Gutes Europa, schlechter Nationalstaat?

Jens Berger
Ein Artikel von:

Die Europa-Debatte ist seit diesem Wochenende um eine Facette reicher. Michael Sauga, Leiter des SPIEGEL-Hauptstadtbüros, macht in seinem Essay „Flucht ins Gestern“ einen neuen Konflikt zwischen Sozialdemokraten und Linken aus. Die Positionierung zu Europa sei demnach mehr als eine bloße weltanschauliche Frage. Nicht über den Nationalstaat, sondern über die europäischen Institutionen seien die Ziele der gesellschaftlichen und politischen Linken umsetzbar. Das hört sich ja interessant an. Wie soll das denn konkret vonstattengehen? Leider versucht Sauga noch nicht einmal, diesen Gedankengang näher zu erläutern, sondern greift lieber die Querfrontdebatte auf und holt dabei die größtmögliche Moralkeule aus dem Sack: Da die Linken Ende der 1920er die SPD zu ihrem Hauptfeind erklärten, ebneten sie dem Faschismus den Weg, so der neue Tiefpunkt einer an Tiefpunkten wahrlich nicht armen Debatte. Wie wäre es stattdessen mal mit Argumenten? Von Jens Berger.

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Wer denkfaul ist, unterteilt die Welt gerne in zwei Lager und versieht diese dann auch noch mit moralischen Kategorien. Hier sind wir, die Guten; dort sind die Bösen. Auch Michael Saugas Essay ist von dieser Polarisierung durchzogen: Auf der einen Seite das Lager der Guten: Macron und Gabriel gehören natürlich dazu, sie sind „moderat“, pro-europäisch und ihre Politik sei ein „zutiefst linkes Projekt“, so Sauga. Da staunt der Laie und der Fachmann wundert sich. Auf der anderen Seite das Lager der Bösen: Corbyn, Mélenchon, Lafontaine, Stalins Söhne im Geiste; „radikale Gesinnungsgenossen“, die „ins Gestern fliehen“ und dabei „das Geschäft der Rechten betreiben“. Das klingt wirr und ist es auch. Auf was will Sauga eigentlich hinaus?

Ihm ist offenbar eine tatsächlich zu beobachtende strategische Wende linker Politik in zahlreichen EU-Staaten aufgefallen: Viele linke Politiker glauben nicht mehr daran, über „Europa“ eine gesellschaftliche und politische Wende initiieren zu können. Die EU und die Eurozone werden dabei als im Kern marktliberale Konstrukte wahrgenommen, denen als Korrektiv nationalstaatliche und regionale Reglementierungsrahmen gegenübergestellt werden müssen. Dies wird von Sauga – der hier stellvertretend für einen großen Teil der „linksliberalen“ Eliten spricht – als rückwärtsgewandt, als „Flucht ins Gestern“ bewertet. Für Sauga liegt die Zukunft eher darin, „der Eurozone jene Institutionen zu verschaffen, die sich historisch als geeignete Instrumente zur Zähmung des Kapitalismus erwiesen haben“, darunter eine „europäische Arbeitslosenversicherung“ oder eine „EU eigene Steuer“.

Nun wird es jedoch „tricky“: Die beiden praktischen Beispiele von Sauga sind nämlich in der Tat sinnvoll. Sie sind jedoch gleichfalls völlig unrealistisch, da sie von den einflussreichen Parteien und Regierungen abgelehnt werden. Der realistische europäische Konsens ist ja gerade eben der marktliberale Konsens, bei dem ein neoliberaler Ordnungsrahmen dafür sorgen soll, dass sich innerhalb der EU bzw. der Eurozone ein künstlicher Wettbewerb ergibt, der zu einem gegenseitigen Unterbietungswettkampf, einem Rattenrennen, führt. Sauga wirft der „bösen“ Seite ihren vermeintlichen Utopismus vor, macht sich aber selbst nicht einmal im Ansatz die Mühe, seine positiven Gegenentwürfe auf Realisierbarkeit zu checken.
Anstatt argumentativ für seine Ideen zu begeistern, arbeitet er sich lieber an der Gegenseite ab, indem er sie in ein möglichst düsteres Licht rückt. Und das geht folgendermaßen: Weil die linken Bösewichte (Corbyn, Mélenchon, Lafontaine etc.) dem neoliberalen europäischen einen sozialen nationalen Reglementierungsrahmen entgegensetzen wollen, sind sie „Nationalisten“. Und wer steckt noch in der Nationalisten-Schublade? Na klar.

