei sind internationale Abkommen doch nur ein Teil der Aufgaben. Ansonsten müsste sich die Linke keine Gedanken mehr darum machen, wie man konkret aus der Kohle aussteigt oder eine Abrüstungspolitik anstrebt. Denn all dies ist nationalstaatliche Politik, die sich in diesem Fall freilich an internationalen Vorgaben orientiert. Die künstliche Trennung von Nationalstaat und internationaler Politik ist nicht zielführend. Auf allen Ebenen werden Teile der Politik umgesetzt, auf allen Ebenen muss man daher auch progressive Forderungen stellen. Das ist doch keine Frage des „Entweder-Oder“. Und vor allem: Wer den faktisch vorhandenen nationalstaatlichen Rahmen ohne Not ausblendet oder als „rückwärtsgewandt“ wegwischt, der beschneidet sich doch letztlich ebenfalls ohne Not um seine Handlungsmöglichkeiten.

Gregor Gysi behauptet nun, dass „die soziale Frage durch die Globalisierung zu einer Menschheitsfrage geworden“ sei. Das ist freilich ziemlicher Unsinn. Die soziale Frage war schon immer eine Menschheitsfrage. Das hat doch nichts mit der Globalisierung zu tun. Die Antworten auf die „soziale Frage“ wurden und werden jedoch zuallererst auf nationalstaatlicher Ebene gegeben. In einigen Ländern, wie zum Beispiel den skandinavischen, klappt dies – auch und vor allem dank guter sozialdemokratischer und linker Politik – eher gut, in anderen Ländern, wie zum Beispiel Großbritannien und seit einigen Jahren auch Deutschland, klappt dies – auch und vor allem dank schlechter sozialdemokratischer und linker Politik – eher schlecht.

Auch hier gibt es aber doch eigentlich gar keinen Widerspruch zwischen nationalstaatlicher und internationaler Regulationsebene. Die meisten Teilbereiche und Gesetze, die man zur „sozialen Frage“ zusammenfassen kann, sind nationalstaatliche Gesetze, die von nationalen Parteien in nationalen Parlamenten beschlossen und von nationalen Regierungen umgesetzt werden. Übergeordnete Regulationsmechanismen werden in internationalen Gremien und Parlamenten beschlossen. Aber man sollte doch bitte nun nicht so tun, als habe das Europaparlament mehr Entscheidungsmacht in sozialen Bereichen als der Bundestag.

Zentraler noch ist hierbei die Problematik, dass die EU in ihrer realexistierenden Form äußerst undemokratisch ist und vor allem die politische Linke auf EU-Ebene kaum etwas umsetzen kann. Aber das weiß Gysi, der in Leipzig stolz als „Präsident der Europäischen Linken“ vorgestellt wurde, ja selbst nur all zu genau. Diese „Europäische Linke“, der er vorsteht, besteht außer der deutschen Linkspartei doch nur noch aus der griechischen Syriza, die artig exekutiert, was aus Brüssel vorgegeben wird, und einigen Kleinstparteien. Die starken neuen linken Strömungen, wie Podemos in Spanien, La France insoumise in Frankreich, die Fünf Sterne aus Italien oder Jeremy Corbyns Labour Party aus Großbritannien werden doch allesamt gar nicht von Gregor Gysi auf europäischer Ebene vertreten. Bei ihm heißt es dann: Es gäbe eine „Spaltung in jene, die vornehmlich nationale und jene, die vornehmlich internationale Antworten suchen“. Ja, die neuen starken linken Parteien und die namhaften internationalen linken Politiker der Gegenwart haben in der Tat sehr unterschiedliche Positionen in dieser Frage. Jeremy Corbyn, Jean-Luc Mélenchon, aber auch Bernie Sanders vertreten hier explizit nicht die Position eines Gregor Gysi – sondern eher die Position von Gysis parteiinternen Gegnern Oskar Lafontaine und Sahra Wagenknecht.

