Chemnitz’ Schrei nach Liebe: Warum wir einen starken Staat brauchen – und wie sich Neoliberale aus der Verantwortung stehlen wollen

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Nicht nur auf den Straßen von Chemnitz äußert sich dieser Tage in bedrückender Form eine große Sehnsucht nach einem starken Staat. Auch in einer aktuellen Umfrage fordert eine große Mehrheit die Eroberung der öffentlichen Handlungsfähigkeit. Diese Tendenzen sollte man nicht diffamieren, sondern erkennen und nutzen. Von Tobias Riegel.

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Es erscheint wie das Erwachen aus einem neoliberalen Dornröschenschlaf: Plötzlich sind sich alle einig – Bürger, Medien und sogar die FDP kritisieren den Rückzug des Staates von seinen zentralen Aufgaben. Zusammengehalten wird diese merkwürdige Koalition durch das Erschrecken über die Berichte aus Chemnitz, die Jens Berger bereits analysiert hat. Insofern können die bedrückenden Bilder von Bürgern, die in ihrer Verunsicherung selbst die Nähe von Neonazis nicht mehr scheuen, auch positiv aufrütteln. Sie könnten ein heilsamer Schock sein. Leider wird die richtige Diskussion durch falsche Motive befeuert: Die Distanzierung neoliberaler Politiker und Journalisten vom mitverantworteten gesellschaftlichen Scherbenhaufen ist heuchlerisch und soll mutmaßlich der Rettung der eigenen Haut dienen. Zudem belegt eine neue Umfrage die große Sehnsucht der Bürger nach einem handlungsfähigen Staat – diesen Zug möchten Politiker und Medien wohl nicht verpassen.

Es ist eine Erhebung, deren beachtliche Ergebnisse auch für die Analyse der Vorgänge in Chemnitz von Bedeutung sind: Fast 80 Prozent der Menschen im öffentlichen Dienst wünschen sich einen handlungsfähigen „starken Staat“, nur zehn Prozent vertrauen noch darauf, dass „der Markt“ die Dinge verträglich regeln kann. Das besagt eine aktuelle Umfrage von Forsa für den deutschen Beamtenbund. Die Bedeutung des Rückzugs des Staates für die schockierenden Ereignisse in Chemnitz sehen auch Rassismus-Forscher: „Ein klarer, starker Staat ist wichtig.“ In Chemnitz kamen allerdings zwei Versagen zusammen: Zum einen der durch Kürzungen befeuerte langfristige Rückzug des Staates von immer mehr zentralen Aufgaben, der sich seit Jahrzehnten abspielt und der tiefe Verunsicherungen geschaffen hat. Zum anderen die konkrete Unfähigkeit der letzten Tage, wegen mangelnder Polizeikräfte das staatliche Gewaltmonopol gegen Ausbrüche dieser Unsicherheiten zu verteidigen.

Wolfgang Kubicki hat Recht – er betreibt trotzdem Heuchelei

Es ist also angeblich Konsens, dass der Staat seine Handlungsfähigkeit zurückerobern muss. Bei manchen aktuellen Äußerungen zweifelt man jedoch am Motiv. So hat FDP-Vize Wolfgang Kubicki zwar Recht, wenn er sagt: “Die Wurzeln für die Ausschreitungen liegen im ‘Wir schaffen das’ von Kanzlerin Angela Merkel“. Nach dieser Lesart war die fahrlässige staatliche Untätigkeit seit 2015 verantwortlich für die gefährlichen Verunsicherungen, die sich in Chemnitz in häßlicher Form äußerten. Diese Aussage ist richtig, aus dem Mund von Kubicki wird sie allerdings zu Heuchelei. Die FDP war stets treibende Kraft, wenn es darum ging, „Bürokratie-Abbau“ zu fordern und „Wasserköpfe in der Verwaltung“ zu geißeln. Die FDP hat die Erosion des Staates propagandistisch unterstützt – nun möchte sie sich von den Folgen des eigenen Tuns distanzieren. Damit steht sie nicht allein.

