Startseite - Zurück - Drucken
NachDenkSeiten – Die kritische Website
Titel: Daniele Ganser im Interview: Der Westen ist die größte Gefahr für den Weltfrieden
Datum: 23. September 2025 um 9:00 Uhr
Rubrik: Außen- und Sicherheitspolitik, Demokratie, Friedenspolitik, Interviews, Militäreinsätze/Kriege, Strategien der Meinungsmache, Wertedebatte
Verantwortlich: Redaktion
Daniele Ganser, Schweizer Historiker und Friedensforscher, gehört zu den schärfsten Kritikern der westlichen Außenpolitik seit dem Ende des Kalten Krieges. Seine Bücher – von „NATO-Geheimarmeen in Europa“ über „Illegale Kriege“ bis zuletzt „Imperium USA“ – zeichnen ein faktenreiches Panorama militärischer Interventionen, geheimer Operationen und Machtpolitik. Ganser argumentiert, dass die USA und ihre Verbündeten seit 1991 mehr illegale Kriege geführt haben als jede andere Großmacht und dabei Millionen Opfer verursachten. Im Interview spricht er über die Rolle des Westens in Afghanistan, Irak, Libyen, Syrien und der Ukraine, über die Sprengung von Nord Stream, über den Genozid in Gaza und die Gefahr eines atomaren Schlagabtauschs – und erklärt, warum er trotz allem an die Möglichkeit von Weltfrieden glaubt. Das Gespräch führte Michael Holmes.
Die verschriftlichte Fassung des Interviews finden Sie hier:
Hallo, mein Name ist Michael Holmes, und heute ist es meine große Freude, mit Daniele Ganser zu sprechen.
Daniele Ganser: Hallo, Michael.
Hallo. Du bist Schweizer, Historiker und Friedensforscher. Du bist wahrscheinlich den meisten unserer Leser und Zuschauer bekannt. Du bist Autor vieler Bücher, darunter „NATO-Geheimarmeen in Europa“, „Illegale Kriege“ und zuletzt „Imperium USA“, das ich sehr empfehlen kann. Man hört schon ein bisschen an den Titeln, was deine Themen sind. Dein Schwerpunkt ist die USA und ihre Verbündeten, ihre Außenpolitik, vor allem der Imperialismus seit 1945 bis heute.
Wenn man dich googelt, weiß man, dass du sehr umstritten bist, das ist aber jeder, der kritisch ist gegenüber der westlichen Außenpolitik. Also das spricht nicht gegen dich. Was ich heute gerne machen würde, Daniele, wäre, dass wir ein bisschen versuchen zu erklären, was eigentlich genau dein größeres Weltbild ist und was deine Motive sind, um ein paar dieser Missverständnisse auszuräumen.
Das können wir gerne machen. Wir können transparent sagen: Wir haben uns noch nie getroffen, wir haben die Fragen nicht vorher abgesprochen. Die Leute haben ja wirklich ungeschnittenes Material. Können wir jetzt machen, und ich bin gespannt auf deine Fragen, Michael.
Okay, also wir beginnen mit einer klärenden These. Danach kommt eine provokative These. Aus deinen Büchern wird sehr klar, dass du extrem kritisch bist gegenüber der westlichen Außenpolitik seit 1945 bis heute. Die erste These: Du bist ein ausgewiesener Demokrat. Du glaubst an die positiven Kräfte der Demokratie und des Liberalismus im politischen Sinne, also nicht unbedingt an die radikale Marktwirtschaft, aber im Sinne der persönlichen Freiheiten und vor allem der Meinungsfreiheit. Statt weniger Demokratie und Meinungsfreiheit hättest du wahrscheinlich gerne mehr Demokratie und Meinungsfreiheit sowohl im Westen als auch im Rest der Welt, wobei du wahrscheinlich sagen würdest: Diese Werte kann man nicht mit Gewalt erzwingen, schon gar nicht mit militärischer Gewalt. Trotzdem wäre es wahrscheinlich wünschenswert, auch in deinem Sinne, dass mehr Demokratie und Meinungsfreiheit nach Asien, Afrika, dem Mittleren Osten und Lateinamerika kämen – durch die Menschen dort selbst.
Absolut, absolut. Ich bin Schweizer. Ich bin in der Schweiz geboren. Wir haben hier die direkte Demokratie. Das heißt, wir können über Sachfragen abstimmen. Zum Beispiel, wenn die Frage ist: Soll man eine zweite Gotthardröhre bauen? Der Gotthard ist ja ein bekannter Straßentunnel. Wenn man von Deutschland nach Italien fährt und man fährt durch die Schweiz, dann hat man oft Stau am Gotthard. Dann gab es halt diese Frage: Soll man da einen zweiten Tunnel bauen? Da konnten wir abstimmen. Wir können in der Schweiz über Sachfragen abstimmen.
Wir können auch darüber abstimmen, ob das Rentenalter für Frauen gleich hoch sein soll wie das Rentenalter für Männer, oder wir können darüber abstimmen, ob die Schweiz mehr und neue Militärflugzeuge kaufen soll. Das ist das Prinzip der direkten Demokratie. Ich bin in dem Sinn ein typischer Schweizer. Ich liebe die direkte Demokratie, und ich würde mir wünschen, dass auch in Deutschland, Österreich, auch in den USA oder in England, dass man direkt demokratische Entscheidungen zu Sachfragen fällen kann.
Ich sehe natürlich, dass das da und dort auf kommunaler Ebene möglich ist, also auf der Ebene der Gemeinde. Aber gerade bei internationalen Fragen, wenn ich zuspitzen darf, hätte ich mir gewünscht, dass die US-Bevölkerung hätte abstimmen dürfen, ob man den Irak angreift 2003, oder dass die Bevölkerung in Deutschland hätte abstimmen dürfen, ob die Bundeswehr Afghanistan angreift nach den Terroranschlägen vom 11. September 2001. Das ist ja nicht passiert.
Das heißt, bei wichtigen Fragen wird die Demokratie sozusagen ausgeschaltet.
Ich bin auch neidisch auf eure direkte Demokratie in der Schweiz. Wahrscheinlich ist die Schweiz das demokratischste Land der Welt. So, dann kommen wir gleich zur ersten provokativen These. Ich behaupte, du zeigst in deinen Büchern oder versuchst zu zeigen, dass kein Land mehr illegale Angriffskriege geführt hat als die USA, zusammen mit ihren Verbündeten, seit 1945. Du schreibst auch über die Kriege anderer Staaten. Du zeigst auch, dass die meisten dieser Kriege keinerlei Rechtfertigung hatten und verbunden waren mit schlimmen Kriegsverbrechen vor Ort.
Das ist für die meisten Menschen im Westen, vor allem für die Eliten im Westen, natürlich provokativ. Wir wollen es heute mal nicht ab 1945 machen. Das würde viel zu weit führen. Aber könntest du versuchen, kurz, zumindest plausibel zu machen, dass das auch für das 21. Jahrhundert gilt?
Die These wäre: Die USA haben mehr illegale Angriffskriege geführt, mehr Kriegsverbrechen auf dem Gewissen und mehr Leid angerichtet durch ihre Militärinterventionen und Wirtschaftssanktionen als ihre wichtigsten Gegner. Das wären China, Russland, der Iran, Venezuela. Könntest du das verteidigen?
Ja klar, das ist richtig zusammengefasst: Das ist die Basis. Das ist das Resultat meiner Forschung. Die Russen sind illegal einmarschiert in der Ukraine am 24. Februar 2022. Das ist sehr bekannt. Die Russen haben auch Syrien bombardiert ab 2015, aber das ist nicht illegal, weil damals – ab 2014 haben die Amerikaner schon in Syrien bombardiert, und die Amerikaner haben schon 2013 und vorher durch die CIA bewaffnete Einheiten in Syrien trainiert. Dann hat der gewählte Präsident Assad, damals noch im Amt, Russland um Hilfe gebeten. Also den Syrienkrieg kann man den Russen nicht anhängen, sondern das ist als Beistand im Sinne vom internationalen Völkerrecht gedeckt. Das ist die UN-Charta, das ist das Recht auf Selbstverteidigung. Da hat Assad die Russen gerufen, weil er gesehen hat, dass die Amerikaner versuchen, ihn abzuräumen.
Wenn du jetzt sagst, nicht ab 1945, eine gute Zeitachse wäre 1991. Da muss man verstehen: 1991 ist der unipolare Moment. Die Sowjetunion bricht zusammen.
Die Sowjetunion war ein großes Land, und Russland war ein Teil der Sowjetunion, auch die Ukraine oder Estland, Lettland, Litauen oder Georgien, Armenien, Aserbaidschan, Turkmenistan, Usbekistan, Kasachstan, Kirgistan und Tadschikistan. Das waren alles Teile der Sowjetunion. Dann ist die Sowjetunion zusammengebrochen, und Russland war sozusagen der Nachfolgestaat. Also im UN-Sicherheitsrat hat dann Russland den Sitz der Sowjetunion übernommen. Da war der unipolare Moment, und unipolar meint eigentlich, die Amerikaner hatten die Vorherrschaft über die Welt.
China war noch schwach, das kann man sich heute gar nicht mehr vorstellen. China ist heute sehr, sehr stark, ist hinter den USA die zweitgrößte Wirtschaftsmacht der Welt. Einige sagen schon, ist schon so stark wie die USA. Aber sagen wir mal, China ist auf Platz zwei.
Dann war eigentlich diese Zeit in den 90er-Jahren, wo man hätte sagen können: Okay, jetzt wird eine friedliche Zeit kommen. Aber dann haben die USA 1999 Serbien bombardiert, und das war eben illegal. Das war ein Angriffskrieg. Wir haben auch gesehen, dass Deutschland mitbombardiert hat und dass Dänemark mitbombardiert hat und dass Frankreich mitbombardiert hat usw. Es gab eine ganze Serie von Ländern, die mitgemacht haben 1999, wo man sich heute fragt: Warum haben die denn da mitgemacht? Das war eigentlich die Initiative von Bill Clinton.
Nach 1999 kommt eigentlich der Angriff auf Afghanistan 2001. Da ist eben sehr wichtig zu verstehen: Die Franzosen sind in Afghanistan einmarschiert. Auch die Australier und die Deutschen sind auch einmarschiert. Die Amerikaner haben natürlich den Angriff auf Afghanistan angeführt, und die Briten auch.
Die meisten Historiker in Europa und auch in den USA halten diesen Angriff auf Afghanistan für berechtigt, und ich halte ihn für nicht berechtigt. Das hat eben damit zu tun, dass ich sage, die Terroranschläge vom 11. September 2001 sind nicht geklärt. Dazu habe ich die These: WTC 7 wurde gesprengt. Darum sage ich: Der Afghanistan-Krieg ist illegal. Da muss man eben unterscheiden: Wie sieht denn dieser oder jener Historiker den 11. September? Darum wird eben dann auch Afghanistan unterschiedlich beurteilt. Ich bin ein Kritiker des Afghanistan-Krieges.
