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Titel: Bolivien – Nach Staatsstreich, Exil von Evo Morales und Selbsternennung der neuen Präsidentin erhebt sich Widerstand gegen rechtsextremen Terror

Datum: 13. November 2019 um 14:24 Uhr
Rubrik: Aktuelles, Audio-Podcast, Erosion der Demokratie, Kampagnen/Tarnworte/Neusprech, Länderberichte, Rechte Gefahr, Wahlen
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La Paz, zwischen dem 9. und dem 12. November. Wie wir auf den NachDenkSeiten berichteten, brachen nach Bekanntgabe der offiziellen Ergebnisse der jüngsten Präsidentschaftswahlen vom 20. Oktober gewaltsame Proteste gegen die Regierung Evo Morales aus. Ein Bericht von Frederico Füllgraf.

Dieser Beitrag ist auch als Audio-Podcast verfügbar.

Nach Angaben des bolivianischen Obersten Wahlgerichts (TREP) ging der amtierende und zur Wiederwahl angetretene Präsident Morales mit ca. 46 Prozent gegen 36 Prozent der Stimmen seines zweitplatzierten, konservativen Herausforderers, Carlos Mesa, als Sieger hervor. Mit dem nur knapp erreichten zehnprozentigen Vorsprung vermied Morales die gesetzlich vorgeschriebene Stichwahl, was Mesa im Handumdrehen dazu veranlasste, das Oberste Wahlgericht und Morales des „Wahlbetrugs“ zu beschuldigen und die Öffentlichkeit zu Protesten aufzurufen. Als Geste des Entgegenkommens hatte die bolivianische Regierung die in Washington ansässige, konservative Organisation der Amerikanischen Staaten (OEA/OAS) ins Land gerufen, die seit Ende Oktober mit der Prüfung der landesweiten Stimmenabgabe beschäftigt war und am 13. November ihr Gutachten vorlegen wollte.

Der OAS-Bericht und die meuternde Polizei

Überraschenderweise verbreitete die OAS jedoch bereits vom 9. auf den 10. November eine Vorschau als angebliche Zusammenfassung ihrer Erkenntnisse an die Medien und brachte damit die politischen Ereignisse in Bolivien in Gang. In dem vorläufigen Wahlprüfungsbericht versichern die Auditoren, dass sie die Redlichkeit der Wahlen nicht bestätigen können, und empfehlen daher die Ausschreibung von Neuwahlen.

Als Begründung gibt die mehr als 10-köpfige Prüferkommission an, dass in den vier geprüften Abschnitten (Technologie, Sorgfaltskette, Integrität des Protokolls und statistische Prognosen) Unregelmäßigkeiten festgestellt worden (seien), die von „sehr schwerwiegend bis hin zu hinweisend reichen“. Dies habe das technische Team dazu veranlasst, die Integrität der Wahlergebnisse zu hinterfragen.

Der Bericht bescheinigt Evo Morales den Wahlsieg, weist jedoch auf schwerwiegende Sicherheitsmängel bei Computern, „eine eindeutige Manipulation des Systems” des Obersten Wahlgerichts (TREP), ferner auf offizielle Berechnungen sowie auf von Hand vorgenommene physische Aufzeichnungen mit Änderungen und gefälschten Signaturen hin. Obwohl das Auditorenteam die verfügbaren Informationen und die über 250 Beschwerden im Zusammenhang mit den Wahlen vom 20. Oktober weiterhin verarbeiten werde, bevor es seine Empfehlungen im Abschlussbericht ausspricht, bezeichnete die OAS, „die vorläufigen Ergebnisse (als) überwältigend”.

Jeder kritische Beobachter musste sich an dieser Stelle allerdings fragen, was die OAS mit dem nicht abgesprochenen Termin zur überstürzten Veröffentlichung ihrer „Berichtvorschau“ veranlasste, zumal die Statuten der Organisation doch predigen, dass die OAS eine friedensstiftende Mission habe. Dieses Statut wurde vom 9. auf den 10. November jedoch in eklatanter Weise verletzt. War der OAS selbstverständlich bekannt, dass die Polizei von La Paz sich an diesem Samstag der am Freitag eingeleiteten Meuterei von Einheiten in Cochabamba, Sucre, Santa Cruz und Oruro angeschlossen und damit nicht nur der Regierung und der Legislative, sondern auch der Millionenstadt La Paz den Schutz entzogen hatte.