„Kann man überhaupt von Chancengleichheit sprechen, wenn sie nur in einem Land gilt?“, fragte Gregor Gysi in seiner Leipziger Rede und dies ist nur ein Beispiel der seltsamen Rabulistik, die dem geübten Rhetoriker natürlich nicht fremd ist. Die Antwort wäre: Es kommt auf den Bezugsrahmen an. Aber auch das hilft nicht weiter. Politisch viel interessanter wäre daher doch die Frage: Kann man die Chancengleichheit in verschiedenen Ländern eher dann verbessern, wenn man koordiniert in jedem dieser Länder auf nationaler Ebene tätig wird und das Ganze über internationale Regelwerke flankiert oder sollte man sich lieber auf die internationale Ebene beschränken, da der Nationalstaat ja in Zeiten der Globalisierung ein Auslaufmodell sei? Die Antwort sollte nicht allzu schwer sein.

Gysi macht es sich viel zu leicht, wenn er sagt, der „Internationalismus“ sei eine „zwingende Voraussetzung für die soziale Frage und Chancengleichheit“. Denn wenn eine vor allem national vertretene Partei ihre Optionen auf eine höhere Ebene verschiebt, auf der sie aber überhaupt keine Handlungsmöglichkeiten hat, ist dies ein Betrug an ihren Wählern. Gysis „Europäische Linke“ stellt zurzeit 21 der 751 Abgeordneten des Europaparlaments. Der Einfluss auf parlamentarischer Ebene ist damit marginal, der Einfluss auf EU-Kommissionsebene ist sogar de facto überhaupt nicht vorhanden und daran wird sich auch auf absehbare Zeit nichts ändern. Wer also Politik auf einer internationalen Ebene betreiben will, auf der er selbst fast überhaupt nicht präsent ist, betreibt Augenwischerei und verweigert sich dem Wählerauftrag. Mehr noch: Wer seinen Wählern sagt, dass die Lösungen für die anstehenden Probleme nur auf einer Ebene zu lösen seien, auf der man selbst gar keinen Einfluss hat, der zieht sich aus der Realpolitik zurück. Politiker – gleich welcher Partei – werden aber nicht gewählt, um schöngeistige Phantomdebatten zu führen, sondern um ihre Wähler und deren Interessen aktiv zu vertreten. Warum sollte man dann aber jemanden wählen, der mit dem Amt gar nichts anfangen kann?

Es ist daher auch fraglich, ob Gregor Gysi seine oberflächliche inhaltliche Analyse überhaupt ernst meint. Wahrscheinlicher ist, dass er sich in Leipzig schlicht innerparteilich positionieren wollte und zugunsten von Katja Kipping und Bernd Riexinger in den offenen Konflikt mit dem Flügel rund um Oskar Lafontaine und Sahra Wagenknecht eingreifen wollte. Kipping vertritt schließlich schon längere Zeit die abstruse These, dass Sozialpolitik nicht mehr national, sondern nur noch international gelöst werden könne. Und auch in der unseligen „Migrationsdebatte“ argumentiert die Kipping-Fraktion ja, dass offene Grenzen für alle ja auch deshalb geboten seien, da Grenzen ein Element des überkommenen Nationalstaats seien.

Es wäre nicht das erste Mal, dass Gregor Gysi, der sich gerne als Übervater der Linken inszeniert, gänzlich profan und unter der Gürtellinie in einen Flügelkampf der Partei eingreift. 2012 nahm er auf dem Göttinger Parteitag in infamer Art und Weise Oskar Lafontaine ins Visier. Wir erinnern uns: In Göttingen wurden dann als „Kompromiss“ zwischen dem „Bartsch-Flügel“ und dem „Lafontaine-/Wagenknecht-Flügel“ der damals noch weitestgehend unbekannte Bernd Riexinger und die junge Katja Kipping als neues Führungsduo gewählt. Heute ist es Kipping selbst, die offen gegen Bartsch und Wagenknecht intrigiert und abermals Schützenhilfe von Gysi bekommt. Zynisch könnte man sagen: Wenn sich die Partei durch derlei Intrigen selbst in Aus manövriert, muss sie sich zumindest keine Gedanken mehr machen, ob sie ihre Inhalte national oder international nicht mehr durchsetzen kann. Denn beides geht nur dann, wenn man die Menschen überzeugt und gewählt wird.


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