Jetzt habe ich Serbien 1999 erwähnt. Ich habe Afghanistan 2001 erwähnt. Dann 2003 haben die USA den Irak angegriffen. Da war die Geschichte mit den Massenvernichtungswaffen. Da sind sich eigentlich alle Beobachter einig: Das war ganz klar illegal. Da ist jetzt nicht so ein großer Streit wie bei 9/11 und Afghanistan, weil die Sache mit den Massenvernichtungswaffen ist dahingehend geklärt, dass Colin Powell – das war der damalige Außenminister – später auch zugegeben hat, dass es diese Massenvernichtungswaffen nie gegeben hatte, dass seine Rede vor dem UN-Sicherheitsrat eben eine Lüge und ein Schandfleck in seiner politischen Karriere war.
Dann gehen wir von 2003 weiter. Dann war eigentlich 2011 Libyen. Das war dann zur Zeit von Barack Obama. Hillary Clinton war Außenministerin. Und sie haben dann wirklich Gaddafi gestürzt in Libyen. Da bin ich auch ein Kritiker dieses Krieges. Einige Historiker sagen: Ja gut, aber dieser Krieg hatte ein Mandat des UN-Sicherheitsrates. Da bin ich auch wieder anderer Meinung. Wenn man die Protokolle vom Sicherheitsrat genau liest, dann sieht man: Die Chinesen und die Russen haben kein Veto eingelegt. Das ist richtig. Aber das Mandat, die Resolution, die damals verabschiedet wurde, gab nur das Recht für eine No-Fly-Zone, dass man sozusagen den Luftraum von Libyen übernimmt, und auf keinen Fall, dass man Tripolis oder Bengasi bombardiert oder auch Gaddafi tötet und eine neue Regierung installiert. Das heißt, ich bin auch ein Kritiker des Libyen-Krieges.
Den Syrien-Krieg haben wir schon angesprochen. Beim Syrien-Krieg, Michael, wenn ich das kurz ausführen darf, ist die Operation Timber Sycamore sehr, sehr wichtig. Das ist auch von der New York Times bestätigt. Das ist eine Operation der CIA, und die CIA hat eigentlich in Syrien alle Gegner von Präsident Assad bewaffnet, und das waren zum Teil radikale Dschihadisten. Man muss sich das mal vorstellen, dass im Krieg gegen den Terrorismus dann eigentlich Terroristen bewaffnet werden, das ist eigentlich ein Widerspruch.
Das hat dann auch dazu geführt, dass Assad gestürzt wurde und Julani jetzt eigentlich der neue Präsident ist in Syrien, der nicht gewählt wurde. Syrien war zuvor eigentlich eine pluralistische Gesellschaft. Ich möchte nicht sagen, Assad war sozusagen ein demokratischer Herrscher. Das war er in dem Sinne nicht. Er hat ja auch seine Gegner gefoltert etc. Aber der Sturz dann von Assad hat eigentlich sehr viel mit der CIA zu tun. Viele Leute haben das gar nicht im Blick, dass diese Operation Timber Sycamore ein verdeckter Krieg der CIA gegen Assad war. Jeffrey Sachs, amerikanischer Ökonom, hat das gut aufgegriffen. Auch andere haben dazu gearbeitet. Das wäre dann Syrien.
Vielleicht kann man ziemlich schnell dann zum Ukraine-Krieg kommen. Der Ukraine-Krieg – viele haben das Gefühl, dass er 2022 begonnen hat. Das stimmt so nicht. Er hat 2014 begonnen. Zwar gab es damals einen Putsch in der Ukraine, in Kiew. Da gab es ja diese Demonstrationen auf dem Maidan, und Janukowitsch wurde gestürzt. Da sind sich jetzt alle einig, dass das so ist. Einige sind sich nicht einig, wer den Putsch gemacht hat. Wenn du so ein bisschen herausfinden möchtest, warum – was ist denn der Streit mit Daniele Ganser? – ich sage halt, das war ein amerikanischer Putsch. Ich sage: Victoria Nuland und ihr Gespräch mit Geoffrey Pyatt, das abgehört wurde. Geoffrey Pyatt war der amerikanische Botschafter in Kiew. Das habe ich auch hier in meinem Buch „Imperium USA” drin.
Das war ein amerikanischer Putsch, und man hat eigentlich den Präsidenten damals in der Ukraine gestürzt, weil er die Ukraine nicht in die NATO reinnehmen wollte. Das hat dann eigentlich zum Chaos in der Ukraine geführt, das wir heute haben. So zusammengefasst siehst du, habe ich einige Kriege, die ich den USA oder der NATO anlaste, und auch Kriege, die ich den Russen anlaste. Den Chinesen kann ich jetzt, wenn du sagst ab 1991, gar keine Kriege anlasten. Die Chinesen haben ab 1991 gar keinen Krieg geführt. Wenn man früher zurückgeht, kann man Tibet nehmen, die Invasion von Tibet, und Vietnam. Aber jetzt, in den letzten 30 Jahren, sehe ich das nicht.
Das bedeutet, wenn ich die drei vergleiche – also USA, Russland und China über die Zeitachse 1991 bis 2025 -, dann haben die USA eindeutig am meisten illegale Kriege geführt.
Super, sehr schön. Man könnte noch ergänzen: Über Somalia hätte man noch sprechen können, Ruanda und Kongo, viel zu unbekannt. In Lateinamerika natürlich.
Venezuela, den versuchten Putsch gegen Maduro. Es gäbe noch mehr Daten, aber das sind eigentlich die bekannten. Ich habe jetzt auch Israel/Gaza rausgelassen, aber das sind eigentlich die bekannten großen Konflikte: Irak, Libyen, Serbien und Afghanistan. Das sind die großen fünf.
Dann kommen wir gleich zur nächsten klärenden These. Dir wird dann vorgeworfen, unter anderem von der FAZ, genau wie auch uns, den NachDenkSeiten, du würdest sympathisieren, ein Freund sein von Putin und Xi Jinping, dem Iran, Hamas und Kuba usw. Das wäre seltsam. Du hast vorhin schon gesagt, dass du Demokrat bist.
Warum klingt es manchmal so, als ob wir Russland und China verteidigen? In gewisser Hinsicht verteidigen wir sie ja durchaus. Es geht ja darum, auch ihre Perspektive einzunehmen, wenn man mit Diplomatie Frieden schaffen möchte. Könntest du das kurz ausführen? Bist du ein Freund von Putin? Oder warum versuchst du Verständnis für die russische Sichtweise, zum Beispiel, die chinesische Sichtweise oder die iranische Sichtweise zu erheischen?
Es ist natürlich so, dass ich sage: Deutschland sollte keine Waffen in die Ukraine liefern. Das habe ich sofort gesagt nach der russischen Invasion. Die war ja am 24. Februar 2022. Das habe ich dann gepostet, auf Facebook und auf Instagram oder auf Telegram oder was es da alles gibt, auch auf meinem YouTube-Kanal.
Ich kann ja das eigentlich nicht mehr auf ARD oder auf SRF oder auf FAZ schreiben, weil in diesen Zeitungen ist ja ein sehr, sehr enger Korridor. Der Meinungskorridor ist so: Die Experten dürfen schreiben, aber nur die Experten, die mit der Regierung einverstanden sind. Das war vorher auch bei Corona so im Sinne von: Es gibt Experten, und die Regierung hat sie ausgewählt, und jetzt ist die Regierung erstaunt, dass die Experten mit der Regierung einverstanden sind. Ich meine, sie wählen ja nur die Experten. Die Regierung wählt ihre Experten aus und sagt dann: Die Experten sind mit uns einverstanden. Das hat überhaupt nichts mit Wissenschaft zu tun. Es gab sowohl während der Corona-Zeit sehr gut ausgewiesene Ärzte, Experten etc., die gesagt haben: Ihr macht das falsch. Die wurden dann eben nicht eingeladen von ARD oder ZDF oder nur so in einer Konstellation vier zu eins und dann niedergemacht.
Genau gleich beim Ukraine-Krieg. Da bin ich ja nicht der Einzige, der sozusagen erstens nicht eingeladen wird und zweitens diffamiert wird. Zum Beispiel Ulrike Guérot, die ich kenne, die ich schätze. Die ist eine sehr kluge Frau, die hatte eine Professur, die ihr dann irgendwie weggenommen wurde, weil sie bei Markus Lanz, einer bekannten Sendung, gesagt hat: Man sollte jetzt nicht einfach nur auf Waffenlieferungen in die Ukraine setzen, sondern man sollte das Gespräch suchen. Man sollte Diplomatie wagen.
Da hat sie natürlich, weil sie eine überzeugte Europäerin ist, einfach gesagt: Aber wir Europäer in Europa, wir können uns doch nicht einfach umbringen. Russland bis zum Ural ist ja ein europäisches Land. Die Ukraine ist ein europäisches Land: Deutschland, Frankreich, England. Wir sind doch alles Europäer! Lasst uns doch bitte sozusagen zusammenarbeiten. Lasst uns doch sozusagen nicht einfach nur mit den Waffen gegeneinander losrennen und uns erschießen.
Das ist eine völlig korrekte Position. Ich meine, ich liebe Ulrike für diese Aussage. Aber dann wurde sie ja geteert und gefedert. Man hat ihr alles Böse vorgeworfen. Jetzt, drei Jahre später, zeigt sich: Sie hat recht. Aber eine Million Tote später, muss ich schon fast sagen, zeigt sich: Sie hat recht. Gabriele Krone-Schmalz ging es genau gleich. Die hat auch gesagt: Waffenlieferungen aus Deutschland in die Ukraine sind falsch.
Ich habe das gesagt, und dann gab es eben diese Artikel „Ganser, der Putin-Versteher” oder auf Tagesschau gab es „Die falschen Experten”. Da wurde dann ein Bild von mir und von Gabriele Krone-Schmalz und Ulrike Guérot gezeigt. Auch Albrecht Müller wird ja manchmal dann auch angegriffen, weil er sagt: Hallo, es ist nicht die Tradition der europäischen, sage ich mal, führenden Intellektuellen, dass wir sagen: ‘Jetzt müssten wir mal wieder einen Krieg gegen Russland haben. Das hat schon bei Napoleon und Hitler super geklappt. Also machen wir doch das bitte noch mal.’ Sondern Albrecht Müller hat auch immer daran erinnert, dass ein Willy Brandt oder ein Helmut Schmidt, die Bundeskanzler waren in Deutschland, dass die eben niemals in eine Konfrontation mit Russland gegangen wären. Deutschland ist ein mächtiges Land. Russland ist ein mächtiges Land, und Russland hat sehr viele Rohstoffe: Öl und Gas. Wenn Deutschland diese Rohstoffe benutzen kann, dann hat Deutschland günstige Energie, und mit dieser günstigen Energie kann Deutschland eine prosperierende Wirtschaftsnation sein. Deutschland gehört zu den fünf größten Wirtschaftsnationen der Welt von 193 Ländern. Das muss man sich mal wieder in Erinnerung rufen.