Dass die vermummten und mit Maschinengewehren bewaffneten Meuterer im Hinterland zum Teil örtliche Regierungssitze überfallen hatten, war ein eindeutiger Hinweis auf einen Putsch und kriminellen Angriff auf den Rechtsstaat, den die OAS stillschweigend billigte, wenn nicht gar mit ihrer „Berichtvorschau“ bewusst förderte.

Das Manöver der OAS und die Kritik von US-Experten

Die Übergabe der „Berichtvorschau“ an die Medien durch zwei OAS-Prüfer sei der entscheidende Grund für die Verschärfung der politischen Krise, die im Rücktritt von Evo Morales gipfelte, kontert der ebenfalls in Washington ansässige progressive Think Tank Center for Economic and Policy Research (CEPR) in einer analytischen Replik des OAS-Berichts mit dem Titel „Was geschah bei den Wahlen in Bolivien im Jahr 2019 mit den Stimmen?“.

Demnach habe gar vor der „Berichtvorschau“ – also wenige Stunden nach Ende der Präsidentschafts- und Parlamentswahlen – die von dem Mexikaner Arturo Espinosa geleitete OAS-Mission eine Erklärung über Boliviens schnelles Stimmenzählsystem abgegeben, in der sie ihre „tiefe Besorgnis und Überraschung über die drastische Veränderung des vorläufigen Ergebnistrends an den Wahlurnen, die schwer zu rechtfertigen sei, zum Ausdruck gebracht.

Der CEPR-Gegenbericht enthüllt, dass die OAS-Mission in Bolivien in technischer Hinsicht widersprüchliche Erklärungen abgegeben hat, die keineswegs einen Wahlbetrug belegen. Genauer: Dass offenbar darauf hingearbeitet wurde, die bolivianische Bevölkerung und die internationale Öffentlichkeit zur Annahme zu bewegen, die Wiederwahl von Evo Morales sei manipuliert worden.

Das CEPR verweist in seiner Studie auf ein entscheidendes Detail, das von der OAS bestritten wurde, nämlich die verspätete Auszählung der Stimmen einiger Wahlkreise im Landesinnern. Dem Gegenbericht zufolge ist eine solche Verzögerung in mehreren Ländern der Welt üblich und erklärt sich aus den logistischen und technologischen Hindernissen im Hinterland. Periphere und ländliche Regionen Boliviens waren von der langsamen Stimmauszählung am härtesten betroffen, zählten jedoch zum größten Teil zum Wählerstamm von Evo Morales und seiner Partei MAS.

Die CEPR-Studie behauptet ferner, dass Morales zum Zeitpunkt der Unterbrechung der Stimmauszählung mit 83,85 Prozent der Stimmen bereits einen großen Vorsprung gegenüber seinem Gegner Carlos Mesa erzielt hatte. Eine CEPR-Umfrage stützt sich dabei auf eine Projektion der Stimmen, die noch gezählt werden mussten, und stellte fest, dass das Ergebnis mit dem Prozentanteil identisch war, den der gewählte Präsident erzielt hatte, als die Stimmen wieder gezählt wurden. „Die Ergebnisse dieser statistischen Projektion stimmen mit den offiziellen Ergebnissen der Wahlzählung in Bolivien überein (die Morales‘ Sieg mit einem Vorsprung von 10,5 Prozentpunkten ausweist)”, heißt es in dem Gegenbericht zur OAS.

Militär erzwingt Morales‘ Rücktritt, faschistische Milizen besetzen die Hauptstadt

Fern angebrachter Kritik, die man Präsident Evo Morales ob seiner Entscheidungen seit seiner Niederlage im Referendum von 2016, der darauffolgenden Verfassungsreform mit dem Ziel seiner erneuten Wiederwahl statt eines Rückzugs zugunsten neuer MAS-Nachfolger machen kann, hatte er bei seiner Einladung an die OAS immerhin verkündet, er werde ihre Erkenntnisse und Empfehlungen beherzigen – und das tat er auch.

Trotz seines Aufrufs zu Neuwahlen meuterte zunächst die Polizei und am Sonntag, dem 10. November, entzog ihm – in eklatanter Zurücknahme wenige Tage zuvor zugesicherter Neutralität – schließlich das Militär die Unterstützung und forderte ihn mit einer „Empfehlung“ zum Rücktritt auf.

Minuten später betraten der Vorsitzende des Pro-Santa-Cruz-Bürgerkomitees und einer der Drahtzieher des Staatsstreichs, Luis Fernando Camacho, den Regierungspalast, der von den Strafverfolgungsbehörden bewacht wurde, legten eine Bibel auf den Boden und knieten sich zum Dankesgebet „an den Herrgott“ nieder. Auf seine Befehle hin zündeten bewaffnete und vermummte Schlägertrupps – die sich mittlerweile unter die meuternde Polizei gemischt hatten – Häuser an, entführten Menschen und fesselten einen Fernsehdirektor an einen Baum.

