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Titel: Chemnitz: Bürger-Beschimpfung durch die SPD geht weiter

Datum: 3. September 2018 um 11:07 Uhr
Rubrik: Audio-Podcast, Innere Sicherheit, Rechte Gefahr, SPD
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Die SPD-Politiker Heiko Maas und Wolfgang Thierse haben sich am Wochenende fragwürdig zu den Unruhen von Chemnitz geäußert. Mit der Diffamierung des „Einzelnen“ wollen die Sozialdemokraten von eigenen Verantwortlichkeiten ablenken. Doch diese Strategie führt in die Sackgasse. Von Tobias Riegel.

Dieser Beitrag ist auch als Audio-Podcast verfügbar.

Die bedrückenden Unruhen von Chemnitz haben wichtige Fragen aufgeworfen. Aber zu den zentralen sozioökonomischen Ursachen herrscht noch immer Sprachlosigkeit – statt dessen erhebt sich eine Bürgerbeschimpfung, die Außenminister Heiko Maas (SPD) am Wochenende auf eine neue Ebene gehoben hat: “Meine Generation hat Freiheit, Rechtsstaatlichkeit und Demokratie geschenkt bekommen”, sagte Maas der „Bild am Sonntag“. “Wir mussten das nicht erkämpfen, nehmen es teilweise als zu selbstverständlich wahr. Es hat sich in unserer Gesellschaft leider eine Bequemlichkeit breitgemacht, die wir überwinden müssen.“ Mit Blick auf die Ausschreitungen in Chemnitz forderte er: “Da müssen wir dann auch mal vom Sofa hochkommen und den Mund aufmachen. Die Jahre des diskursiven Wachkomas müssen ein Ende haben.”

Auch Ex-Bundestagspräsident Wolfgang Thierse (SPD) stimmte bei Anne Will in die Strategie ein, dem „Einzelnen“ die Verantwortung für die sich in Chemnitz manifestierende Verunsicherung zuzuschreiben: Wer nicht wisse, wohin mit seinem Ärger und seiner Wut, trage als Bürger dennoch die Verantwortung, nicht mit Rechten zu marschieren und die Fehler „nur in der Politik zu suchen“. In Chemnitz kämen zwei Dinge zusammen: Die rechtsextreme Szene – aber eben auch “die Menschen, die ihre Wut dahin tragen“. Es sei eine “üble Tradition“, die Schuld bei anderen zu suchen.

Gegendemos sind billiger als ein funktionierender Sozialstaat

Zwei prominente SPD-Politiker rufen nun also „Haltet den Dieb“. Das ist nachvollziehbar, denn die SPD ist in der Zwickmühle: Die Partei hat durch die Hartz-IV-Gesetze und die Mitarbeit in der Großen Koalition die neoliberalen Grundlagen für die aktuellen gesellschaftlichen Konflikte mit installiert, die sich in Chemnitz äußern. Indem man den einzelnen Bürger und sein angeblich fehlendes Engagement gegen Rechts als Kern des Problems darstellt, versucht die SPD zweierlei: Sie lenkt von der eigenen Verantwortung durch jahrelange verfehlte Politik ab – und sie spart Steuern: Gegendemos kosten erheblich weniger Geld als Kita-Plätze, Schulsanierungen und ein ausreichender Sozialstaat.

Darum ist für Neoliberale das „zivilgesellschaftliche Engagement“ das Mittel der Wahl, um gegen einen gesellschaftlichen Rechtsruck vorzugehen – und eben nicht die große staatliche Investition ins Gemeinwesen. Wer diese Tatsache anspricht, sieht sich durch eben jene Neoliberalen schnell als „Steigbügelhalter“ rechter Demonstranten diffamiert. Verweise auf ökonomische Vorbedingungen sollen die Entfesselungen von Chemnitz übrigens nicht rechtfertigen, aber man muss versuchen, die Ausbrüche zu erklären und für die Zukunft zu verhindern.

SPD beschimpft sowohl „Nazis“ als auch „untätige“ Bürger

Ein weiteres strategisches Problem der SPD ist, dass sie verbal nun nicht so rabiat auftreten kann wie die CDU, die durch markige Sprüche zur Migrationspolitik einen Teil der Bürgerwut, die sich eigentlich zuerst gegen die CDU richten sollte, kanalisieren kann. Die Heuchelei der CDU sei hier ebenfalls betont: Die Christsozialen haben zum einen (neben vielem anderen) die Polizei kleingespart und zum anderen bei der Reaktion auf die erste Demo in Chemnitz grandios versagt – dennoch schafft es die CDU noch immer, mit einem „Law-and-Order“-Image hausieren zu gehen und damit von jahrzehntelanger verfehlter Politik abzulenken.

Darum ist die jetzige Situation für die SPD erheblich gefährlicher. Umso rätselhafter erscheint die aktuelle Taktik: Wenn die Beschimpfung sowohl der „Nazis“ als auch der „untätigen“ restlichen Bürger die Wahlstrategie der Sozialdemokraten ist – dann gute Nacht SPD.

Vor allem Heiko Maas bestätigt mit seinen Äußerungen erneut sein Potenzial als Sprengsatz in der SPD. Zunächst war er mit weit über die Parteilinie hinausgehenden Ressentiments gegen Russland auffällig geworden – diesen Eindruck konnte er auch nicht durch jüngste, scheinbar US-kritische Äußerungen relativieren. Nun bringt er nicht nur die „besorgten Bürger“ gegen sich und damit die SPD auf – er verscherzt es sich auch mit den potenziell Gutwilligen: Die, die sich bereits engagieren, müssen Maas’ Handlungsaufforderung als Hohn und Ignoranz wahrnehmen. Und die, die mit einem Engagement zögern, lassen sich wohl kaum durch schulmeisterliche Aufrufe eines problematischen Politikers animieren. Zumal auf der Hand liegt, dass die Partei von Heiko Maas erheblich zu den nun in Chemnitz aufbrechenden Verunsicherungen beigetragen hat.

Besorgnis statt Häme: Ohne die SPD kein progressiver Wandel

Diese Beobachtung trifft auch auf Wolfgang Thierse zu: Es wäre nun eigentlich die Stunde der kühlen sozioökonomischen Analyse. Diese Analyse würde den Sozialdemokraten gute Argumente für die Wiederherstellung eines handlungsfähigen und fürsorgenden Staates geben. Die richtige und überfällige Forderung nach einem „starken Staat“ meint übrigens keinen hochgerüsteten Polizeistaat, sondern einen Staat, der grundlegende gesellschaftliche Interessen gegen die Privatwirtschaft durchsetzen kann. Doch Thierse verschenkt diese Steilvorlage, indem er in der Talkshow von Anne Will genau die emotionalen und bürgerfeindlichen Reflexe bedient, die auch die neoliberalen Medien dominieren: die Deutung von der „Verantwortung des Einzelnen“, der sich weigert, die „Nazi”-Demo zu blockieren.

Diese Betrachtungen sind kein Anlass zu Häme gegenüber den Sozialdemokraten, sondern zur Besorgnis. Ohne die Mitarbeit der SPD ist ein progressiver Wandel nicht realistisch. Sollte die Partei aber den eingeschlagenen (selbst-)zerstörerischen Kurs fortsetzen, dann tritt Jens Bergers Prophezeiung ein: ein Rechtsruck epischen Ausmaßes. Eine reale Hoffnung besteht: Nämlich, dass die Dynamik der am 4. September startenden neuen Sammlungsbewegung „#Aufstehen“ die SPD-Basis gerade noch rechtzeitig erfassen wird, bevor sie von ihrer Führung in die Sackgasse geleitet wird.


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