Die Amerikaner haben die Nord-Stream-Pipeline gesprengt – Seymour Hersh hat das aufgeklärt – heißt natürlich wieder: ‘Verschwörungstheorie! Stimmt nicht. Die Ukrainer waren es.’ Da kann man lange darüber sprechen, aber ich folge da Seymour Hersh: Die Amerikaner haben Nord Stream gesprengt – Deutschland hat hohe Energiepreise, und man sieht, die deutschen Konzerne gehen runter, die haben zu hohe Energiepreise. Deutschland verliert im Moment eigentlich diese Standortvorteile.
Darum ist es wirklich erstaunlich, dass die meisten Politiker sozusagen diese Spaltung gegenüber Russland weiter vorantreiben. Ich sehe es eben ganz anders. Ich sehe es so, dass man wieder Freundschaft mit Russland pflegen sollte und dass man die Nord-Stream-Pipeline wieder eröffnen sollte, um günstiges Erdgas in Deutschland zu haben.
Dafür werde ich natürlich kritisiert, dass ich Putin verstehe. Aber ich habe Putin noch nie getroffen.
Ich sage einfach, es hat überhaupt nichts mit Putin zu tun. Putin wird irgendwann sterben, und dann wird ein anderer Politiker in Moskau an der Macht sein. Aber das bleibt trotzdem ein Nachbarland von Deutschland. Ich weiß, es ist nicht ein direktes Nachbarland. Ich kenne schon die Landkarte, und da liegt ja noch Polen und die Ukraine und Weißrussland. Aber wenn man es vereinfacht, sind Deutschland und Russland Nachbarländer. Das bedeutet: Für Nachbarländer ist es immer viel besser, man geht in den Handel, man geht in den Austausch. Also günstiges Erdgas über eine Pipeline von Russland nach Deutschland zu liefern – etwas Klügeres gibt es nicht. Ich verstehe nicht, warum man das nicht tut.
Ich habe die nächste provokative These, nämlich: Der Westen hat nicht nur die meisten Kriegsverbrechen begangen im 21. Jahrhundert, sondern auch einige der schlimmsten. Ich denke vor allem an die Genozide in Gaza und davor im Jemen – schon fast vergessen, der Jemen. Wir haben auch viele der schlimmsten Diktaturen unterstützt, vor allem in Saudi-Arabien, die Vereinigte Arabische Emirate, Aserbaidschan und – fast völlig unbekannt – in Zentralasien in den Stans. Wir haben, glaube ich, in jedem der fünf Stans – Usbekistan, Tadschikistan, Kasachstan usw. – fürchterliche Diktaturen unterstützt.
Könntest du das ein bisschen ausführen? Würdest du dieser These zustimmen, dass wir auch viele der schlimmsten Verbrechen und der schlimmsten Diktaturen unterstützt haben im 21. Jahrhundert?
Ich würde da wirklich Gaza jetzt herausgreifen, wenn du das schon ansprichst. Ich habe mich natürlich auch mit der Geschichte von Israel beschäftigt, habe wenig dazu geschrieben. Im Buch „Imperium USA“ habe ich praktisch noch gar nicht darüber geschrieben. Aber ich beobachte natürlich, dass es eine extreme Solidarität gibt vonseiten der USA und vonseiten von Deutschland mit der israelischen Regierung, und dass jegliche Kritik an Premierminister Benjamin Netanyahu als Antisemitismus auf die Seite geschoben wird. Das halte ich für falsch, weil natürlich muss man die israelische Regierung kritisieren für das, was im Moment im Gazastreifen vor sich geht. Ich bin der Meinung, es ist ein Genozid.
Da können jetzt natürlich die verschiedenen Beobachter andere Meinungen haben, und ich finde, das kann man auch diskutieren. Einige sagen: Nein, es ist kein Genozid, es ist einfach eine große Hungersnot. Andere sagen: Es ist Terrorbekämpfung. Das ist ja das Narrativ, das Netanyahu gebraucht, dass er sagt: Es ist kein Genozid. Es ist Terrorbekämpfung. Wir bekämpfen die Hamas usw. Da kann jeder sich einbringen und seine Sichtweise sozusagen darlegen. John Mearsheimer, amerikanischer Professor, sagt: Es ist Genozid. Es sind schon ziemlich viele. Jeffrey Sachs, auch ein amerikanischer Professor, jüdischer Professor. Es sind eigentlich jetzt einige, die diese Einschätzung haben.
Warum? Das ist nicht nur, weil Südafrika jetzt geklagt hat und eben geklagt hat, dass Israel einen Genozid begeht, sondern weil eben im Moment ein Aushungern passiert. Wir sind jetzt im September 2025, und es tut mir natürlich im Herzen leid, dass Leute gerade jetzt ausgehungert werden, absichtlich.
Man kann dann sagen: Nein, das stimmt gar nicht. Die haben genügend zu essen. Aber wenn man in die Daten einsteigt, sieht man: Okay, nein, die haben nicht genügend zu essen. Dann kann man sagen: Warum haben die denn nicht genügend zu essen? Denn gibt es irgendwie auf der Welt nicht genügend essen, diese zwei Millionen Menschen im Gazastreifen zu ernähren? Natürlich gibt es genügend. Wir können so viel Essen produzieren als Menschheitsfamilie. Wir sind durchaus fähig, genügend Essen zu produzieren und das in den Gazastreifen zu liefern.
Aber dann ist die Frage: Wie kommt man rein? Dann sieht man, dass eigentlich die IDF, die Israeli Defence Forces, die Kontrolle über den Gazastreifen haben, und die IDF untersteht natürlich dem Kommando von Premierminister Benjamin Netanyahu. Ich habe den Eindruck, dass er einfach die Lage im Gazastreifen so aussichtslos wie möglich gestalten möchte, damit diese zwei Millionen Palästinenser weggehen. Die gehen aber nicht weg.
Das ist meiner Meinung nach ein Genozid, der eben von Deutschland und den USA unterstützt wird. Die Amerikaner liefern Waffen. Die Deutschen haben Waffen geliefert, jetzt ist es ein bisschen hin und her: Wir liefern keine Waffen mehr. Aber die Diskussion in Deutschland ist total blockiert. Man darf öffentlich fast nicht sagen: Es gibt einen Genozid im Gazastreifen. Wer das sagt, wird sofort angegriffen. Ich bin eigentlich gewohnt, dass ich angegriffen werde. Ich habe gesagt: 9/11 glaube ich nicht. Da habe ich gesagt: Bitte, WTC 7 wurde gesprengt. Dann hieß es: Herr Ganser, Sie sind ein Verschwörungstheoretiker. Dann 2014 habe ich gesagt: Das war ein Putsch der USA in Kiew. Dann hieß es: Herr Ganser, Sie sind ein Putin-Versteher. Während Corona habe ich gesagt: Diese Impfung mache ich nicht. Ich traue der nicht. Dann hieß es: Corona-Leugner.
Jetzt habe ich gesagt: Das ist ein Genozid im Gazastreifen. Dann heißt es: Sind Sie Antisemit?
Also, hallo, was ist denn das für eine Art zu diskutieren? Man geht ja gar nicht auf die Fakten ein und sagt: Okay, Moment. Was ist die Sachlage vor Ort? Oder was ist dann WTC 7 oder was ist dieser Putsch? Sondern es wird so mit Schlagwörtern gearbeitet. Ich bin nicht Mitglied einer politischen Partei. Ich bin parteilos. Ich muss also nicht sozusagen fragen: Was sagt die Parteileitung? Früher war ich ja an der ETH Forschungsstelle für Sicherheitspolitik. Ich war aber auch an der Universität Basel und an der Universität Zürich und an der Universität St. Gallen und an der Universität Luzern und habe unterrichtet. Wenn man noch angestellt ist an einer Universität, dann kann das auch heikel sein, wenn man zum Beispiel sagt: 11. September, das stimmt so nicht. Das habe ich selber erfahren.
Aber jetzt habe ich mein eigenes Institut. Nun kann kein Rektor anrufen und sagen: Sie verlieren ihren Lehrauftrag oder ihre Stelle. Ich bin auch nicht in irgendeiner Kirche. Ich bin weder bei den Protestanten noch bei den Katholiken noch bei den Juden noch bei den Muslimen noch bei den Hindus irgendwie organisiert. Nichts. Ich bin völlig frei.
Diese Freiheit nutze ich, und das sage ich ganz ehrlich, Michael, nach bestem Wissen und Gewissen mir ein Bild zu machen. Ich verurteile auch den Anschlag der Hamas vom 7. Oktober 2023, und gleichzeitig verurteile ich den Genozid. Man kann durchaus beides verurteilen.
Selbstverständlich. Dann habe ich noch eine klärende These. Uns wird oft vorgeworfen, dir oder auch uns von den NachDenkSeiten, dass wir uns nur auf Verbrechen des Westens konzentrieren, uns nicht genug interessieren für Konflikte, die sehr wenig oder sogar gar nichts zu tun haben mit westlicher Außenpolitik. In letzter Zeit wären dazu besonders zu nennen: Die großen Kriege in Äthiopien und im Sudan.
In beiden Ländern hat der Westen auch in der Vergangenheit, im Kalten Krieg und davor schlimme Verbrechen begangen. Der Sudan war ja auch eine britische Kolonie, aber jetzt die letzten Kriege – es gibt natürlich sehr indirekte Verbindungen. Zum Beispiel haben die Vereinigten Arabischen Emirate, ein wichtiger Verbündeter des Westens, da viel Dreck am Stecken im Sudan. Trotzdem denke ich, dass diese Kriege sich vor allem aus internen Ursachen erklären und wirklich sehr groß waren, also zwei der größten Kriege der letzten Jahre.
Da könnte man uns fragen: Warum interessiert uns das so wenig? Erst mal könnten wir sagen: Das interessiert die meisten unserer Kritiker auch sehr wenig. Die schreiben auch sehr wenig darüber. Ich finde es übrigens schade. Man sollte sich mehr dafür interessieren. Aber mein Argument ist zu sagen: Gerade weil es wenig mit uns zu tun hat, kann ich persönlich wenig dazu beitragen, dass sie geschlichtet werden.