Die roten Nationalisten geben sich progressiv und klassenbewusst […] Aber sie können nicht verbergen, dass ihre Antwort auf Europas ungelöste Währungskrise im Kern dieselbe Antwort ist, die auch Marine Le Pen und Geert Wilders geben […] Rechts ist das neue Links
Aus Michael Sauga – „Flucht ins Gestern“ DER SPIEGEL 24/2017

Der Anreißer für diesen kostenpflichtigen Artikel steht bei SPIEGEL Online übrigens unter der abweichenden Überschrift „Wenn Linke plötzlich rechts abdriften“. Wie passend. Anstatt den Lesern zu erklären, wie die politische Linke die europäische Ebene gegen den Willen der EU-Kommission und gegen den Willen der Mitgliedsstaaten umgestalten soll, kommt wieder das alte Querfront-Lied. Die Gemeinsamkeiten sind dabei noch nicht einmal marginal. Wilders, Le Pen und Gauland haben doch keine linke Politik im Sinn. Die einzige Gemeinsamkeit ist, dass auch die Rechtsradikalen erkannt haben, dass eine Umsetzung ihrer Forderungen über die europäischen Ebene ausgeschlossen ist und sie daher nationalstaatlich agieren müssen. Nur weil zwei vollkommen verschiedene politische Gruppierungen dieselben Institutionen adressieren, ist dies aber doch keine politische Gemeinsamkeit! Wer derart vereinfacht, beleidigt den Intellekt seiner Leser.

Saugas Ausführungen sind jedoch ganz typisch für den fehlgeleiteten Diskurs. Linksliberale Vordenker pochen ja stets auf „mehr Europa“, vermeiden es jedoch auf Teufel komm raus, zu erklären, wie sie ihre Ziele konkret umsetzen wollen und wie sie inhaltliche Gegner zunächst überzeugen und dann auf diesen Weg mitnehmen wollen. Was sie sich wünschen, ist vielmehr ein Blankoscheck. Vertrauen Sie uns nur, wir machen das schon und wir wissen, was gut für Sie ist. Nach Schröder, Blair, Hollande und Co. ist der Vertrauensvorschuss der Sozialdemokraten aber komplett aufgezehrt. Nur neu lackierte Reformpolitiker á la Macron können noch die Gunst der Stunde nutzen und nun muss man sie an ihren Taten messen. Dass Macrons Politik progressive Kräfte überzeugen wird, ist jedoch auszuschließen. Denn erst einmal muss er ja auf nationalstaatlicher Ebene seine „Hausaufgaben“ machen und danach wird der Vertrauensvorschuss schon aufgebraucht sein.

Wenn es so weit ist, besteht in der Tat die Gefahr, dass die Wähler nach Rechtsaußen abdriften. Genau dieses Szenario sagen ja auch Intellektuelle wie Didier Eribon voraus. Man muss schon ziemlich geschichtsvergessen sein, wenn man dies nun im Stile eines Michael Sauga umdeuten will. Nicht die SPD-Ablehnung der Kommunisten, sondern die Sparpolitik Brünings und die Unterstützung der Nazis durch das bürgerliche Lager haben Hitler erst möglich gemacht. Geschichte ist vor allem dazu da, dass man aus ihr lernt. Leider lernen wir jedoch nicht aus der Geschichte, sondern schreiben sie nach unseren ideologischen Vorstellungen um. Das, lieber Michael Sauga, ist jedoch brandgefährlich.