Eine ähnliche Heuchelei hat kürzlich auch Jan Fleischhauer im „Spiegel“ praktiziert, als er die kaputtgesparte Verwaltung Berlins zu Recht skandalisierte: Auch Fleischhauer ist Protagonist einer tendenziell staatsfeindlichen Lehre. Als solcher hat er seinen Teil zu einer gesellschaftlichen Stimmung beigetragen, die fatale Kürzungen etwa in Berlin erst möglich gemacht hat. Dass es „linke“ Berliner Regierungen waren, die sich dieser auch von Fleischhauer und seinem Medium erzeugten staatsfeindlichen Stimmung ergeben haben, beinhaltet zusätzliche Tragik. Wenn aber Fleischhauer nun die ideologisch selber mit vorbereiteten Verwerfungen beklagt und die Mitverantwortung seiner Meinungsmache von sich weisen möchte, so ist das unredlich. Wie bei Kubicki werden hier richtige Aussagen durch das Verhalten des Verkünders zum Teil entwertet.

Sahra Wagenknecht – Die „Zeit“ ruft: „Haltet den Dieb!“

Ähnlich wie Kubicki und Fleischhauer verhält sich auch die „Zeit“. Kaum ein Medium hat das Management der Flüchtlingskrise intensiver als eine erhebende Aufgabe für „den Einzelnen“ dargestellt als die „Zeit“: Wenn nur alle mit anpackten, würden „wir“ das schon schaffen, auch ohne staatliche Handreichung. Dadurch hat die Wochenzeitung die fatale Untätigkeit des Staates gerechtfertigt und erst mit möglich gemacht. Nun – vor dem Scherbenhaufen des selbst eingeforderten staatlichen Rückzugs stehend – soll von dieser Mitverantwortung für abstoßende Eruptionen wie in Chemnitz abgelenkt werden. Genutzt werden für diese Ablenkung ausgerechnet Angriffe auf die Fraktionschefin der LINKEN, Sahra Wagenknecht, etwa wenn die „Zeit“ schreibt:

„Seit aber, zuerst durch die AfD und dann schnell nachholend durch die CSU und nicht zuletzt auch durch die populistische Linke vom Typ Wagenknecht, die Abwertung der anderen zum Sagbaren im politischen Diskurs gemacht wurde, seitdem ist eben nicht mehr klar, was gesellschaftlicher Grundkonsens ist und was nicht.“

Man muss sich die Dreistigkeit verdeutlichen: Ein zentrales neoliberales Medium ruft „Haltet den Dieb“ und meint damit jene Politikerin, die von Anfang an mehr staatliches Engagement gefordert hat, auch als Prophylaxe gegen Rechts: Wer sage, „Wir schaffen das“, müsse eben auch die Mittel dafür zur Verfügung stellen – das war schon vor Jahren eine zentrale Botschaft Wagenknechts. Diese heute nicht mehr zu bestreitende Botschaft wurde von genau jenen neoliberalen Journalisten in die AfD-Ecke gestellt, die die in Chemnitz aufbrechenden Folgen des Staatsversagens jetzt lauthals beklagen.

Oberbürgermeisterin von Chemnitz: „Wir wurden alleingelassen“

Es war die staatliche Untätigkeit, die Merkels Satz „Wir schaffen das“ umdeutete in: „Ihr schafft das schon“, wie auch die „FAZ“ feststellt: „Denn es ist nicht die Bundespolitik, die ‘es’ schaffen muss, sondern es sind die Städte, Dörfer, Kreise, die auch mit noch so viel Erfolgen nicht verhindern können, dass sich Ermüdung, Frust und das Ende von Illusionen breitmachen. Für diejenigen, die das in aller Sachlichkeit artikulieren möchten, gibt es kaum Raum zwischen rechtsradikalen Agitatoren sowie asozialen Trittbrettfahrern auf der einen und den moralisierenden Einschüchterungen auf der anderen Seite.“

Unbelehrbar, aber immerhin auf eine schräge Art konsequent, gibt sich dagegen die „Süddeutsche Zeitung“, die mit Kubickis Äußerungen hart ins Gericht geht:

“Es sind hanebüchene Vorwürfe. Sie vergiften das Klima zwischen Einheimischen und Zugewanderten, schüren Misstrauen gegen Politik allgemein und erschweren den Blick auf das, was Deutschland – neben dem, was bisher nicht gelungen ist –tatsächlich geschafft hat.“

Der Text schließt lieber mit der „FAZ“. Die Zeitung mag nun ebenfalls in den Chor der nun scheinbar geläuterten neoliberalen Heuchler einstimmen. Das macht aber ihre Aussagen nicht grundsätzlich falsch:

“Kubicki hatte Recht. Nur hätte er es anders formulieren sollen, nämlich so wie die SPD-Oberbürgermeisterin von Chemnitz: ‘Wir wurden alleingelassen’.“