Ich interessiere mich vor allem auch für den Genozid in Gaza, weil meine Regierung so lange Waffen geliefert hat an diese Regierung, und weil die USA, und wir sind Teil des westlichen Bündnisses, der NATO usw., diesen Genozid so extrem unterstützen. Wäre ich Äthiopier oder Sudanese, würden mich sicherlich diese Kriege mehr interessieren. Sie sollten uns auch mehr interessieren, aber das ist das, was ich zu meiner Verteidigung zu sagen habe, warum ich bis jetzt keinen Artikel über diese Kriege geschrieben habe. Was sagst du dazu?
Bei mir ist es ähnlich. Ich sage, das sind sicher wichtige Themen: Äthiopien und Sudan. Venezuela ist wichtig. Ich habe auch mal einen Vortrag über Venezuela gemacht. Dann kommen natürlich immer auch die Nachfragen: Können Sie nicht noch mal mehr jetzt zu diesem oder jenem Land arbeiten? Das sind 193 Länder, und ich kann ganz klar nicht zu allen Ländern arbeiten. Das wäre auch unseriös, sozusagen noch zu sagen: Ich bin jetzt noch der Äthiopien-Experte. Das bin ich nicht, sondern ich habe wirklich mit dem US-Imperialismus am meisten Erfahrung. Ich kenne da natürlich auch die Präsidenten. Ich kenne die Außenminister. Ich weiß, wie die verschiedenen Akteure heißen, auch über die Jahre.
Dann ist es tatsächlich auch so, dass ich mir sage: Zum Beispiel, jetzt bin ich Schweizer, und die Schweiz hat jetzt diese Wirtschaftssanktionen gegenüber Russland übernommen. Das war so: Am 24. Februar 2022 ist Russland in der Ukraine einmarschiert, und nur vier Tage war die Schweiz neutral. Dann hat unser Außenminister Ignazio Cassis, unser Bundesrat – wir haben ja sieben Bundesräte – gesagt: Die Schweiz übernimmt diese Wirtschaftssanktionen gegenüber Russland, obwohl diese nicht vom UN-Sicherheitsrat verhängt wurden. Das waren Sanktionen der Europäischen Union, und die Schweiz ist ja nicht Mitglied der Europäischen Union. Also habe ich gesagt: Das ist ein Fehler. Die Schweiz gibt hier die Neutralität auf.
Darum ist zum Beispiel die Ukraine, wenn ich jetzt das vergleiche mit Äthiopien, für mich einfach als Thema viel näher. Es ist viel näher dran, weil mein Land sozusagen die Neutralität aufgibt. Da muss ich schon hinschauen: Warum tut sie das? Dann sehe ich das in der Schweiz, in der Medienlandschaft – wir haben ja SRF, unser Leitmedium, und da wird eine – ja, muss ich schon sagen – einseitige Erzählung erzählt. Da heißt es einfach: Der Ukraine-Krieg fing mit der russischen Invasion an. Also sage ich immer: Das stimmt einfach gar nicht. Schon 2008 haben die Probleme angefangen, als Bush in Bukarest die Ukraine eingeladen hat, NATO-Mitglied zu werden, und auch Georgien. Dann gab es ja 2008 den Georgien-Krieg etc. Das heißt, ich sehe es auch so, Michael, dass eigentlich die Themen, die uns direkt betreffen – das heißt: Sprengung von Nord Stream, Krieg in der Ukraine, Terroranschläge vom 11. September, Invasion in Afghanistan, Aufweichung der Neutralität in der Schweiz – die Themen behandle ich natürlich mehr. Das ist klar, weil sie mich mehr interessieren, weil sie mich mehr betreffen, weil sie meine Freunde, meine Familie betreffen.
Wir diskutieren natürlich über 9/11.
Wir diskutieren tatsächlich nicht über Äthiopien. Damit möchte ich nicht sagen, dass Äthiopien nicht interessant ist. Aber es ist auch bei den Menschen, die zu meinen Vorträgen kommen oder die meine Bücher lesen. Die wollen natürlich auch wissen: Wie ist das übrigens mit dem Ukraine-Krieg passiert? Muss jetzt mein Sohn bald in die Bundeswehr im Sinne, dass er dann in die Bundeswehr geht, danach in die Ukraine und kämpft gegen die Russen? Also, was läuft da? Das betrifft die Leute viel, viel mehr. Ich glaube, so ist es normal auch.
In Venezuela wäre auch sehr, sehr spannend. Ich bekomme da immer wieder: Können Sie mehr zu Maduro arbeiten? Hat Trump versucht, Maduro zu stürzen? Ich habe da extra auch mal einen Vortrag gemacht. Es ist nicht so, dass ich nichts zu Afrika mache. Ich habe zu Libyen gearbeitet, der Libyen-Krieg 2011. Aber natürlich auch vor allem, weil dort die Amerikaner bombardiert haben. Immer wenn die Amerikaner bombardieren, schaue ich ein bisschen genauer hin, vor allem, wenn dann noch die Briten und die Franzosen und die Norweger auch gleich noch mit bombardieren.
Jetzt habe ich noch eine sehr provokante These für dich, vielleicht zum Abschluss, nämlich dass die größten existenziellen Bedrohungen für die Menschheit auch zu einem großen Teil – natürlich nicht alleine – auch in der Verantwortung des Westens liegen. Ich denke, ich mache eine Reihenfolge, in der ich es sehe. Du kannst das anders sehen.
Die drittgrößte Bedrohung, würde ich sagen, ist die Klimaerwärmung, und da ist es ganz zweifellos, wenn man sich die historischen Emissionen anguckt: Das Meiste ist bis heute der Westen, und wir tun viel zu wenig, die Klimaerwärmung zu besiegen. Die meisten Opfer sind natürlich im Globalen Süden, nicht bei uns.
Die zweitgrößte existenzielle Bedrohung in meinen Augen ist ein atomarer Holocaust. Das wäre vor allem, wenn es zum atomaren Schlagabtausch zwischen Russland und dem Westen kommt. Dazu würde ich persönlich – da können wir nicht ins Detail gehen, leider –, aber ich würde behaupten, dafür tragen die USA und ihre Verbündeten genauso viel Verantwortung wie Russland. Wir müssen beiden Seiten in diesem völlig unverantwortlichen Krieg wirklich vorwerfen, mit dem Schicksal der Menschheit zu spielen in der Ukraine. Das ist eigentlich auch ein total unterschätzter Skandal.
Die größte existenzielle Bedrohung für die Menschheit ist in meinen Augen das KI-Wettrüsten zwischen den USA und China. Die KI wird ja viel zu wenig reguliert in den USA und auch in China. Der Grund ist, weil sie zuerst die Super-KI entwickeln wollen, um dann sozusagen die Weltherrschaft für sich allein beanspruchen zu können. Also beide Seiten wollen unbedingt dieses Wettrüsten gewinnen und so schnell wie möglich und ohne Regulierung KI schaffen. Das macht die Wahrscheinlichkeit viel größer, dass die KI, statt zum Wohle der Menschheit eingesetzt zu werden – Krankheiten zu bekämpfen, Armut zu bekämpfen, Klimaerwärmung zu bekämpfen –, dass sie am Ende zum Schaden der Menschheit eingesetzt wird, vielleicht sogar uns alle vernichtet. Ich bin kein KI-Experte, aber einige KI-Experten sagen, das ist ein reales Risiko.
Man muss natürlich auch sagen: Für dieses KI-Wettrüsten trägt die USA und der Westen mit seiner ständigen Dämonisierung von China und Provokationen gegenüber China genauso viel Verantwortung wie China selbst. Mindestens.
Das sind alles wichtige Themen. Ich bin natürlich, sage ich mal, von meiner Arbeit her vor allem mit dem Thema der Gewalt immer wieder sozusagen in Kontakt und überlege mir: Warum bringen wir uns überhaupt untereinander um? Das ist eigentlich so die Grundfrage, die mich schon – jetzt bin ich 53 – also diese Frage beschäftigt mich, seit ich 18 bin. Eigentlich habe ich früher, weißt du, bevor ich 18 war, da habe ich irgendwie Handball gespielt und bin Motorrad gefahren – nein, das durfte ich noch nicht, das war mit 19 oder 20. Das hat mich nicht so brennend interessiert, warum wir uns töten. Aber dann habe ich Geschichte studiert an der Universität Basel. KI gab es da noch gar nicht. Diese ganze Diskussion war da nicht da. Atomwaffen, das war schon ein bisschen da, hat man sich gedacht: Wenn jetzt alle gleichzeitig ihre Atombomben zünden, dann ist aber auch Ende Gelände. Dann habe ich mir überlegt: Warum bringen wir uns um?
Ich glaube, meiner Meinung nach – ich will jetzt deinen Fragen nicht ausweichen, aber ich bin wirklich bei der KI selber noch so am Lernen. Ich frage mich: Ist das jetzt etwas Gutes? Ist das etwas Schlechtes? Was passiert da genau? Ich würde natürlich allen sagen: Schaut das Thema an. Es ist sehr spannend. Ich habe kürzlich ein Gespräch von Kayvan Soufi-Siavash mit ChatGPT von OpenAI mir angehört, wie es dann darum ging, wie ChatGPT eigentlich verschiedene Diskurse einordnet. Dann fragt dieser Journalist, der früher Ken Jebsen hieß – den ich natürlich gut kenne und auch schätze – er fragt dann ChatGPT: Mach mal eine Liste von Menschen im deutschsprachigen Raum, die sozusagen schlecht dargestellt werden durch ChatGPT. Dann kommt eben Kayvan Soufi-Siavash in dieser Liste vor. Ich komme auch in dieser Liste vor als jemand, der dann schlecht dargestellt wird, weil ChatGPT sehr stark von Wikipedia eigentlich die Daten zieht, und Wikipedia – habe ich ja schon einen sehr schlechten Eintrag. Dann sagt er: Und wer wird denn geschützt? Dann sagt er: Bill Gates zum Beispiel, der amerikanische Milliardär, wird geschützt, und Benjamin Netanyahu wird geschützt und noch ein paar andere mehr.
Das finde ich einfach interessant, dass wir uns auch hier klarmachen, weil die Menschen ja immer mehr ChatGPT nutzen, man soll nicht einfach blind glauben. Ich denke, das ist ein gutes Instrument, zu recherchieren. Aber man soll, wie wenn man eben die Neue Zürcher Zeitung liest oder wenn man Spiegel liest, sich immer noch fragen: Wer schreibt eigentlich das? Ist das wahr? Gibt es auch eine andere Sicht? Also kritisches Denken nicht jetzt einfach an die KI auslagern.