Mit der Devise „Gott kehrt wieder in den Regierungspalast zurück!“ weihte Camacho symbolisch die Fundamentalistische Republik Bolivien mit faschistischen Zügen ein. Daraufhin erklärte Evo Morales seinen Rücktritt; ein Schritt, dem sämtliche Minister und die Vorsitzenden der Abgeordnetenkammer und des Senats folgten.

Kein Sterbenswort über das Komplott zwischen Polizei, Militär und rechtsradikalen Fundamentalisten und der in Sachen Venezuela hyperaktiven OAS, die in Lateinamerika die Geschäfte der Regime Changer der US-Regierung besorgt.

Das hindernisreiche Flugabenteuer von Bolivien nach Mexiko

Evo Morales tritt eindeutig zurück, um Blutvergießen zu vermeiden, ergreift aber wegen mangelndem Widerstand und Morddrohungen gegen sich selbst zunächst die Flucht in seine Heimatgegend Chapare. In Begleitung seines Vizepräsidenten Alvaro Linera García und der ehemaligen Senatspräsidentin und amtierenden Gesundheitsministerin Gabriela Montaño hatte Morales beim Verlassen von La Paz den Plan gefasst, nach der Landung bei Cochabamba Schutz in seiner Heimat und Coca-Anbaugegend Chapare zu suchen, um von dort mit den lokalen Gewerkschaften und Bauern offenbar den Widerstand gegen welches Regime auch immer in La Paz aufzunehmen.

Doch während der Landung auf dem Flughafen Chimoré – im zentralbolivianischen Cochabamba – erfährt er von einem Militär mit Verbindungen zum Geheimdienst, dass den Uniformierten von nicht näher genannten Auftraggebern 50.000 Dollar für seine Ermordung und Auslieferung angeboten worden waren.

In einer bisher von keinem internationalen Medium aufgegriffenen, entscheidenden Operation verhandelte der gerade zum neuen argentinischen Präsidenten gewählte Alberto Fernández mit den Präsidenten Argentiniens, Chiles, Perus und Paraguays über die Asylaufnahme oder eine Nutzung des Luftraums für eine inzwischen vom mexikanischen Präsidenten Andrés M. López Obrador nach Chimoré entsandte Maschine. Nachdem Mauricio Macri, Sebastián Piñera und der Präsident Perus Asylersuchen und gar das Überflugrecht verweigert hatten, erlaubte wenigstens die Regierung Paraguays die Nutzung ihres Luftraums, wobei die Maschine der mexikanischen Regierung eine unnötige Südschleife ziehen und den anschließenden Flug über das südliche Amazonien mit Kurs auf Mexiko antreten musste, wo Morales und seine Begleiter am 11. November feierlich empfangen wurden.

Evangelikale Faschisten und das Bolsonaro-Regime

Am Dienstag, dem 12. November, erklärt die zweite stellvertretende Vorsitzende des bolivianischen Senats, evangelikale Aktivistin und der konservativen Opposition zugehörige Jeanine Añez sich zur neuen Präsidentin Boliviens. Einer ihrer ersten Sätze ist „Die Kirchen begleiten uns auch […] Die Bibel kehrt zur Regierung zurück. Die Bibel kehrt zum Palast zurück“, und bestätigt damit die Machtübernahme in Bolivien durch die klerikal-faschistische Bewegung Luis Fernando Camachos.

Camacho, so viel ist mittlerweile bekannt, erhielt seine Instruktionen von Außenminister Ernesto Araújo und Justizminister Sergio Moro des Bolsonaro-Regimes, mit denen er im August 2019 in Brasilien zusammentraf und sich ungeniert ablichten ließ (siehe Foto); eine Liaison, die demnächst mit bisher unbekannten Unterlagen von den NachDenkSeiten dokumentiert wird.


Boliviens Putschführer Camacho (rechts) mit Bolsonaros Aussenminister Araújo (links) im August 2019 in Brasilia

Derweil erhebt sich der Widerstand der Armen, der Bergarbeiter und der mutigen Frauen in La Paz und im Hinterland. Die Widerständler fordern die Rückkehr von Evo Morales und die Verfolgung Camachos „bis in die entferntesten Winkel“. Ob Morales ihnen folgen und ob ihnen das Überleben gelingen wird, steht leider in den Sternen.

Titelbild: DFLC Prints/shutterstock.com


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