Die andere Frage, warum wir uns überhaupt töten und ob es möglich ist, dass wir mit der Natur in einer viel achtsameren Koexistenz sind – das war ja die Frage nach dem Klima. Da ist bei mir noch die Erinnerung: Weißt du, als ich jung war, war so die Diskussion Abholzung der Regenwälder. Aber warum holzen wir die Regenwälder ab? Das ist doch so wertvolle Vegetation. Wenn das mal weg ist, und dann die Rinder da ein paar Jahre grasen, und dann gibt es irgendwie Fleisch für einen Hamburger, und dann kommt der Wind und der Regen, und die ganze gute Humusschicht wird abgetragen, und dann haben wir eine Wüste.
Das war so. Ich bin auch einer, der sagt: Unbedingt versuchen, als Menschheitsfamilie in einen achtsamen Umgang mit der Natur zu kommen. Es macht ja keinen Sinn, dass eben Plastik im Pazifik treibt. Das sind diese Prozesse. Da würde ich eben dieses Verhältnis von Mensch zu Natur ein sehr wichtiges Verhältnis nennen, wo wir achtsamer sein sollten. Da hat der Westen sicher viel Zerstörung angerichtet. Das war ja deine Frage nach der Rolle des Westens. Auch im Bereich der Gewalt haben wir natürlich 500 Jahre Vorherrschaft von Europa. Das muss man sich auch mal – das haben viele wieder vergessen.
Ich sage dann immer: Ihr schaut euch zum Beispiel an: Was sind denn die Sprachen, die in Nord- und Südamerika gesprochen werden? In den USA wird Englisch gesprochen, in Kanada wird Englisch und Französisch gesprochen. In Mittelamerika ist es Spanisch, in Südamerika Portugiesisch und Spanisch. Das sind ja alles europäische Sprachen. Schon rein von der Sprachstruktur dieser Länder sieht man: Die Europäer sind über den Atlantik gefahren und haben die indigenen Völker ausgerottet und haben sich dann ausgebreitet. Das ist einfach so passiert. Da kann man jetzt nichts dafür, wenn man 2010 geboren ist, aber das muss man schon zur Kenntnis nehmen. Diese 500 Jahre europäischer Kolonialismus hat sich auch über Afrika ausgegossen, wenn man so will. In vielen Ländern von Afrika wird ja Französisch gesprochen, nicht jetzt als erste Landessprache. Warum spricht man hier Französisch? Es war eine französische Kolonie, oder man spricht dann Englisch etc. Australien, Neuseeland, genau das Gleiche. Das war ja nicht die ursprüngliche Sprache, Englisch dort, sondern da gab es ja auch die Aborigines, und die wurden eben ausgerottet oder an den Rand gedrängt.
Dieser europäische Imperialismus und Kolonialismus, mit dem habe ich mich sehr intensiv beschäftigt, und dann vor allem als Spezialform den US-Imperialismus ab 1945 mit dem Abwurf der Atombomben auf Hiroshima und Nagasaki. Dann habe ich einfach gesehen, dass eigentlich die zwei Länder, die dann eben nicht unterworfen durch die Europäer oder, sagen wir mal, nicht dauerhaft unterworfen waren, eben Russland und China sind. Die Briten haben natürlich schon Hongkong und andere Kolonien gehabt, und die Deutschen haben auch dann gebrandschatzt in China. Aber es gab nie diese Art Zerstörung, wie sie eben in Südamerika war. Da gibt es ja keine indigene Kultur in dem Sinne mehr. Die chinesische Kultur hat überlebt. Es gibt die chinesische Sprache, man spricht jetzt nicht einfach Englisch in China etc. Das ist eigentlich etwas, was mich immer wieder bewegt.
Da hoffe ich, dass wir – und du hast die Atombomben angesprochen – dass wir lernen, in einen respektvollen Umgang zu kommen. Eigentlich haben die Russen etwa 6.000 Atombomben. Die Amerikaner haben etwa 6.000. Es gibt also 12.000 Atombomben. Die Chinesen, ich glaube, haben nur etwa 600. Wir haben noch nicht so viele. Die Franzosen und die Israelis und die Pakistaner und die Inder und die Engländer haben auch nur wenige. Also, eigentlich sind 90 Prozent der Atombomben entweder in der Hand von Moskau oder in der Hand von Washington.
Ich finde es einfach wichtig, und ich glaube, das ist auch keine übertriebene Forderung, dass die zwei die Atombomben nicht abfeuern. Das ist einfach für mich – meine Kinder und für alle anderen, die hier auf der Erde sind –, ist das einfach eine Forderung, die ich da habe, wo ich sage: Ich möchte bitte keinen Atomkrieg. Viele verstehen gar nicht – die denken ja: Gut, wenn eine Atombombe in Moskau landet, dann sind die Russen platt, oder umgekehrt, wenn eine Atombombe in Washington landet, dann sind die Amerikaner platt. Sage ich immer: Leute, so ist das nicht, sondern die haben absichtlich noch überall U-Boote, die können auch Atombomben abschießen. Das ist dann die Zweitschlagfähigkeit. Da weiß man gar nicht, wo die sind. Wenn einer anfängt, dann nimmt das ein schlechtes Ende.
Darum: Ja, das sind große Herausforderungen, die wir haben im 21. Jahrhundert, aber trotzdem bin ich optimistisch. Ich bin der Meinung, wir haben die Fähigkeit einfach als Menschheitsfamilie. Wir haben die Fähigkeit, über diese Dinge zu sprechen, dann darüber nachzudenken und gute Lösungen zu finden. Es ist nicht notwendig, dass die absoluten Hitzköpfe sozusagen die internationale Politik übernehmen.
Ich habe jetzt eigentlich auch dieses Treffen von Putin und Trump in Alaska. Da gibt es jetzt kein Transkript, was die besprochen haben. Als Historiker würde ich mich natürlich freuen, hätte ich das Transkript von Putin und Trump in Alaska – habe ich nicht. Da bin ich auch am Spekulieren. Aber ich habe doch den Eindruck, dass sie versuchen, diesen Krieg in der Ukraine zu beenden. Im Gegensatz zu den Europäern – also bei Keir Starmer und Emmanuel Macron und auch bei Bundeskanzler Merz habe ich nicht den Eindruck. Da habe ich immer noch das Gefühl, dass sie sagen: Die Ukraine muss noch lange weiterkämpfen. Aber das ist jetzt vielleicht eine bisschen lange Antwort. Ich möchte doch auch unterstreichen, dass ich jetzt schon so viele Konflikte untersucht habe, dass ich immer auch betonen möchte: Die Mehrheit der Menschen will diese Konflikte einfach nicht. Wir sind die Mehrheit. Auch die Menschen in der Ukraine.
In weltweiten Meinungsumfragen sind, glaube ich, die Mehrheit der Menschen gegen all diese Kriege.
Absolut. Sogar in der Ukraine ist die Mehrheit der Menschen der Meinung, der Krieg muss aufhören. Diese Darstellung, wie wir sie dann manchmal bekommen, dass Krieg immer notwendig ist oder schon fast, dass ein Genozid hin und wieder notwendig ist – das ist absoluter Irrsinn. Es ist überhaupt nicht notwendig.
Wir beweisen ja eigentlich als Menschheitsfamilie, dass wir durchaus respektvoll miteinander umgehen können. Wir sind 8 Milliarden, und ein Prozent von 8 Milliarden wäre 80 Millionen. Das wäre die Bevölkerung von Deutschland. Wenn ich jetzt die ukrainische Armee nehme, die russische Armee, die israelische Armee, noch die Hamas – man kann auch noch die Hisbollah nehmen, andere Kampfeinheiten – da komme ich nie auf 80 Millionen. Dann bedeutet das ja eigentlich, dass die kämpfenden Einheiten – natürlich, es gibt auch noch die Rüstungskonzerne usw., kommt immer drauf an, wie lang man die Kette spannen will. Wenn man bis zu BlackRock und dann Vanguard gehen will, sind es natürlich mehr. Aber die rein kämpfenden Einheiten, das ist weniger als ein Prozent der Weltbevölkerung.
Wenn dann 99 Prozent diesem einen Prozent sagen: Du, es reicht! Wir wollen jetzt nicht mehr diese Kriege – dann muss das doch möglich sein. Ich finde auch, manchmal haben die Leute so ein bisschen das Gefühl, dass sie sagen: Ukraine-Krieg und Gaza-Krieg, wir löschen uns aus. Dann sage ich: Nein, das ist nicht so. Es kommen eigentlich pro Tag etwa 380.000 Menschen auf die Welt, also Neugeborene. Das sind viele. Da kann man nicht allen eine Glückwunschkarte schicken. Gleichzeitig haben wir etwa 180.000, die sterben – natürlich nicht Neugeborene, sondern vor allem alte Menschen, aber auch gewisse Menschen sterben schon in der Jugend oder sterben, wenn sie 50 sind, irgendwo. Das sind 180.000.
Dann haben wir also Nettozuwachs pro Tag von 200.000. Wenn ich das summiere übers Jahr, haben wir einen Zuwachs von 80 Millionen. Das heißt, die Weltbevölkerung wächst pro Jahr etwa um die Größe von Deutschland. Wenn ich dann das überlege, als Friedensforscher sage ich: Es ist nicht so, dass die Weltbevölkerung ausstirbt. Das ist im Moment einfach überhaupt nicht die Situation. Wir sind eigentlich als Spezies erfolgreich, wenn du sagst – Erfolg definieren wir: Ob sich eine Spezies vermehrt oder ob die Population zusammenbricht. So macht man das ja in der Biologie. Man sagt: Die Spezies ist erfolgreich, sie vermehrt sich, oder sie bricht zusammen. Dann sage ich: Was ist unser Problem? Wir sind ja erfolgreich. Unser Problem ist, dass wir immer noch zu viel Gewalt einsetzen und dass wir in diesem Gewaltspektrum jetzt Techniken haben wie Atomkrieg oder Drohnen, die unbemannt sind und irgendwann von KI sozusagen gesteuert werden könnten, dass wir einfach noch ein Problem mit der Gewalt haben.
Wir vergessen oft, dass die übergroße Mehrheit der Staaten auf der Welt überhaupt keinen Krieg mit irgendjemandem führen. Etwa 193 Staaten. Aber sie führen keinen Krieg. Sie haben irgendwelche Grenzstreitigkeiten, aber sie führen keinen Krieg. Oder es gibt kurze Kriege – wie jetzt zwischen Kambodscha und Thailand, da gab es wenig Tote. Sie haben da irgendwelche Grenzstreitigkeiten, konnten es aber schnell beilegen. Ich hoffe, es bleibt dabei. Die meisten Staaten der Welt führen überhaupt keinen Krieg mit irgendjemandem und einigen sich irgendwie, manchmal zähneknirschend, und denken: Das gehört eigentlich uns oder so. Aber Gott, es lohnt sich einfach nicht, Krieg zu führen.
Deswegen ist die Frage: Warum der Westen, wo wir so gerne das Selbstbild haben, dass wir die Guten sind, warum wir nicht einfach den Frieden als einen höheren Wert für uns begreifen können? Ich frage mich manchmal, was passieren würde, wenn die USA und Europa wirklich bei jedem Konflikt weltweit einfach statt Soldaten Diplomaten hinschicken würden und wirklich mit ernsthaftem Bemühen versuchen würden, Konflikte beizulegen. Ich möchte gar nicht behaupten, dass sie jeden Konflikt dann beilegen könnten. Aber ich könnte mir gut vorstellen, dass wir relativ schnell Weltfrieden haben könnten. Also, sagen wir, einen weitgehenden Weltfrieden, vielleicht nicht perfekt.
Ja, ich sehe es wie du. Der Weltfrieden ist möglich. Das ist ja auch wichtig, dass man das als Mensch im eigenen Herzen so spürt: Der Weltfrieden ist möglich. Natürlich möchte uns die Rüstungsindustrie immer einreden: Nein, nein, der Weltfrieden ist gar nicht möglich. Aber das ist ihre Geschichte. Es ist nicht meine Geschichte.
Ich kann konkret sagen: Wir hatten auch 2021 ein Treffen in der Schweiz, ein diplomatisches Treffen zwischen dem damaligen Präsidenten Joe Biden und dem Präsidenten von Russland, Wladimir Putin. Das war ein Treffen in Genf. Das hat leider nicht funktioniert. Aber Putin hat damals gesagt: Können wir nicht abmachen, dass die Ukraine neutral bleibt und nicht in die NATO kommt? Biden hat gesagt: Nein.
Wenn man hier den Diplomaten mehr Raum gibt, dann hätte wirklich der Ukraine-Krieg verhindert werden können, und dann hätten wir diese eine Million Toten nicht. Das ist eine Tragödie für alle sozusagen, die ihre Kinder verlieren, die ihren Bruder, ihren Vater verlieren. Das tut mir wirklich weh für jeden Ukrainer und jeden Russen.
Da sehe ich es wie du: Wir könnten es besser machen. Das ist doch nicht die beste Art. Ich finde immer, man muss unterscheiden zwischen Konflikten. Konflikte sind normal. Konflikt hat jeder mit dem Arbeitgeber, mit der Freundin, mit der Frau, mit den Kindern, mit dem Mann, mit dem Lehrer, im Straßenverkehr, wenn einer sozusagen die Regeln missachtet und noch knapp reinfährt. Konflikte, das gehört zum Leben. Das können wir einfach einbuchen. Da soll sich niemand wundern, dass er Konflikte hat: Welcome to the club. Das haben wir alle. Ich habe auch Konflikte, und du hast sicher auch Konflikte. Jeder, der uns zuschaut, hat Konflikte. Die einen haben mehr Konflikte, die anderen haben weniger Konflikte, aber ich kenne niemanden, der zwischen Geburt und Tod keine Konflikte hat.
Aber das, was eben entscheidend ist meiner Meinung nach, ist, dass wir die Konflikte nicht mit Gewalt lösen. Wenn der Mann und die Frau einen Konflikt haben und dann gießt die Frau dem Mann Gift ins Essen – der merkt es nicht, löffelt die Suppe rein und kippt vom Stuhl – das ist eben keine gute Art, einen Konflikt zu lösen. Oder wenn der Mann die Frau irgendwie erschießt – so soll man Konflikte nicht lösen. Das ist eben auch in der internationalen Politik so. Man soll Konflikte nicht mit Gewalt lösen.
Da werde ich immer angegriffen und es heißt: Herr Ganser, das ist doch nicht möglich. Seit 2.000 Jahren bringen sich die Menschen um. Dann sage ich: Schau her. Afghanistan-Krieg – hätten wir doch zuerst einmal über 9/11 diskutiert, und zwar monatelang, bitte. Hätte ich da eine Diskussion gerne gehabt. Aber das ging so schnell: 11. September und war schon die Invasion. Da gab es ja keine Diskussion. Die Leute wurden überrumpelt. Oder auch Irak-Krieg: Da hätten wir so lange über diese ABC-Waffen diskutieren sollen und dann am Schluss eben nicht die Invasion machen. Auch die Bombardierung von Libyen – das wäre nicht notwendig gewesen. Oder Gaza: Natürlich hat Israel das Recht, nach dem 7. Oktober 2023 zurückzuschlagen und sich zu verteidigen. Aber dann muss man auch wieder aufhören. Das heißt nicht, weil man sozusagen das Recht hat, einmal sich zu verteidigen und zurückzuschlagen, kann man dann unentwegt auf den anderen draufhauen, bis alle tot sind. Das ist kein Recht in dieser Art.
Das heißt, ich schaue auf diese Konflikte, und ich möchte wirklich alle Zuhörerinnen und Zuhörer daran erinnern: Es ist die Minderheit, die in der direkten Gewalt ist. Das ist wirklich die Minderheit. Wir sind die Mehrheit, und wir sollten uns auch nicht immer sozusagen kleinmachen lassen, wenn die anderen sagen: Ihr habt halt keine Ahnung, ist doch normal, dass man jemandem in den Kopf schießt, wie seid ihr verwirrt? Dann sagen wir: Nein, das ist nicht normal. Hört bitte auf.
Es hat was sehr Ironisches: Im Westen heute, wenn jemand erzählt von allen möglichen Konflikten, die er im Privaten hat mit der Partnerin usw. und dann behauptet, dass alle anderen an diesen Konflikten schuld sind und man selber ist immer der Gute, dann vermuten wir sehr stark, dass wir es mit einem Narzissten zu tun haben usw. Er macht sich sehr unsympathisch. Im Grunde genommen ist die westliche Außenpolitik sehr narzisstisch in dem Sinne: Wir haben ständig Konflikte mit allen möglichen Ländern, und immer sind alle anderen schuld, und zwar nicht mal nur mehr Schuld als wir, sondern sie haben quasi die Alleinschuld. Putin soll die Alleinschuld tragen am Ukraine-Krieg. Ich finde es völlig plausibel, zu sagen, und man kann darüber diskutieren, ob er mehr Schuld trägt am Ukraine-Krieg als der Westen. Ich denke, das nimmt sich nicht viel. Aber man kann sich darüber streiten. Aber zu sagen, dass er die Alleinschuld trägt, ist absurd.
Noch absurder ist es natürlich mit Israel und Hamas, zu sagen, oder Israel und Iran –, es ist noch absurder, dass Iran und Hamas die Alleinschuld tragen an dem Völkermord am palästinensischen Volk und dem Angriffskrieg gegen den Iran. Da wird es wirklich völlig absurd, und im Grunde genommen ist es eine Form von Narzissmus, von Größenwahn: Wir erlösen die Welt, und wenn es irgendjemandem nicht gefällt, dann sind sie selber schuld. Es hat was ganz Bösartiges fast schon in der westlichen Welt.
Du hast einen ganz wichtigen Punkt aufgebracht, weil ich glaube, der Narzisst hat dann gar keine Empathie. Er sagt einfach: Ich habe die Sache schon überblickt, wir müssen jetzt einfach die Leute in Afghanistan umbringen oder in Vietnam. Wenn wir die mit Agent Orange bombardieren – die haben es nicht anders verdient – oder Napalm oder eine Atombombe auf die Japaner – das tut denen nur gut. Das sind ja ganz offensichtliche Gräueltaten, auch was man mit dem Irak gemacht hat. Diese Folter in Abu Ghraib, ich habe mir das ein bisschen genauer angeschaut. Da haben die Leute völlig die Orientierung verloren und sind wirklich in ihre tiefste Ebene heruntergefallen.
Ich habe immer das Gefühl, dass diese Analyse – das heißt, dass die westliche Außenpolitik narzisstisch ist – das haben mir schon viele gesagt. Es ist nicht mein Vokabular, muss ich zugeben, aber jetzt, wo du es aufbringst – ich habe das schon so oft gehört. Da habe ich immer gesagt: Es hat etwas von dem, weil im Privaten ist es genau, wie du sagst: Ein Narzisst sieht doch immer die Fehler bei den anderen, und die Eigenreflexion fehlt beim Narzisst, wenn ich das richtig verstehe.
Im Westen fehlt die Eigenreflexion – jetzt die Ukraine über die NATO-Osterweiterung, Gaza über die Waffenlieferungen, Afghanistan über 9/11. Was haben denn die Afghanen mit 9/11 zu tun? Wo ist da der Beweis? Da brauchen wir gar nicht darüber reden. Die Selbstreflexion, die fehlt.
Da könnte man sicher ein Argument machen und sagen: Die westliche Außenpolitik ist narzisstisch in dem Sinne, dass sie keine Empathie für die Opfer ihrer eigenen Taten hat und dass sie eigentlich auch nicht fähig ist – im Christentum sagt man: den Balken im eigenen Auge zu sehen. Man sieht dann den Splitter beim Gegner, aber man ist nicht fähig, zu sehen: Die NATO-Osterweiterung war vielleicht auch eine Provokation von Russland. Dann noch Janukowitsch zu stürzen 2014 – das war der gewählte Präsident der Ukraine. Ihn zu stürzen, ist auch keine Kleinigkeit. Dann die Ukraine aufzurüsten, und dann der Bürgerkrieg mit 14.000 Toten. Alles: Nein, gab es nicht. Will ich nicht hören. Putin-Versteher usw.
Ich habe das in Vorträgen in Deutschland, in Kiel oder in Dortmund gesagt. Draußen hatte es zehn Polizeiautos und eine Pro-Ukraine-Demonstration mit ukrainischen Flaggen. Dann hieß es: Herr Ganser, Putin-Versteher usw. Ich habe mich nicht einschüchtern lassen. Ich sage immer, was ich als meine Forschungsresultate habe.
Da habe ich eben gesagt: Moment mal. Wir müssen einen Geschichtenabgleich machen. Wie sehen es die Russen? Wie sieht es die NATO? Die NATO kritisiert zu Recht, dass das eine illegale Invasion ist. Das ist meiner Meinung nach eine illegale Invasion. Aber die Russen kritisieren zu Recht, dass die NATO versucht hat, die Ukraine in die NATO zu ziehen, und dass die USA einen Putsch gemacht haben. Das war eben auch nicht demokratisch. Das waren ja eben radikale Ukrainer, die dann eben auch in Odessa noch gemordet haben etc.
Ein Geschichtenabgleich wäre eben der Weg des Friedens. Genau den braucht es ja zwischen Israel und Palästina auch: Wie siehst du das? Zum Geschichtenabgleich ist ja der Narzisst nicht fähig.
Was auch passen würde zu der Diagnose sozusagen, ist, dass der Narzisst diese große Vision hat und dann das Leiden, das er anderen zufügt, damit rechtfertigt, dass sie einfach nicht verstehen wollen, wie großartig er ist. Der Westen hat diese Vision von: Wir bringen Demokratie und Menschenrechte in die Welt. Wenn wir das mit Völkermord tun und die Palästinenser sauer auf uns sind, dann liegt das nur daran, dass sie verblendet sind, dass sie das nicht erkennen wollen, was für eine großartige Demokratie Israel ist usw. Sie verlangen ja sogar von Palästinensern, dass sie unsere Sichtweise, unsere pro-israelische Sichtweise teilen, was wirklich ein so tiefgründiger Zynismus ist.
So wirklich abscheulich, muss ich sagen, dass man hören möchte von Palästinensern, dass sie sagen: Ja, der Zionismus ist eine tolle Sache usw. Man versteht überhaupt nicht, dass man das definitiv von einem Palästinenser nicht verlangen kann. Auch sonst kann man von anderen Menschen nicht immer verlangen, dass sie unsere Ansichten teilen.
Nein. Ich denke, da wird auch der Westen … Wenn wir ein bisschen nach vorne spekulieren, dann könnte es ja sein, dass die Russen in der Ukraine gewinnen, und es könnte auch sein, dass wirklich Israel sehr scharf kritisiert wird für diesen Genozid. Das wissen wir noch nicht. Es kommt jetzt darauf an, was die internationalen Gerichte dann urteilen. Aber wenn das irgendwann so ist, dann ist das für den Westen eine doppelte Niederlage, weil die Niederlage in der Ukraine gegen Russland bedeutet oder würde dann bedeuten, dass die NATO mehr oder weniger alles reingeworfen hat – außer Truppen, aber Waffen und Geld haben wir alles reingeworfen, was wir hatten – und es hat dann nicht gereicht.
Das ist ein bisschen anders als … Okay, wir haben in Afghanistan verloren. Das war ja eigentlich schon peinlich, weil alle NATO-Offiziere haben immer gesagt: Diese Sandalentaliban auf ihren Motorrädern und so, die pusten wir weg. Nein, sie haben verloren. Die NATO hat in Afghanistan 20 Jahre Krieg geführt und verloren. Die Sowjetunion hat in Afghanistan 10 Jahre Krieg geführt, hat auch verloren.
Und die Briten haben zwei Mal Afghanistan zu erobern versucht im 19. Jahrhundert.
Friedhof der Großmächte! Und jetzt in der Ukraine. Ich sage eigentlich selten etwas über die Zukunft, aber einfach, dass man sich mal das durchdenkt: Wenn die NATO in der Ukraine verliert … Was ist verlieren? Verlieren bedeutet, dass die Ukraine sozusagen die russischen Bedingungen übernehmen muss. Das heißt: Nicht in die NATO kommt, sondern neutral wird. Dass die Krim russisch ist. Dass der Donbass – der besteht aus Donezk und Luhansk und Saporischschja und Kherson –, dass diese ganzen Oblaste, welche Russland erobert hat, dass die nicht zurückgehen an die Ukraine. Ich denke, so wird es kommen. Ich weiß es auch nicht. Aber warten wir mal ab. Wenn es so kommt, dann hat die NATO verloren.
Das ist in der Selbstwahrnehmung des Narzissten, des NATO-Narzissten oder des CIA-Narzissten, natürlich eine schwere Kränkung. Die zweite Kränkung wäre dann, wenn es dazu kommen sollte, dass Israel verurteilt wird und internationale Gerichte zum Schluss kommen, dass es ein Genozid ist, weil dann wird man sagen: Wir hatten das unterstützt. Dann wird man sehen: Die USA haben immer an Netanyahu Waffen geliefert, und die deutsche Regierung hat auch immer gesagt: Wir stehen solidarisch mit Israel, egal was die machen. Dann ist natürlich diese Situation, dass man dort moralisch verloren hat und am anderen Ort hat man militärisch verloren. Das wird, wenn das so kommt – man muss jetzt die nächsten Jahre abwarten –, dann muss wirklich der Westen über die Bücher gehen und sich fragen: In was haben wir uns da hineingeritten? Eine mögliche Analyse wäre: Wir haben uns von Narzissten führen lassen, und die haben ein Riesenchaos gemacht, und wir werden die jetzt nicht mehr wählen, und wir wollen die auch nicht mehr an der Macht haben.
Das ist ja immer das Prinzip von Demokratie, dass letztendlich das Volk schon auch mitbestimmen kann: Glauben wir das alles, was diese Politiker sagen? Lassen wir das alles mit uns machen oder sagen wir irgendwann: Ihr seid abgewählt, bitte abtreten? Das ist ja das Prinzip der Demokratie, dass wir immer wieder die Möglichkeit haben zu wählen. Einige Menschen kommen auf mich zu und sagen: Wen soll ich denn wählen? Das sind ja alles Idioten. Es ist nicht ganz einfach. Ich kann da auch keine Wahlempfehlung geben – gebe ich eh nie. Aber ich sage: Die Möglichkeiten sind jetzt da. Wir können – solange wir uns noch als Demokratien verstehen –, können wir über die Jahre, nicht jedes Jahr, aber über die Jahre können wir friedlich Änderungen bewirken. Wenn wir der Meinung sind, dass diese Parteien nicht gut geliefert haben, dann ist es ein normaler demokratischer Prozess, dass man sagt: Die Mannschaft soll bitte abtreten.
Da bin ich sehr gespannt, was dann in der Ukraine und was in Gaza passiert über die nächsten Jahre, sagen wir mal, zwischen 2025 und 2030, und wie man dann 2030 darauf zurückschauen wird. Das interessiert mich sehr.
Was mir immer wieder auch aufgefallen ist, dass wir fast nie über gewaltlosen Widerstand sprechen. Nicht nur die Diplomatie fällt völlig unter die Räder, sondern auch gewaltloser Widerstand. Ich glaube, die Ukraine wird früher oder später gezwungen sein, ungefähr 20 Prozent ihres Territoriums an Russland abzutreten. Ich glaube, das ist tatsächlich ein großes Unrecht.
Russische Freunde sagen mir, dass die meisten Russen und auch Putin glauben, dass die meisten Menschen im Osten der Ukraine das so wollen. Ich glaube, da irren sie sich. Wenn sie sich irren, warum sagen nicht die Selenskyj-Regierung und die Menschen im Westen einfach: So, wir machen jetzt erst mal Frieden, beenden den Krieg, und der weitere Widerstand gegen die russische Besatzung wird gewaltlos sein?
Weil ich glaube – also man kann mich da naiv schimpfen –, ich glaube, das wäre von Erfolg gekrönt, wenn wirklich die meisten Menschen – ich bin da nicht ganz sicher –, aber wenn wirklich die meisten Menschen im Osten der Ukraine zur Ukraine gehören wollen und nicht von Russland besetzt sein wollen, warum wehren sie sich dann nicht in einem Massenaufstand, der friedlich ist, mit ukrainischen Fahnen? Ich glaube, ich würde Putin so einschätzen, dass er dann auch bereit wäre, zu verhandeln und das vielleicht rückgängig zu machen.
Wichtiger Punkt. Ich habe auch mit Patrik Baab gesprochen, ein deutscher Journalist, der ja ein Buch geschrieben hat: „Auf beiden Seiten der Front“. Er hat sowohl auf der russischen Seite als auch auf der ukrainischen Seite diese Gebiete bereist. Er sagt, dass diese Gebiete, weil sie eben im Bürgerkrieg bombardiert wurden, nicht mehr unter der Regierung von Kiew sein wollen. Ich weiß es persönlich nicht, aber es ist manchmal auch ein bisschen eng gedacht, wenn man sagt: Die müssen entweder zur Ukraine gehören, oder die müssen zu Russland gehören. Es gibt tatsächlich einen dritten Weg.
Es gibt ja Südtirol. Ich weiß nicht, ob du schon mal dort warst. Südtirol, das ist wirklich eine schöne Ecke. Ich habe da schon Vorträge gehalten. In Südtirol – das gehört heute zu Italien, aber alle sprechen Deutsch. Man spricht dann auch Italienisch dazu noch. Aber Südtirol – wenn ich da in den Laden reingehe, kann ich immer Deutsch sprechen. Ich kann schon auch Italienisch. Aber Südtirol ist ein Teil von Italien, wo man Deutsch spricht, und die haben einen sehr großen Autonomiegrad. Autonomie bedeutet ja eigentlich, dass du zwar zu einem Land gehörst – eben gehörst dann zu Russland oder gehörst zur Ukraine –, aber du hast einen großen Selbstbestimmungsgrad.
Das ist immer auch eine Möglichkeit, Frieden zu schaffen. Da bin ich ganz bei dir. Diese Palette an Möglichkeiten, wie man friedlich Konflikte lösen kann, die wird eigentlich in der Politik und in der internationalen Politik viel zu wenig genutzt. Sie wird – und das finde ich die gute Nachricht – mehr genutzt in den privaten Beziehungen. Also, Mord und Gewalt gibt es immer noch, aber es gibt weniger, hoffe ich doch, Mord und Gewalt, wenn ein Konflikt ist bei Ehepaaren, sondern dann gibt es die Möglichkeit, dass man Paartherapie macht oder dass man sich trennt und neue Partner hat oder dass man Patchwork-Familie macht.
Da gibt es ja viele Möglichkeiten. Aber da hat sich so ein bisschen durchgesetzt, dass das alles okay ist – einfach nicht Gewalt. Das ist so. Alle sagen: Therapeuten und Sozialpädagogen und staatliche Stellen und Richter und Professoren, die das Ganze untersuchen. Da hat sich jetzt niemand geäußert und gesagt: Eigentlich müsste man hier mal jemanden ermorden, das wäre eine gute Idee. Nein. Da haben alle gesagt: Sucht eure Lösung, und beide Partner sind gleichberechtigt, und der Dialog ist wichtig, und die Kommunikation ist wichtig – also genau das, was ihr für die internationale Politik fordert.
In den Schulen gibt es auch immer Konflikte zwischen den Lehrern untereinander, dann gibt es Konflikte zwischen den Lehrern und den Schülern, weil die Schüler sich dann ungerecht behandelt fühlen, oder dann rufen noch die Eltern an und sagen: Der Lehrer hat dem Schüler die falsche Note gegeben. Ich habe von einigen Lehrern gehört, dass eigentlich die größten Konflikte nicht mit den Schülern, sondern mit den Eltern der Schüler sind. Aber auch dort ist man sich sozusagen einig: Keine Gewalt, einfach keine Gewalt. Man kann sprechen, und im besten Fall spricht man höflich ohne Abwertung und sachlich.
Diese Prinzipien gilt es jetzt zu übertragen auf die Ukraine und auch auf Gaza. Weil in Gaza könnten wir eine Zwei-Staaten-Lösung machen. Dann hätte einfach Israel einen israelischen Staat, und Palästina würde aus dem Gazastreifen und dem Westjordanland bestehen mit einem Teil von Jerusalem. Das ist möglich. Das ist nicht unmöglich. Die Mehrheit der UN-Mitgliedsstaaten stimmt immer wieder dafür, aber die USA legen dann immer wieder ihr Veto ein. Dann sage ich einfach: Wenn die Probleme ja menschengemacht sind, dann sind die Lösungen auch menschengemacht. Da habe ich großes Vertrauen. Ich weiß, einige sind immer ein bisschen niedergeschlagen und sagen: Nein, ich sehe schwarz für die Erde.
Ich glaube, wir gehen durch revolutionäre Zeiten. Das ist schmerzhaft. Viele leiden, viele sterben. Aber es sind auch viele Menschen, die wach werden und sagen: Könnten wir nicht bessere Entwürfe machen? Da bekomme ich ja fast täglich E-Mails von Menschen, die sagen: Ich habe diesen Entwurf, man könnte das machen, und ich habe diese Idee. Ich schreibe immer zurück: Ich kann das alles nicht umsetzen. Aber es gibt schon viele Menschen, die andere Ideen haben für das einundzwanzigste Jahrhundert als einfach Rüstungsausgaben rauffahren und aufeinander schießen. Weil das ist offensichtlich die dümmste Idee.
Der Großteil der Menschen ist ja sehr unzufrieden mit der Politik und schimpft über die Korruption der Eliten – zu Recht – und auch oft über diese Kriege – leider ging es einfach so oft nach rechts, also nach noch schlimmer, zur AfD und zu Trump usw. Was denkst du darüber? Warum ging es nicht weiter nach links zu einer humaneren Kritik an diesen Eliten? Warum geht das so häufig nach rechts?
Ich habe das Gefühl, links und rechts funktionieren nicht mehr so gut als Begriffe. Ich habe früher gedacht: Die Linken sind für den Frieden und die Rechten sind für den Krieg. Dann habe ich gesehen, dass Gerhard Schröder und Joschka Fischer – der Gerhard Schröder war ja SPD und Joschka Fischer war Grüne – dass die dann Serbien bombardiert haben. Das war 1999. Das war so mein erster Moment, wo ich mir gesagt habe: Was ist denn das für eine Einteilung links und rechts?
Jetzt sehe ich bei der AfD eigentlich eher Tendenzen, dass sie sagen: Wir sollten keinen Krieg mit Russland führen. Dass eigentlich die Grünen jetzt, so wie Olivgrün, dann eher sagen: Aber doch, man muss unbedingt jetzt aber auch Taurus-Marschflugkörper an Selenskyj liefern, und notwendigerweise muss er die dann auf Russland abschießen. Weil ich denke: Ihr wart einmal eine Friedenspartei, die gesagt hat: Raus aus der NATO. Es gibt Plakate von den Grünen Anfang der 80er-Jahre, wo sie diese Forderung „Raus aus der NATO“ noch hatten mit dem Wollpullover, mehr oder weniger direkt von Woodstock her waren sie in dieser pazifistischen Tradition. Da hat sich ja die Partei völlig gewandelt.
Ich finde, auch die CDU … Ich könnte mir nicht vorstellen, dass ein Helmut Kohl gesagt hätte: Wir müssen die Feindschaft mit Russland pflegen. Weil, es waren ja Kohl und Gorbatschow – die Männer haben auf einer freundschaftlichen Ebene eigentlich die deutsche Wiedervereinigung möglich gemacht. Das muss man herausarbeiten, was das für ein großes Verdienst von Kohl war und für ein großes Verdienst von Gorbatschow. Da ist ja kein Schuss gefallen. Die DDR und die BRD wurden wiedervereinigt. Die Jungen wissen das gar nicht mehr, aber wir wissen das, und wir wissen: Das ist ein großes Geschenk. Das war weder links noch rechts. Dann sehe ich auch bei der SPD: Gab es früher wirklich, vor allem mit Helmut Schmidt und mit Willy Brandt, gab es für mich Bundeskanzler, die ich als Friedensbundeskanzler bezeichnen würde, weil sie eigentlich immer gedacht haben: Eine europäische Friedensordnung geht nicht gegen Russland, sondern sie geht nur mit Russland. Da müssen halt die Interessen der Franzosen, der Engländer, der Deutschen und der Russen – das sind eigentlich die vier großen – die müssen eigentlich zusammengefasst werden.
Das ist eigentlich jetzt bei dieser Ampel-Koalition, die ja Olaf Scholz von der SPD angeführt hat und dann mit Annalena Baerbock von den Grünen und auch die FDP – da war nichts von dem. Das wäre ja eigentlich – hätte man gesagt: Das ist eine linke Regierung. Aber die linke Regierung hat direkt ins Verderben geführt, hat Nord Stream nicht aufgeklärt, hat Leopard-Panzer an die Ukraine geliefert. Dann denke ich: Okay, aber dann kann man mit links-rechts hier überhaupt nicht mehr argumentieren.
Dann kommt die CDU an die Macht, wieder mit der SPD als Große Koalition, und man denkt: Nach der Ampel – schlimmer geht es nimmer. Aber meiner Meinung nach ist Merz noch schlimmer als Olaf Scholz, weil Merz jetzt also eigentlich einen Konfrontationskurs fährt mit Russland. Ich hoffe, dass er sich irgendwann beruhigt und einsieht, dass das keinen Sinn macht. Aber der ist weit weg von einem Helmut Kohl.
Dass er sagt, dass Israel – wenn es den Iran angreift – unsere Drecksarbeit macht … Das hat mich schon schockiert, muss ich sagen.
Da bin ich jenseits von links und rechts. Auch bei Trump finde ich es schwierig. Natürlich ist er in der Republikanischen Partei, aber ist er links, ist er rechts? Ich habe danach bei den amerikanischen Präsidenten … Zuerst habe ich mal Noam Chomsky … Ich habe Noam Chomsky getroffen am MIT in Boston. Das war ja 20 Jahre her. Dann hat er mir erklärt: Daniele, es gibt hier keine linke und keine rechte Partei in den USA. Sowohl die Demokraten wie die Republikaner sind eigentlich zwei Flügel des militärisch-industriellen Komplexes, und beide erhöhen stets die Rüstungsausgaben. Du kommst mit einer Links-Rechts-Analyse auch in der amerikanischen Politik gar nicht weiter.
Wenn man schaut, was hat denn Joe Biden gemacht? Er hat ja als Demokrat – würde man sagen links – und Trump als Republikaner rechts. Dann sage ich: Aber Joe Biden hatte eigentlich diesen Ukraine-Krieg angeheizt von hinten, nicht öffentlich, sondern von hinten. Immer wieder. Es gab ja Friedensverhandlungen in Istanbul.
Da haben aber die Briten und die Amerikaner das sabotiert. Jetzt Keir Starmer, der Premierminister von England, ist Labour. Aber wenn das Labour ist – also Labour wäre links, wäre sozialdemokratisch? Keir Starmer ist ein Kriegstreiber. Da muss ich wirklich sagen: Ich habe mich jetzt daran gewöhnt, dass ich diese Labels links/rechts weglasse und dass eigentlich ich die einzelnen Akteure beurteile, ob sie für den Frieden arbeiten. Ich finde, es sind wirklich einzelne Personen, die sich einsetzen für den Frieden. Ich finde Oskar Lafontaine einen sehr interessanten Mann, habe ich mal getroffen. Klar, ist jetzt nicht mehr in der aktiven Politik. Es gibt schon diese Menschen da draußen, die immer wieder sagen: Wir sollten uns nicht töten. Dann schaue ich gar nicht, in welcher Partei die sind, sondern dann schaue ich eigentlich immer: Okay, und bei den letzten Abstimmungen für Rüstungsausgaben – hast du für ein Erhöhen der Rüstungsausgaben gestimmt oder nicht? Da schaue ich dann genau hin. Zum Beispiel die Linke in Deutschland hat im Bundesrat, also in der kleinen Kammer, dann dafür gestimmt, dass die Schuldenbremse gelockert werden kann.
Da habe ich gedacht: Wie können die öffentlich sagen: Wir sind gegen Krieg und gegen Rüstungsausgaben, aber dann, wenn es drauf ankommt, wenn man wirklich Merz hätte sagen können: Nein, es gibt die Schuldenbremse, und es gibt jetzt hier nicht eine Hintertür, mehr Geld in die Rüstungsindustrie zu pumpen – weil man ja weiß, Merz kommt von BlackRock – da hätte die Linke dagegenhalten müssen. Haben sie nicht gemacht. Das kann man nachschauen.
Also insgesamt komme ich mit diesen Begriffen links/rechts nicht mehr richtig weiter, sondern ich versuche wirklich zu unterteilen in: Wer sagt, wir sollten Konflikte ohne Gewalt lösen? Da finde ich zum Glück viele Menschen, und ich finde auch die Arbeit der NachDenkSeiten sehr, sehr gut. Ich möchte da an dieser Stelle mal ein Lob aussprechen.
Danke schön.
Ich lese immer gerne eure Texte und auch Albrecht Müller. Auch Multipolar von Paul Schreyer. Da sind ja einige da draußen, die sich als Gegenstimme gegen diese Kriegstüchtigkeit hinstellen und sagen: Wir müssen friedenstüchtig sein, nicht kriegstüchtig. Da bin ich also ganz bei euch.
Schön. Daniele, es war eine große Freude, hat Spaß gemacht. Ich fand es auch schön und überraschend ein bisschen, dass du so optimistische Töne angeschlagen hast gegen Ende hin. Hoffen wir, dass die Menschheitsfamilie, wie du es so schön sagst, mehr zusammenfindet.
Das hoffe ich auch, und ich bin optimistisch, weil wir die Mehrheit sind. Ich gehe so über quantifizierbare Daten. Ich habe gesagt: Die Menschheitsfamilie bricht nicht zusammen. Wir wachsen, und die Mehrheit will sich nicht töten. Wenn ich diese zwei Faktoren anschaue und noch kombiniere, dass wir eine Informationsrevolution haben, wo die Regierungen ihre Geschichten schon erzählen können, aber du und ich unterhalten uns hier, und da wird nicht geschnitten. Das gab es nicht in den 80er-Jahren – das muss ich immer für die Jungen erzählen. Gab es nicht. 90er-Jahre gab es nicht. Das war alles Staatsfernsehen, war kontrolliert. Darum bin ich optimistisch.
Es hat mich auch sehr gefreut, Michael, dass wir zusammen sprechen konnten.
Vielen herzlichen Dank. Ich hoffe, wir machen das mal wieder und alles Gute.
Gerne. Dir auch. Tschüss.
Tschüss.
Titelbild: NachDenkSeiten
Hauptadresse: http://www.nachdenkseiten.de/
Artikel-Adresse: http://www.nachdenkseiten.de/?p=139455